Arbeitsunfall beim Kaffeetrinken?

19. Juni 2025 -

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (Az. L 6 U 45/23)

Hintergrund und Grundsatz: Ein Unfall gilt nach § 8 Abs. 1 SGB VII als Arbeitsunfall, wenn er „infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit“ geschieht. Grundsätzlich zählt das Essen und Trinken am Arbeitsplatz nicht dazu – es dient ja privaten Grundbedürfnissen und liegt im Privatbereich. Wege zum Café oder zur Kantine dagegen sind in der Regel versichert, weil sie der Arbeitsfähigkeit dienen.

Im aktuellen Fall ging es um einen Baustellen-Vorarbeiter, der während einer verpflichtenden Morgenbesprechung im Baucontainer Kaffee trank. Er verschluckte sich, ging hustend hinaus und stürzte dann unglücklich auf ein Metallgitter (mit Nasenbeinbruch). Die zuständige Berufsgenossenschaft sah darin zunächst keinen Arbeitsunfall, da das Kaffeetrinken angeblich „keinen betrieblichen Zweck“ gehabt und zum privaten Lebensbereich gehört habe. Auch das Sozialgericht schloss sich dieser Auffassung an.

Entscheidungsgründe des LSG Sachsen-Anhalt

Das LSG Halle hob dieses Ergebnis auf und erkannte den Sturz als Arbeitsunfall an. Entscheidend war der betriebliche Zusammenhang: Das Kaffeetrinken fand während einer verpflichtenden Besprechung statt und wurde vom Arbeitgeber organisiert (er füllte den Kaffeevorrat selbst nach). Es diente demnach nicht (nur) dem Durstlöschen, sondern verfolgte auch betriebliche Zwecke. Das Gericht betonte dabei drei Kerngedanken:

  • Betrieblicher Kontext: Die gemeinsame Kaffeepause war Teil des Arbeitsgeschehens. Die Teilnahme an der Besprechung war verpflichtend, und der Arbeitgeber stellte den Kaffee bereit. Damit war das Ritual eng mit dem betrieblichen Ablauf verknüpft. Gerade weil das Kaffeeholen Teil der Besprechung war, liegt ein innerer Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit vor.
  • Arbeitsfördernde Wirkung: Durch das gemeinsame Kaffeetrinken in der Runde wurde nach Überzeugung des Gerichts die positive Arbeitsatmosphäre und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. Das Koffein machte die Mitarbeiter wacher und aufnahmebereiter – all das wurde dem Arbeitgeber bewusst, der den Kaffee selbst nachfüllte. Diese Effekte ziehen eine „betriebserleichternde“ Komponente nach sich, da sie die Leistungsfähigkeit und Motivation bei der Arbeit fördern.
  • Rolle des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber hatte den Kaffeevorrat bereitgestellt und wusste um dessen Wirkung. Das Gericht hob hervor, dass der Arbeitgeber bewusst in das Ritual eingebunden war. Sein Verhalten zeigte, dass das Kaffeetrinken hier nicht als rein private Pause, sondern als Teil der Arbeitsorganisation verstanden wurde.

Zusammenfassend stellte das LSG fest, dass in dieser Konstellation das Verschlucken am Kaffee „(auch) betrieblichen Zwecken gedient“ habe. Anders sei es nur in klassischen Pausensituationen: Würde sich ein Mitarbeiter beispielsweise in seiner Frühstückspause an selbst mitgebrachten Kaffee verschlucken, sei dies dem privaten Bereich zuzurechnen und kein Arbeitsunfall.

Handlungsempfehlungen

Für Arbeitgeber

  • Bewusstsein schaffen: Arbeitgeber sollten sich bewusst machen, dass gemeinschaftliche Pausen oder Arbeitsrunden (z. B. Kaffeepausen während Meetings) rechtlich zum Arbeitsalltag gehören können. Wenn solche Rituale Bestandteil der Arbeitsorganisation sind, kann ein Unfall dabei als Arbeitsunfall gelten.
  • Sichere Rahmenbedingungen: Achten Sie auf die Sicherheit am Pausen- oder Besprechungsort. Sorgen Sie für rutschfeste Böden, freie Wege und gute Beleuchtung auch in Innenräumen oder Containern. Eine rutschfreie Stufe am Ausgang oder Handläufe können Unfällen vorbeugen. Schulungen zum sicheren Verhalten (etwa: beim Husten kurz innehalten) können hilfreich sein.
  • Arbeits- und Gesundheitsschutz beachten: Die allgemeine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers (Arbeitsschutzgesetz) gilt auch für Pausenbereiche. Dazu gehört das Bereitstellen hygienischer Getränke, aber auch die Information der Mitarbeiter über Pausensicherheit. Gleichzeitig müssen Arbeitsunfälle ordnungsgemäß gemeldet werden (vgl. § 193 SGB VII). Sobald ein Arbeitsunfall vorliegt oder vermutet wird, ist umgehend die Berufsgenossenschaft/Unfallkasse zu informieren.
  • Dokumentation und Kommunikation: Halten Sie betriebliche Abläufe, wie verpflichtende Besprechungen, schriftlich fest (z. B. als Termin im Dienstplan). Weisen Sie Ihre Mitarbeiter darauf hin, wann Pausen dienstlich veranlasst sind. Klären Sie in Betriebsvereinbarungen, welche Abläufe als Teil der Arbeit gelten. So schaffen Sie Transparenz für alle Beteiligten und erleichtern im Ernstfall die Unfallklärung.

Für Arbeitnehmer

  • Unfall sofort melden: Erleiden Sie einen Unfall in betrieblichem Umfeld – selbst wenn er während eines kurzen Stehkaffees passiert – melden Sie dies sofort dem Arbeitgeber oder der zuständigen Unfallstelle. Lassen Sie sich ärztlich untersuchen und die Diagnose als Arbeitsunfall bestätigen. Beschreiben Sie genau, in welchem betrieblichen Rahmen der Unfall passierte (z. B. „während einer dienstlichen Besprechung im Baucontainer“).
  • Umstände dokumentieren: Notieren Sie, dass die Kaffeepause Teil des Meetings war und der Kaffee vom Arbeitgeber gestellt wurde. Halten Sie fest, dass die Teilnahme an der Besprechung verpflichtend war. Solche Details unterstützen die Einordnung als Arbeitsunfall. Sollten Kollegen oder Vorgesetzte den Vorfall beobachtet haben, lassen Sie sich dies möglichst schriftlich bestätigen.
  • Kenntnis der Abgrenzung: Seien Sie sich darüber im Klaren, dass nicht jede Pause privat ist. Ein Unfall bei einem „Nebenjob“ am Arbeitsplatz (z. B. Kaffeeholen, Essensbestellung, kurze Besprechung) kann versichert sein, wenn die Handlung betriebsbezogen ist. Fragen Sie bei Unsicherheit Ihre Personalabteilung oder Unfallkasse, insbesondere wenn der Arbeitgeber das Ritual anbietet oder es arbeitsvertraglich festgelegt ist.
  • Widerspruch einlegen: Wird Ihr Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt, können Sie Widerspruch gegen die Entscheidung der Unfallkasse einlegen. Führen Sie dabei an, welche betrieblichen Vorteile das Kaffeetrinken hatte (z. B. gestärkte Wachsamkeit im Meeting). Das aktuelle LSG-Urteil zeigt: Auch scheinbar „kleine“ Unfälle im Rahmen eines betrieblichen Treffens können versichert sein.

Das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt zeigt, dass die Unfallkassendeckung weiter gefasst sein kann, als oft angenommen. Arbeitsunfälle können auch dann vorliegen, wenn der Auslöser – wie hier das Kaffee-Trinken – auf den ersten Blick privat erscheint, aber Teil der Arbeitsorganisation ist. Entscheidend ist die Handlungstendenz und der Sachzusammenhang: Diente das Kaffeetrinken (gemeinsam, vom Arbeitgeber organisiert) einem betrieblichen Zweck – etwa der Aktivierung der Mitarbeiter und Förderung des Teamgeists – steht dem Versicherungsschutz nichts entgegen.

Für Arbeitgeber bedeutet dies, solche Rituale nicht aus den Augen zu verlieren und auf Sicherheit zu achten. Für Arbeitnehmer heißt es: Unfälle auch in ungewöhnlichen Situationen melden und klar herausstellen, dass sie dienstlich veranlasst waren. Nur so sind die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung (Heilbehandlung, Verletztengeld, Reha usw.) im Ernstfall gewährleistet.