Zählen lange Wege im Betrieb zur Arbeitszeit? Ab wann beginnt die Arbeitszeit?

Lange Arbeitswege auf dem Betriebsgelände – etwa vom Werktor über Umkleidebereiche bis zum eigentlichen Arbeitsplatz – werfen häufig die Frage auf, ob diese Wege zur Arbeitszeit zählen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen dabei vor der Herausforderung, den Beginn der Arbeitszeit rechtssicher festzulegen. Im Folgenden wird aus arbeitsrechtlicher Sicht erläutert, wann die Arbeitszeit beginnt, was unter Arbeitszeit im Sinne des Gesetzes verstanden wird und wie verschiedene Arten von Wegezeiten (der tägliche Arbeitsweg sowie innerbetriebliche Wege) rechtlich einzuordnen sind. Dabei werden die gesetzliche Definition, praktische Beispiele sowie einschlägige Gerichtsentscheidungen (insbesondere Urteile des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs) verständlich dargestellt. So erhalten Arbeitnehmer wie Arbeitgeber einen fundierten Überblick über die Frage, ob und unter welchen Umständen lange Wege im Betrieb zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit gehören.

Arbeitszeit: Gesetzliche Definition nach § 2 ArbZG

Zunächst ist zu klären, was „Arbeitszeit“ im juristischen Sinne bedeutet. Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) definiert diesen Begriff in § 2 Abs. 1 eindeutig: Arbeitszeit ist die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Vereinfacht gesagt umfasst Arbeitszeit also die Dauer der tatsächlichen Arbeitsleistung, ohne Unterbrechungen für Pausen. Doch was gilt als „Arbeit“ im Sinne dieser Definition? Nach ständiger Rechtsprechung ist darunter jede Tätigkeit zu verstehen, die der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient. Mit „fremdem Bedürfnis“ ist im Arbeitsverhältnis typischerweise das Interesse des Arbeitgebers gemeint. Sobald ein Arbeitnehmer also Tätigkeiten ausübt, die im Interesse des Arbeitgebers liegen (und nicht bloß eigenen Zwecken dienen), handelt es sich um Arbeitszeit.

Wichtig: Diese Definition dient vorrangig dem Arbeitnehmerschutz (z.B. Einhaltung von Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten). Sie legt fest, wann Zeiten als Arbeitszeit zählen, etwa um Überstunden oder Ruhezeiten korrekt zu berechnen. Allerdings bedeutet die Einordnung als Arbeitszeit nicht automatisch, dass diese Zeit auch vergütet werden muss – die Vergütungsfrage richtet sich nach Arbeits- oder Tarifvertrag. Dennoch gilt im Grundsatz: Was als Arbeitsleistung verlangt wird, muss vergütet werden. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat klargestellt, dass der Arbeitgeber regelmäßig alle Dienste zu vergüten hat, die er aufgrund seines Direktionsrechts vom Arbeitnehmer verlangt. Mit anderen Worten: Fordert der Arbeitgeber bestimmte Tätigkeiten oder Maßnahmen, die in direktem Zusammenhang mit der eigentlichen Arbeit stehen, gehören auch diese zum Dienst und sind grundsätzlich zu bezahlen.

Arbeitsweg vs. innerbetriebliche Wege – Wo beginnt die Arbeitszeit?

Ein entscheidender Punkt ist die Abgrenzung zwischen dem Weg zur Arbeit (Arbeitsweg) und den Wegezeiten auf dem Betriebsgelände (innerbetriebliche Wege). Hier gibt es grundsätzliche Unterschiede:

  • Weg von der Wohnung zur Arbeitsstelle (Arbeitsweg): Der tägliche Weg von Zuhause zum Arbeitsplatz und zurück wird grundsätzlich nicht als Arbeitszeit gewertet. Juristisch spricht man vom Wegerisiko, das beim Arbeitnehmer liegt – er trägt also das Risiko und die Zeitaufwendung, um überhaupt an den Arbeitsort zu gelangen. Die Arbeit beginnt nach der Rechtsprechung im Normalfall erst, wenn der Beschäftigte seine Tätigkeit am Arbeitsplatz planmäßig aufnimmt. Entsprechend zählt der normale Arbeitsweg in der Regel nicht zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit. Lediglich in Ausnahmefällen kann etwas anderes gelten. Ein solcher Ausnahmefall liegt insbesondere dann vor, wenn der Arbeitnehmer keinen festen Arbeitsort hat. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im vielbeachteten Tyco-Urteil 2015 entschieden, dass bei Arbeitnehmern ohne festen oder üblichen Arbeitsort die Fahrten vom Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause als Arbeitszeit gelten. Hintergrund: Diese Beschäftigten (z.B. Servicetechniker im Außendienst) starten ihren Arbeitstag mit dem Losfahren zum ersten Einsatzort; während dieser Fahrzeit stehen sie bereits im Dienst des Arbeitgebers und können die Zeit nicht frei für eigene Zwecke nutzen. Sie müssen Vorgaben des Arbeitgebers folgen (etwa Routen oder Kundentermine) und sind in dieser Zeit verfügbar, sodass hier von Arbeitszeit aus Arbeitsschutzsicht auszugehen ist. Wichtig: Das EuGH-Urteil betraf primär die arbeitsschutzrechtliche Einstufung als Arbeitszeit (für Höchstarbeitszeiten etc.). Es stellte ausdrücklich nicht klar, dass diese Wegezeit auch vergütet werden muss – die Bezahlung von Arbeitszeit ist nämlich nicht Gegenstand der EU-Arbeitszeitrichtlinie. In Deutschland hatte das BAG allerdings bereits 2009 ähnlich entschieden, dass solche Fahrten bei Außendienstlern Arbeitszeit im Sinne des ArbZG sind. Für die tägliche Fahrt eines Büromitarbeiters von der Wohnung ins Büro ändert das jedoch nichts: bei fester Arbeitsstelle bleibt der Arbeitsweg Privatangelegenheit und zählt nicht zur bezahlten Arbeitszeit.
  • Innerbetriebliche Wegezeiten: Anders stellt sich die Frage bei Wegen auf dem Betriebsgelände – zum Beispiel vom Werkstor bis zum eigentlichen Arbeitsplatz, von der Stechuhr zur Werkhalle oder vom Umkleideraum zum Schichtplatz. Beginnt die Arbeitszeit schon beim Betreten des Betriebsgeländes? Grundsätzlich nein. Die Arbeitszeit beginnt in der Regel erst dort, wo der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung tatsächlich aufnimmt. Lange Wege auf dem Firmengelände muss der Arbeitgeber meist nicht als Arbeitszeit vergüten. Auch wenn das Gelände groß ist und der Mitarbeiter einen beträchtlichen Fußmarsch (oder z.B. eine Werksbussfahrt) hinter sich bringen muss, bleibt das normalerweise Teil des Wegs zur Arbeit, der dem Arbeitnehmer zugerechnet wird. Ein Landesarbeitsgericht hat dies am Beispiel eines Flughafen-Mitarbeiters bestätigt: Der Arbeitnehmer musste vom Parkplatz erst durch eine Sicherheitskontrolle, dann mit einem betriebseigenen Shuttlebus quer über das Flughafengelände zum Gebäude mit der Stechuhr gelangen. Dennoch wurde entschieden, dass diese innerbetrieblichen Wegezeiten nicht vergütungspflichtig sind, denn die eigentliche Arbeit als Fahrer begann erst, nachdem er am Zeiterfassungs-Terminal eingestempelt hatte. Selbst die besonderen Umstände – Pflicht zur Sicherheitskontrolle, Tragen einer Warnweste und Nutzung des Werks-Shuttles – änderten nichts daran, dass die Arbeitszeit erst mit dem Einstempeln und Arbeitsantritt startete. Der Weg innerhalb des Betriebsgeländes war hier also nicht als Arbeitszeit anzusehen.

Allerdings gibt es auch bei innerbetrieblichen Wegen Ausnahmen, auf die wir im nächsten Abschnitt eingehen – nämlich wenn solche Wege ausschließlich im Arbeitgeberinteresse erfolgen oder vom Arbeitgeber explizit angeordnet sind. Dann kann sich der Beginn der Arbeitszeit nach vorne verlagern, und der Weg wird zur Arbeitszeit.

Fremdnützigkeit: Welche Wegezeiten müssen vergütet werden?

Ob eine Wegezeit bezahlt werden muss, hängt maßgeblich davon ab, wem sie nutzt und auf wessen Veranlassung sie erfolgt. Die Rechtsprechung benutzt hierfür den Begriff der Fremdnützigkeit. Fremdnützig ist eine Tätigkeit, wenn sie ausschließlich einem fremden Bedürfnis dient, also vor allem im Interesse des Arbeitgebers erfolgt und nicht zugleich einem eigenen Bedürfnis des Arbeitnehmers. Ist eine Handlung ausschließlich fremdnützig, zählt sie als Arbeitsleistung und damit grundsätzlich zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit.

Auf Wegezeiten bezogen bedeutet das: Reine Wege zur Arbeitsstelle, die der Arbeitnehmer zurücklegt, um zur Arbeit zu gelangen, sind überwiegend eigenwirtschaftlich motiviert – der Arbeitnehmer will seinen Arbeitsplatz erreichen, wohnt aber z.B. weit entfernt. Dieses Zurücklegen des Arbeitswegs geschieht nicht allein im Arbeitgeberinteresse, sondern entspringt der privaten Lebensführung (Wohnortwahl etc.). Daher sind normale Arbeitswege nicht fremdnützig und müssen vom Arbeitgeber nicht bezahlt werden.

Innerbetriebliche Wege können hingegen fremdnützig sein, wenn der Arbeitgeber deren Zurücklegung verlangt oder sie durch Arbeitgebervorgaben notwendig werden. Ein Beispiel: Muss ein Arbeitnehmer erst Betriebsmittel abholen oder sich an einem bestimmten Ort im Betrieb einfinden, um von dort aus seine Arbeit zu beginnen, geschieht dieser Weg schon im Auftrag des Arbeitgebers. Ebenso, wenn etwa zwischen zwei Arbeitseinsätzen ein Wechsel des Einsatzortes stattfindet – die Fahrzeit vom ersten zum zweiten Einsatzort gehört dann zur Arbeit. Solche dienstlich veranlassten Wege während der Arbeit zählen als Arbeitszeit und sind zu vergüten (häufig gibt es dafür gesonderte Reisekosten- oder Wegezeitregelungen).

Die entscheidende Abgrenzung liegt also darin, ob der Weg notwendiger Bestandteil der Arbeitsausführung ist oder ob es sich um den gewöhnlichen Anfahrtsweg handelt. Die Gerichte prüfen im Einzelfall, ob eine Wegezeit vom Arbeitgeber veranlasst und ausschließlich in dessen Interesse ist – dann besteht Vergütungspflicht. Ist die Wegezeit hingegen überwiegend dem persönlichen Bereich des Arbeitnehmers zuzuordnen, bleibt sie unbezahlt.

Im bereits genannten Fall am Flughafen argumentierte das Gericht, dass die weiten Wege trotz Sicherheitscheck und Shuttle hier nicht fremdnützig genug waren: Der Arbeitgeber hatte zwar bestimmte Abläufe vorgegeben (Kontrolle, Shuttlebenutzung), aber die Arbeit selbst begann erst nach diesen Wegen. Solange der Arbeitgeber nicht verlangt, dass bereits vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn bestimmte Tätigkeiten verrichtet werden, bleibt der innere Weg Teil des Anfahrtswegs des Mitarbeiters. Anders wäre es zum Beispiel, wenn der Arbeitgeber vorgibt, dass der Arbeitnehmer an einem anderen Ort als seinem eigentlichen Arbeitsplatz zunächst etwas erledigen muss (etwa Werkzeuge holen in einem Zentrallager auf dem Gelände, bevor er zur Maschine geht). Dann dient dieser Weg schon dem betrieblichen Zweck (Versorgung mit Arbeitsmitteln) und wäre entsprechend als Arbeitszeit einzuordnen.

Betriebliche Anordnungen: Umkleidezeiten und Sicherheitskontrollen

Besondere Beachtung verdienen betriebliche Anordnungen, die dem Arbeitnehmer zusätzliche Wege oder Tätigkeiten vor Arbeitsbeginn oder nach Arbeitsende auferlegen – zum Beispiel Pflicht zum Umkleiden im Betrieb oder das Durchlaufen einer Sicherheitskontrolle. Hier stellt sich die Frage: Zählt die dabei aufgewendete Zeit zur Arbeitszeit?

Umkleidezeiten im Betrieb

Das Umziehen in spezielle Arbeitskleidung ist ein klassisches Beispiel, das höchstrichterlich entschieden wurde. Grundsätzlich gilt: Ist das Tragen einer bestimmten Dienst- oder Schutzkleidung vorgeschrieben und kann oder soll diese nicht schon zu Hause angelegt werden, zählt die Umkleidezeit im Betrieb zur Arbeitszeit. Warum? Weil in diesem Fall das Umkleiden ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgt – es ist fremdnützig. Der Arbeitnehmer hat typischerweise kein eigenes Bedürfnis, z.B. eine auffällige Uniform oder sterile Schutzkleidung zu tragen; er tut es nur, weil der Arbeitgeber es verlangt und oft aus betrieblichen Gründen (Hygiene, Sicherheit, Unternehmenspräsenz) erforderlich macht. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits 2012 im Fall einer OP-Krankenschwester entschieden, dass die Zeit zum An- und Ablegen von vorgeschriebener Bereichskleidung (OP-Kleidung) einschließlich der Wegezeit vom Umkleideraum bis zum OP-Saal vergütungspflichtige Arbeitszeit ist. In diesem Fall war vom Arbeitgeber genau geregelt, wo und wie die Mitarbeiter sich umzukleiden hatten – das Tragen der Klinik-Kleidung außerhalb der Klinik war untersagt, die Kleidung diente rein hygienischen Zwecken des Betriebs. Die Arbeit begann daher mit dem Umkleiden, und folglich zählten auch die innerbetrieblichen Wege, die durch das Umkleiden veranlasst waren, zur Arbeitszeit.

Das Urteil von 2012 (BAG, Urt. v. 19.09.2012 – 5 AZR 678/11) hält fest: “Umkleidezeiten und durch das Umkleiden veranlasste innerbetriebliche Wegezeiten sind […] vergütungspflichtige Arbeitszeit, wenn der Arbeitgeber das Tragen einer bestimmten Kleidung vorschreibt und das Umkleiden im Betrieb erfolgen muss.”. Wichtig ist hier die Kombination der Voraussetzungen: Kleidungsvorschrift + Umkleiden muss im Betrieb stattfinden. Sind diese erfüllt, besteht ein Vergütungsanspruch für die Umziehzeit inklusive Weg zur Arbeitsstelle im Betrieb.

Anders liegt der Fall, wenn keine ausdrückliche Anordnung besteht oder die Kleidung nicht besonders auffällig ist. Trägt ein Mitarbeiter zum Beispiel normale, unauffällige Arbeitskleidung, die er genauso gut schon auf dem Weg anziehen könnte, dann ist es sein eigener Entschluss, ob er sich zu Hause oder erst im Betrieb umzieht. Entscheidet er sich ohne Notwendigkeit dafür, erst im Betrieb in normale Berufskleidung zu schlüpfen, fehlt die ausschließliche Fremdnützigkeit – diese Umkleidezeit wäre dann nicht vergütungspflichtig. Ebenso hat das BAG klargestellt, dass selbst bei auffälliger Dienstkleidung (z.B. Uniform mit Logo, Warnschutzkleidung, Polizeiuniform) keine Vergütungspflicht für das Umziehen besteht, wenn der Arbeitnehmer freiwillig diese Kleidung schon zu Hause anlegt. In dem Moment nutzt ihm das Umkleiden nämlich auch selbst – etwa weil er die Fahrtzeit nicht in Zivil verbringen muss – und es ist nicht mehr ausschließlich betrieblich veranlasst. Niemand kann jedoch verpflichtet werden, auffällige vorgeschriebene Kleidung bereits auf dem Arbeitsweg zu tragen. Haben Arbeitnehmer kein objektives eigenes Interesse daran, ihre Uniform öffentlich zu tragen (man denke an Uniformen mit Signalfarben oder großen Logos, oder an medizinische weiße Kleidung, die Rückschlüsse auf den Beruf zulässt), dann müssen sie diese auch nicht außerhalb der Arbeitszeit anlegen. In solchen Fällen muss der Arbeitgeber das Umkleiden im Betrieb erlauben – und die dafür benötigte Zeit als Arbeit werten. Die Quintessenz: Ist Umkleiden im Betrieb vorgeschrieben oder objektiv erforderlich, dann zählt es zur Arbeitszeit und ist zu vergüten.

Sicherheitskontrollen und andere Vorgaben beim Betreten des Betriebs

Viele große Betriebe – etwa Flughäfen, Hochsicherheitsbereiche oder auch Logistikzentren – verlangen von ihren Beschäftigten, dass sie beim Einlass gewisse Prozeduren durchlaufen (Taschenkontrollen, Metalldetektoren, Ausweiskontrolle etc.). Für Arbeitnehmer stellt sich die Frage, ob diese Zeit an der Sicherheitsschleuse bereits zur Arbeitszeit gehört. Die Rechtslage hierzu ist nicht ausdrücklich geregelt. Aus der Rechtsprechung lässt sich jedoch Folgendes ableiten:

Eine Sicherheitskontrolle beim Betreten oder Verlassen des Betriebs ist vom Arbeitgeber veranlasst und dient dessen Interessen (Schutz von Eigentum, Sicherheit am Arbeitsplatz). Rein von der Fremdnützigkeit her würde man sagen: Diese Kontrolle geschieht ausschließlich zum Nutzen des Arbeitgebers – der Arbeitnehmer persönlich hat davon keinen Vorteil und unterzieht sich der Kontrolle nur, weil er muss. Analog zum Umkleidefall könnte man argumentieren, dass Pflichtkontrollen Arbeitszeit darstellen müssten. Allerdings werden Sicherheitskontrollen in der Praxis oft wie eine notwendige Unannehmlichkeit auf dem Arbeitsweg behandelt, sofern sie kurz sind und ohne größeren Aufwand durchlaufen werden können. Ein Arbeitnehmer, der z.B. jeden Morgen 5–10 Minuten früher kommen muss, um die Einlasskontrolle zu passieren, leistet in dieser Zeit noch keine eigentliche Arbeitsaufgabe. Einzelne Gerichtsentscheidungen (wie das oben genannte LAG-Beispiel vom Flughafen) tendieren dazu, auch solche Kontrollzeiten dem Wegerisiko zuzurechnen, wenn die eigentliche Arbeitsaufnahme erst danach erfolgt. Dort wurde betont, dass selbst das verpflichtende Passieren eines Kontrollpunkts vor dem Stempeln nicht automatisch Arbeitszeit ist.

Die Abgrenzung ist hier fließend. Man wird auf die konkreten Umstände abstellen müssen: Findet die Kontrolle vor der Zeiterfassung bzw. vor dem eigentlichen Arbeitsbeginn statt, und dauert sie nur kurz, dürfte sie nach bisheriger Sichtweise eher nicht vergütet werden müssen (sondern der Arbeitnehmer muss sie hinnehmen, ähnlich wie eine längere Wegstrecke). Wird jedoch durch besondere Maßnahmen des Arbeitgebers der tatsächliche Arbeitsbeginn nach vorne verlagert, kann sich eine Vergütungspflicht ergeben. Denkbar wäre z.B., dass ein Unternehmen vorschreibt, 15 Minuten vor Schichtbeginn anwesend zu sein, um umfangreiche Sicherheitschecks, Belehrungen oder Briefings durchzuführen. Erfolgt dies außerhalb der normalen Arbeitszeit, würde der Betriebsrat hier ohnehin ein Mitspracherecht haben (§ 87 Abs.1 BetrVG: Beginn und Ende der Arbeitszeit unterliegen der Mitbestimmung). In einem solchen Fall spricht viel dafür, diese Zeit als Arbeitszeit anzusehen oder durch entsprechende Betriebsvereinbarung als bezahlt zu regeln. Generell empfiehlt es sich, für regelmäßige Kontrollzeiten klare Regelungen im Betrieb zu treffen – etwa durch eine Betriebsvereinbarung, die festlegt, ob und wie solche Zeiten angerechnet werden.

Zwischenfazit: Betriebliche Anordnungen, die den Arbeitnehmer zusätzliche Wege oder Zeiten kosten, spielen eine große Rolle bei der Einordnung. Verlangt der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer, vor eigentlichem Arbeitsbeginn noch etwas Bestimmtes im Betrieb zu erledigen (Umziehen, Sicherheitscheck, Werksfahrer-Shuttle nehmen, etc.), dann liegt darin eine fremdnützige, angeordnete Tätigkeit – oft wird diese als Arbeitszeit gewertet werden müssen. Steht es dem Arbeitnehmer frei, ob er die Tätigkeit auch außerhalb der Arbeitszeit erledigt (z.B. Kleidung schon zu Hause anziehen), und macht er es dann freiwillig im Betrieb, besteht kein Vergütungsanspruch. Letztlich kommt es also darauf an, ob die Maßnahme obligatorisch und ausschließlich im Arbeitgeberinteresse ist.

Wichtige Urteile aus der Rechtsprechung im Überblick

Abschließend lohnt ein kurzer Blick auf einige bedeutende Gerichtsurteile, die dieses Thema prägen:

  • BAG, Urteil vom 19. September 2012 – 5 AZR 678/11: In diesem Grundsatzurteil (OP-Schwester-Fall) bestätigte das Bundesarbeitsgericht, dass Umkleidezeiten und dadurch bedingte innerbetriebliche Wegezeiten Arbeitszeit sind, wenn der Arbeitgeber bestimmte Arbeitskleidung vorschreibt und das Umkleiden im Betrieb erfolgen muss. Die Arbeit beginnt dann mit der ersten vom Arbeitgeber geforderten Handlung (hier dem Umkleiden), nicht erst am eigentlichen Einsatzort.
  • EuGH, Urteil vom 10. September 2015 – C-266/14 (Fall Tyco): Der Europäische Gerichtshof entschied, dass bei Arbeitnehmern ohne festen Arbeitsort die Fahrten von der Wohnung zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück nach Hause als Arbeitszeit anzusehen sind. Der Arbeitnehmer steht während dieser Fahrten bereits im Dienst des Arbeitgebers und kann in dieser Zeit nicht frei über seine Zeit verfügen. Diese Entscheidung betrifft primär den arbeitszeitrechtlichen Aspekt (Arbeitszeitrichtlinie der EU) und stellt klar, dass solche Wege arbeitsschutzrechtlich mitzuzählen sind. Eine direkte Aussage zur Vergütung dieser Wegezeit traf der EuGH nicht, jedoch werden Arbeitgeber in der Praxis oft entsprechende Regelungen finden müssen, um den tatsächlichen Aufwand angemessen abzubilden.
  • BAG, Urteil vom 10. November 2021 – 5 AZR 334/21: Dieses Urteil betraf zwar nicht unmittelbar die Wegezeit, ist aber im Kontext der Arbeitgeberpflichten interessant. Das Bundesarbeitsgericht entschied hier, dass ein Lieferdienst seine Fahrradkurieren nicht verpflichten darf, eigene Arbeitsmittel (privates Fahrrad und Smartphone) unentgeltlich für die Arbeit einzusetzen. Der Arbeitgeber muss die notwendigen Betriebsmittel stellen oder für deren Nutzung einen angemessenen Ausgleich zahlen – andernfalls liegt eine unzulässige Benachteiligung des Arbeitnehmers vor. Übertragen auf das Thema Arbeitszeit verdeutlicht dieses Urteil den allgemeinen Rechtsgedanken: Arbeitgeber dürfen arbeitstechnische Lasten nicht einseitig auf die Arbeitnehmer abwälzen, ohne dafür aufzukommen. Muss also z.B. eine erhebliche Wegezeit oder Vorbereitungszeit ausschließlich im Interesse des Betriebs aufgewendet werden, so spricht das dafür, diese Zeit auch als Teil der Arbeitsleistung anzuerkennen (oder entsprechend auszugleichen). Zwar handelt es sich hier um unterschiedliche Konstellationen (Zeit vs. Arbeitsmittel), doch in beiden Fällen geht es um Fairness und die Vermeidung einer unentgeltlichen Inanspruchnahme des Arbeitnehmers für betriebliche Zwecke.

Fazit

Wann beginnt die Arbeitszeit? Aus arbeitsrechtlicher Sicht beginnt sie dann, wenn der Arbeitnehmer die erste vom Arbeitgeber verlangte Tätigkeit aufnimmt. Im Normalfall ist das mit Arbeitsantritt am Arbeitsplatz der Fall – dann gehören vorangehende Wege auf das Betriebsgelände noch nicht zur Arbeitszeit. Lange innerbetriebliche Wege zählen nur dann zur Arbeitszeit, wenn sie nicht mehr bloß Arbeitsweg sind, sondern durch Arbeitgebervorgaben notwendiger Teil der Arbeit werden. Der tägliche Arbeitsweg von der Wohnung zur Firma ist grundsätzlich privat und nicht zu vergüten. Innerbetriebliche Wege wie der Gang vom Werktor zur Stechuhr oder zum Schreibtisch sind meist ebenfalls nicht bezahlt, solange der Arbeitgeber nicht verlangt, dass auf diesem Weg bereits eine Arbeitsleistung erbracht wird.

Sobald jedoch betriebliche Anordnungen ins Spiel kommen – seien es Pflichtumkleiden, Werkzeugholwege, Sicherheitschecks oder ähnliche Prozeduren – kann der Beginn der Arbeitszeit vorverlagert sein. Ist der Arbeitnehmer ausschließlich im Arbeitgeberinteresse unterwegs oder tätig, spricht man von fremdnütziger Tätigkeit, und diese ist dann als Arbeitszeit einzuordnen. Die Rechtsprechung (BAG und EuGH) bestätigt: Was der Arbeitgeber an verbindlichen Diensten fordert, muss er auch vergüten. Arbeitnehmer sollten also genau hinschauen, welche Vorgaben bestehen. Arbeitgebern ist zu raten, solche Zeiten transparent zu regeln – etwa durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung – um Streit zu vermeiden und rechtskonforme Zustände zu schaffen.

Im Ergebnis gilt: “Lange Wege im Betrieb” zählen nicht automatisch zur Arbeitszeit, aber sie können es unter bestimmten Voraussetzungen durchaus sein. Entscheidend ist der Kontext: Wird der Weg zur unabdingbaren Voraussetzung der Arbeitsausführung und vom Arbeitgeber eingefordert, ist er Arbeitszeit (Beispiele: zwingendes Umkleiden im Betrieb, Wege aufgrund innerbetrieblicher Organisation). Handelt es sich hingegen um den üblichen Anmarschweg zur eigentlichen Tätigkeit – so lang er auch sein mag – bleibt es Sache des Arbeitnehmers, rechtzeitig vor Ort zu sein. In Zweifelsfällen lohnt es sich, aktuelle Urteile und die konkrete betriebliche Regelung zu prüfen oder rechtlichen Rat einzuholen, damit klar ist, ab wann die Uhr für die Arbeitszeit tatsächlich tickt.