Online-Krankschreibung ohne Arztkontakt – LAG Hamm bestätigt fristlose Kündigung

08. November 2025 -

LAG Hamm (Az. 14 SLa 145/25) – Ein aktuelles Urteil sorgt für Aufmerksamkeit im Arbeitsrecht: Ein Arbeitnehmer wurde fristlos entlassen, nachdem er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) aus dem Internet vorgelegt hatte, ohne jemals persönlichen Kontakt zu einem Arzt zu haben. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm entschied, dass die fristlose Kündigung in diesem Fall wirksam war. Dieser Rechtstipp fasst den Fall und die Begründung des Gerichts zusammen und gibt konkrete Empfehlungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Ein Online-Attest ohne Arztgespräch kostete einen Arbeitnehmer den Job – das LAG Hamm bestätigte die fristlose Kündigung in diesem Fall.

Hintergrund: Krankmeldung per Online-Fragebogen

Der Fall betraf einen IT-Consultant, der sich im August 2024 krank meldete und dafür online ein Attest erwarb. Auf einer Website wählte er die günstige Option einer Krankschreibung „ohne Gespräch“ mit einem Privatarzt per Telemedizin. Er füllte lediglich einen Fragebogen zu Symptomen aus und erhielt kurz darauf per E-Mail ein Attest, das optisch einem offiziellen „gelben Schein“ nachempfunden war. Ein direkter Kontakt mit einem Arzt – weder persönlich, noch per Telefon oder Video – fand nicht statt.

Dieses Online-Attest reichte der Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber als Nachweis der Arbeitsunfähigkeit ein. Zunächst akzeptierte das System des Unternehmens den Upload (der Eingang wurde mit „approved“ bestätigt). Allerdings zweifelte die Personalabteilung die Echtheit der Bescheinigung an. Im elektronischen Meldesystem der Krankenkasse war nämlich keine entsprechende eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsmeldung) auffindbar – ein Hinweis darauf, dass kein deutscher Vertragsarzt die Krankschreibung ausgestellt hatte. Zudem war der angebliche Arzt auf dem Attest als „Privatarzt per Telemedizin“ ohne deutsche Adresse ausgewiesen, mit nur einer WhatsApp-Nummer und E-Mail. Kurze Zeit später konfrontierte der Arbeitgeber den Mitarbeiter mit dem Verdacht auf eine unwirksame Krankschreibung.

Noch bevor der Arbeitnehmer einen hausärztlichen Nachweis erbrachte, entschloss sich das Unternehmen zur Kündigung: Am 18.09.2024 kündigte der Arbeitgeber außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich. Der Mitarbeiter klagte hiergegen – mit zunächst Erfolg vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Dortmund. Das ArbG meinte, eine Abmahnung hätte als milderes Mittel ausgereicht, da nicht sicher erwiesen sei, dass der Arbeitnehmer tatsächlich nicht krank war. Der Arbeitgeber ging jedoch in Berufung.

Entscheidung des LAG Hamm: Fristlose Kündigung gerechtfertigt

Das LAG Hamm stellte sich im Berufungsverfahren auf die Seite des Arbeitgebers und bestätigte die fristlose Kündigung. Entscheidend war die Bewertung, dass der Arbeitnehmer durch das Vorlegen des Online-Attests seinen Arbeitgeber arglistig getäuscht hat. Er habe „bewusst wahrheitswidrig“ suggeriert, es habe zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit einen Arztkontakt gegeben. Dies stellte nach Auffassung der Richter eine schwerwiegende Verletzung der arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) dar.

Für einen unbefangenen Betrachter wirkte die Bescheinigung wie ein normales ärztliches Attest – optisch entsprach es weitgehend dem offiziellen Musterformular. Begriffe wie „Fernuntersuchung“ auf dem Attest ließen vermuten, es habe zumindest eine Arzt-Patienten-Kommunikation (z.B. per Video oder Telefon) stattgefunden. In Wahrheit aber war keine Untersuchung erfolgt. Nach den deutschen Regeln (insbesondere der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Arbeitsunfähigkeit) darf eine Krankschreibung grundsätzlich nur nach ärztlicher Untersuchung – persönlich, per Videosprechstunde oder zumindest nach telefonischer Anamnese – ausgestellt werden. Diese medizinischen Standards wurden hier nicht eingehalten.

Das LAG Hamm betonte, dass der Arbeitnehmer sich dessen bewusst war: Die Webseite, von der er das Attest bezog, habe unmissverständlich darauf hingewiesen, dass bei der günstigen Variante keine ärztliche Konsultation erfolgt. Tatsächlich war die Online-Krankschreibung mit ausführlichen Disclaimern versehen. Unter anderem riet der Anbieter, man solle im Zweifel doch die teurere Version mit Arztgespräch wählen – insbesondere „wenn der Arbeitgeber misstrauisch ist“. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die AU ohne Arztkontakt einen geringeren Beweiswert vor Gericht habe. All dies war dem Kläger bekannt, er hatte sich aber dennoch für die „Sparversion“ entschieden, wohl um Aufwand oder Kosten zu sparen. Diese „Sparsamkeit“ kostete ihn nun den Job.

Neben der Täuschung über den Arztkontakt sah das Gericht auch den Vorwurf des Erschleichens von Entgeltfortzahlung als begründet an. Indem der Mitarbeiter ein unrechtmäßiges Attest nutzte, um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu erhalten, habe er versucht, sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen – ähnlich wie bei einem Lohnfortzahlungsbetrug.

Erschütterter Beweiswert des Attests

Normalerweise ist eine ordnungsgemäße ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein starkes Beweismittel für das Vorliegen einer Krankheit. Nach ständiger Rechtsprechung genügt ein Attest in der Regel als Nachweis, dass der Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt ist – der Arbeitgeber darf die bescheinigte Krankheit grundsätzlich nicht bezweifeln. Anders liegt der Fall, wenn der sogenannte Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert ist. Genau das nahm das LAG Hamm hier an: Weil das Attest ohne echte ärztliche Untersuchung zustande kam und gegen elementare medizinische Richtlinien verstieß, hatte es nicht die übliche Beweiskraft. Der Arbeitgeber konnte sich also erfolgreich darauf berufen, dass die Bescheinigung keinen verlässlichen Beleg für eine Krankheit darstellt.

Die Konsequenz: Der Arbeitnehmer hätte nun darlegen und beweisen müssen, dass er in dem betreffenden Zeitraum tatsächlich krank war. Dies gelang ihm nicht. Er hatte zwar Symptome wie Unwohlsein, Husten und Gliederschmerzen sowie einige Medikamente angegeben, blieb aber sehr pauschal. Wie genau sich sein Gesundheitszustand auf die Arbeitsfähigkeit ausgewirkt hat, konnte er nicht substantiiert erläutern. Mangels überzeugenden Nachweises einer echten Erkrankung durfte der Arbeitgeber das Fehlen als unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit werten.

Keine Abmahnung erforderlich

Grundsätzlich gilt im Arbeitsrecht: Vor einer verhaltensbedingten Kündigung muss der Arbeitgeber in den meisten Fällen eine Abmahnung aussprechen, um dem Mitarbeiter Gelegenheit zu geben, sein Verhalten zu ändern. Im vorliegenden Fall sah das Gericht jedoch eine Abmahnung als entbehrlich an. Die Richter stuften die Pflichtverletzung als so gravierend ein, dass selbst ein einmaliger Vorfall die sofortige und fristlose Kündigung rechtfertigt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei durch die Täuschung dermaßen zerstört, dass eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses – auch nur bis zum Ende der Kündigungsfrist – nicht zumutbar war.

Zur Begründung führte das LAG aus, dass der Arbeitgeber den Feststellungsprozess einer Erkrankung vollständig in die Hände des Arztes legen muss und ihm dabei vertrauen muss. Wenn ein Mitarbeiter dieses System bewusst umgeht und ein Attest „erkauft“, untergräbt er dieses Vertrauen in besonderem Maße. Eine vorherige Abmahnung wäre hier aus Sicht des Gerichts nicht zielführend, da der Arbeitnehmer offensichtlich wissen musste, dass ein derartiges Verhalten absolut inakzeptabel ist.

Auch die Einwände des Klägers wiesen die Richter zurück. Insbesondere verfing das Argument nicht, er habe „aus einer Notlage heraus“ gehandelt, weil er wegen gesundheitlicher Sorgen nicht persönlich zum Arzt gehen wollte. Das LAG stellte klar, dass kein plausibler Grund ersichtlich sei, der den Verzicht auf jegliche Arztkonsultation rechtfertigte – zumal es ja seriöse Möglichkeiten der Telemedizin mit echten Ärzten gegeben hätte.

Vergleich zu früheren Fällen

Bemerkenswert ist, dass das LAG Hamm in einem früheren Fall (März 2023) zwar ebenfalls die Vorlage einer Online-Bescheinigung ohne Untersuchung als Pflichtverstoß einstufte, damals jedoch eine Kündigung nicht bestätigte. In jenem Fall hatte eine Pflegekraft über das Internet ein Attest zur Impfunfähigkeit erlangt, um einer Corona-Impfpflicht zu entgehen. Das LAG hielt die Bescheinigung für irreführend, weil sie fälschlich einen persönlichen Arztkontakt suggerierte. Dennoch sei der Arbeitgeberin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar gewesen – eine Abmahnung genügte dort als Reaktion. Diese unterschiedliche Bewertung zeigt, dass stets eine Einzelfallabwägung erfolgt. Im aktuellen Fall wogen die Umstände jedoch schwerer: Hier ging es um die Erschleichung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und einen bewussten Vertrauensmissbrauch durch den Arbeitnehmer. Die Interessenabwägung fiel daher zulasten des Arbeitnehmers aus – die fristlose Kündigung wurde bestätigt.

Praktische Hinweise für Arbeitnehmer

Was bedeutet dieses Urteil konkret für Beschäftigte? Arbeitnehmer sollten aus dem Fall wichtige Lehren ziehen:

  • Vorsicht bei Online-Attesten: Nutzen Sie keine Angebote zur Krankschreibung ohne Arztgespräch. So verlockend es erscheinen mag – ein Attest, das ohne Untersuchung oder Arztkontakt ausgestellt wird, ist rechtlich riskant. Im Streitfall hat eine solche Bescheinigung kaum Wert und kann Sie den Job kosten. Greifen Sie im Krankheitsfall lieber auf anerkannte Wege zurück: den Hausarzt, einen ärztlichen Notdienst oder seriöse Telemedizin-Dienste mit echter Arztkonsultation.
  • Ehrlichkeit gegenüber dem Arbeitgeber: Denken Sie daran, dass Ihr Arbeitgeber auf die Echtheit Ihrer Krankmeldungen vertrauen muss. Täuschungsversuche – etwa durch gefälschte oder erkaufte Atteste – stellen schwere Pflichtverletzungen dar. Selbst wenn Sie sich tatsächlich krank fühlen, rechtfertigt das nicht, ein Attest auf fragwürdigem Wege zu besorgen. Im Zweifelsfall riskieren Sie eine fristlose Kündigung ohne Abmahnung.
  • Beweislast im Krankheitsfall: Wenn Ihr Arbeitgeber berechtigte Zweifel an Ihrer Arbeitsunfähigkeit hat (z.B. weil eine Bescheinigung offenkundig mangelhaft ist), müssen Sie im Prozess darlegen, woran Sie genau erkrankt waren. Allgemeine Angaben („erkältet“, „Rückenschmerzen“ etc.) reichen dann nicht aus. Sie sollten in der Lage sein, konkrete ärztliche Nachweise zu erbringen. Tipp: Im Krankheitsfall immer einen Arzt konsultieren und die Symptome dokumentieren lassen. So behalten Ihre Atteste ihren vollen Beweiswert und Sie geraten nicht in Erklärungsnot.
  • Kein Rechtsmissbrauch: Missbrauchen Sie nicht das System der Lohnfortzahlung. Das Vortäuschen einer Krankheit oder das Erschleichen einer AU-Bescheinigung (sei es durch Lügen gegenüber dem Arzt oder durch dubiose Online-Dienste) ist kein Kavaliersdelikt. Wer beim Betrügen erwischt wird, riskiert das Arbeitsverhältnis – oft zurecht, wie die Gerichte betonen. Selbst eine einmalige Aktion kann für eine fristlose Entlassung ausreichen, wenn das Vertrauensverhältnis irreparabel beschädigt ist.

Praktische Hinweise für Arbeitgeber

Auch Arbeitgeber können aus diesem Urteil wichtige Schlüsse ziehen, um im Krankheitsfall richtig zu reagieren:

  • Genau hinsehen bei Zweifeln: Arbeitgeber sind grundsätzlich verpflichtet, eine vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu akzeptieren. Doch wenn auffällige Umstände vorliegen – etwa ein Attest von einem unbekannten „Privatarzt per Telemedizin“, fehlende eAU-Daten bei der Krankenkasse oder verdächtige Anbieter – darf man genauer hinsehen. Im vorliegenden Fall ergaben interne Recherchen, dass kein ordnungsgemäßer Arztkontakt stattgefunden hatte. Arbeitgeber sollten in solchen Fällen Beweise sichern (z.B. Screenshots der Anbieter-Webseite mit deren Disclaimer, Rückmeldung der Krankenkasse über fehlende eAU, etc.), um den Beweiswert des Attests zu erschüttern.
  • Schnelles Handeln: Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass ein Attest unwirksam oder erschlichen ist, muss der Arbeitgeber zügig entscheiden. Eine fristlose Kündigung nach § 626 BGB muss innerhalb von 2 Wochen ab Kenntnis der maßgeblichen Umstände ausgesprochen werden. Daher sollten Verdachtsmomente umgehend an die entscheidungsbefugte Stelle (z.B. Geschäftsführung oder Personalabteilung) weitergeleitet werden. Im geschilderten Fall informierte die Personalabteilung am 13.09.2024 den Vorstand; am 18.09. wurde gekündigt – diese Frist war gewahrt. Vermeiden Sie organisatorische Verzögerungen, damit Ihr Kündigungsrecht nicht wegen Fristablaufs verloren geht.
  • Abmahnung vs. Kündigung abwägen: Prüfen Sie sorgfältig, ob eine Abmahnung ausreichen könnte oder ob das Vertrauensverhältnis so zerstört ist, dass eine Kündigung gerechtfertigt ist. Das LAG Hamm sieht bei einer arglistigen Täuschung über eine Krankmeldung keine Abmahnung als erforderlich an. Dennoch bleibt dies eine Einzelfallentscheidung. Berücksichtigen Sie Faktoren wie die Dauer der Betriebszugehörigkeit, frühere Verfehlungen oder Einsicht des Mitarbeiters. In weniger krassen Fällen – z.B. wenn der Arbeitnehmer möglicherweise gutgläubig einem scheinbar seriösen, aber letztlich unzureichenden Attest vertraute – könnte eine letzte Chance angemessen sein. Holen Sie im Zweifel rechtlichen Rat ein, bevor Sie den drastischen Schritt der fristlosen Kündigung gehen.
  • Kommunikation und Prävention: Es kann sinnvoll sein, präventiv auf die Problematik hinzuweisen. Da mittlerweile einige Online-Anbieter zweifelhafte AUs anbieten, informieren Sie Ihre Belegschaft (oder zumindest die Personalverantwortlichen) über die begrenzte Akzeptanz solcher Atteste. So wissen Mitarbeiter, dass ein „AU-Schein ohne Arztgespräch“ voraussichtlich nicht anerkannt wird und sie bei Krankmeldung besser gleich einen Arzt kontaktieren. Auch intern sollten verantwortliche Stellen geschult sein, elektronische Krankmeldungen (eAU) zu überprüfen und Auffälligkeiten zu melden.
  • Kein „automatisches“ Misstrauen: Trotz solcher Fälle gilt: nicht jede Krankmeldung aus ungewohnter Quelle ist gleich ein Betrugsversuch. Arbeitgeber tun gut daran, sachlich aufzuklären, bevor sie Sanktionen ergreifen. Im Zweifelsfall kann auch das Verlangen nach einem amtsärztlichen Gutachten oder die Einschaltung der Krankenkasse bzw. des Medizinischen Dienstes hilfreich sein, um den Gesundheitszustand prüfen zu lassen. Erst wenn feststeht, dass der Arbeitnehmer keine valide AU hatte und bewusst täuschte, sollte eine fristlose Kündigung in Betracht gezogen werden. Dann jedoch zeigt das LAG-Urteil, dass die Gerichte bereit sind, eine solche Kündigung zu bestätigen.

Dieses Urteil ist ein deutliches Signal, dass der leichtfertige Umgang mit Online-Krankschreibungen erhebliche Konsequenzen haben kann. Arbeitnehmer sollten sich darauf verlassen, echte ärztliche Atteste vorzulegen, um ihren Anspruch auf Lohnfortzahlung nicht zu gefährden. Arbeitgeber wiederum erhalten ein Stück Rechtssicherheit: Täuschung über die Arbeitsunfähigkeit – insbesondere zum Zwecke der Entgeltfortzahlung – kann einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung darstellen. Beide Seiten sind gut beraten, die Vertrauensbasis im Krankheitsfall nicht auszuhöhlen: Ehrlichkeit und die Einhaltung bewährter Verfahren schützen Arbeitnehmer vor Jobverlust und Arbeitgeber vor Lohnfortzahlungsbetrug.