BAG-Urteil: Überstundenzuschläge für Teilzeitbeschäftigte stärker durchgesetzt

27. November 2025 -

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 26. November 2025 (Az. 5 AZR 118/23) ein wegweisendes Urteil gefällt, das die Rechte von Teilzeitbeschäftigten bei Überstunden erheblich stärkt. Demnach dürfen Überstundenzuschläge (Mehrarbeitszuschläge) nicht erst ab Überschreiten der üblichen Vollzeit-Wochenarbeitszeit gezahlt werden – eine solche starre Grenze benachteiligt Teilzeitkräfte und ist diskriminierend. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet dies eine verbesserte Vergütung von Überstunden auch in Teilzeit, während Arbeitgeber ihre Vertragsgestaltung und Praxis an die neue Rechtslage anpassen müssen. Im Folgenden erläutern wir den Sachverhalt des Urteils, die Entscheidung des Gerichts sowie die rechtliche Relevanz und praktischen Auswirkungen für beide Seiten, in einem verständlichen Stil – aber fundiert juristisch begründet.

Sachverhalt des Falles

Im entschiedenen Fall klagte ein in Teilzeit beschäftigter Lagerarbeiter (Kommissionierer) gegen seinen Arbeitgeber auf Zahlung von Überstundenzuschlägen. Auf sein Arbeitsverhältnis fand ein Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung, der für Vollzeit eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden vorsah. Laut Tarifregelung war „bis einschließlich der 40. Wochenstunde kein Mehrarbeitszuschlag zu zahlen“, erst ab der 41. Stunde pro Woche sollte ein Zuschlag von 25 % gewährt werden. Der Kläger arbeitete hingegen Teilzeit mit vertraglich 30,8 Stunden wöchentlich. Als er mehr arbeitete, erhielt er für diese zusätzlichen Stunden keinen Zuschlag, weil er die 40-Stunden-Grenze nicht überschritten hatte.

Der Arbeitnehmer sah darin eine Ungleichbehandlung gegenüber Vollzeitkräften und machte einen Anspruch auf den Zuschlag bereits bei Überschreiten seiner eigenen vertraglichen Arbeitszeit geltend. Konkret argumentierte er, ihm müsse – analog zu Vollzeitkollegen – schon nach rund 1,2 Überstunden (30,8 + 1,2 Stunden) ein Zuschlag zustehen. Diese Zahl leitete er aus dem Pro-rata-temporis-Grundsatz des § 4 Abs. 1 Satz 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) ab, wonach Leistungen wie Überstundenzuschläge bei Teilzeit proportional zur Arbeitszeit zu gewähren sind. Die Vorinstanzen gaben ihm jedoch kein Recht und wiesen die Klage zunächst ab.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

In der Revision vor dem BAG hatte der Kläger schließlich Erfolg. Der Fünfte Senat des BAG entschied, dass die tarifliche Regelung gegen das Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigte aus § 4 Abs. 1 TzBfG verstößt. Teilzeitkräfte wurden hier ohne sachlichen Grund schlechter gestellt als Vollzeitbeschäftigte, da ihnen bis zur 40. Stunde kein Zuschlag gewährt wurde. Eine solche Klausel ist folglich gemäß § 134 BGB nichtig, soweit sie keine anteilig abgesenkte Überstundengrenze für Teilzeit vorsieht. Anders ausgedrückt: Der Arbeitgeber darf Überstundenzuschläge nicht einheitlich erst ab z. B. 40 Stunden pro Woche zahlen, sondern muss für Teilzeitmitarbeiter eine entsprechend niedrigere Schwelle ansetzen, die im Verhältnis zur vereinbarten Teilzeit steht.

Die höchsten Arbeitsrichter stellten auch klar, dass es keinen sachlichen Rechtfertigungsgrund für die ungleiche Behandlung gab. Insbesondere reichte das Argument nicht aus, Überstundenzuschläge generell erst ab einer 40-Stunden-Woche zu zahlen, weil eine höhere Arbeitszeit angeblich erst dann eine besondere Belastung darstelle. Diese Sichtweise vernachlässigt nämlich die Belastung, die Mehrarbeit auch Teilzeitbeschäftigten bereits beim Überschreiten ihrer eigenen vertraglichen Stundenzahl typischerweise verursacht. Mit anderen Worten: Auch Teilzeitkräfte spüren die Zusatzbelastung, sobald sie über ihr normales Pensum hinaus arbeiten, sodass es sachlich nicht zu rechtfertigen ist, ihnen den Zuschlag vorzuenthalten.

Das BAG hat daher unmissverständlich klargestellt, dass Teilzeitbeschäftigte einen Anspruch auf den tariflichen Mehrarbeitszuschlag schon dann haben, wenn sie ihre individuelle Wochenarbeitszeit proportional zur Vollzeit-Zuschlagsgrenze überschreiten. Im konkreten Fall bedeutet das: Überschreitet der Kläger seine 30,8-Stunden-Woche in demselben Verhältnis, in dem 40 Stunden zur 37,5-Stunden-Woche eines Vollzeitlers stehen, muss der Zuschlag gezahlt werden. Wichtig: Das Gericht hat diesen Anspruch unmittelbar zugesprochen, ohne den Tarifparteien (Gewerkschaft und Arbeitgeberverband) zuvor Gelegenheit zur Anpassung der Tarifregelung zu geben. Aufgrund des europäischen Hintergrunds des Diskriminierungsverbots im TzBfG muss nämlich sofort ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet werden – die Gerichte dürfen bei solch einer Diskriminierung nicht zuerst abwarten, ob die Tarifparteien die unwirksame Klausel selbst nachbessern.

Für den Kläger bedeutet das Urteil einen Etappensieg: Die diskriminierende Klausel ist gekippt und er hat dem Grunde nach Anspruch auf die Überstundenzuschläge. Allerdings konnte das BAG in der Sache noch kein abschließendes Geldurteil fällen, da die Vorinstanz keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hatte, wie viele Überstunden der Kläger tatsächlich geleistet hat. Der Fall wurde daher zur neuen Verhandlung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dort muss nun geklärt werden, in welchem Umfang der Kläger über seine proportional angepasste Schwelle hinaus gearbeitet hat, um den konkret zustehenden Nachzahlungsbetrag zu ermitteln.

Bedeutung für die Praxis

Das Urteil hat grundsätzliche Bedeutung für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Es stellt klar, dass Teilzeitbeschäftigte bei Überstunden finanziell nicht länger benachteiligt werden dürfen. Teilzeit ist kein „Rabatt“ mehr bei Überstunden – wer in Teilzeit mehr arbeitet als vereinbart, soll ab der ersten überschießenden Stunde anteilig gleich behandelt werden wie Vollzeitkräfte. Für die Praxis bedeutet das:

  • Arbeitgeber können sich nicht mehr auf starre Überstundenregelungen berufen, die an Vollzeitgrenzen anknüpfen. Solche Klauseln in Tarifverträgen oder Arbeitsverträgen sind künftig unwirksam, sofern sie keine proportionale Grenze für Teilzeit vorsehen. Firmen müssen bestehende Vergütungssysteme überprüfen und diskriminierende Regelungen anpassen. Andernfalls laufen sie Gefahr, dass Teilzeitkräfte rückwirkend Zuschläge einfordern – mit Erfolgsaussichten, da nun ein höchstrichterliches Urteil auf ihrer Seite steht.
  • Arbeitnehmer in Teilzeit wiederum sollten ihre Rechte kennen. Wer regelmäßig über seine vertraglich vereinbarte Stundenzahl hinaus arbeitet, hat nun einen klaren Anspruch auf Überstundenzuschläge für diese Mehrarbeit. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Vollzeitarbeitszeit überschritten wird – entscheidend ist allein die persönliche Wochenarbeitszeit. Überschreiten Teilzeitkräfte ihre individuelle Wochenarbeitszeit um den entsprechenden Anteil, müssen Zuschläge gezahlt werden. Dieses Urteil wirkt faktisch wie eine Aufforderung an Teilzeitbeschäftigte, mögliche Ansprüche auf Nachzahlung zu prüfen.

Besonders branchenübergreifend ist dies relevant: In vielen Tarifverträgen – etwa im Handel, der Pflege oder im öffentlichen Dienst – gab es bislang ähnliche Klauseln mit Überstundenzuschlägen erst ab Vollzeit. Diese Praxis wird nun nicht haltbar sein. Zudem trägt die Entscheidung zur Gleichstellung der Geschlechter bei, da ein Großteil der Teilzeitbeschäftigten Frauen sind. Indirekt beseitigt das Urteil damit auch eine Benachteiligung von Frauen im Arbeitsleben, was im Sinne von § 7 Abs. 1 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) begrüßenswert is.

Empfehlungen

Für Arbeitgeber

  • Vertrags-Check und Anpassung: Überprüfen Sie umgehend Ihre Arbeitsverträge, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge auf Klauseln, die Überstundenzuschläge erst ab einer festen Stundenzahl (z. B. 40 Stunden/Woche) vorsehen. Solche Regelungen sollten proaktiv angepasst werden, sodass Teilzeitkräfte anteilige Überstundengrenzen erhalten. Andernfalls gelten diese Klauseln als nichtig und es drohen Nachzahlungsansprüche.
  • Arbeitszeitdokumentation: Stellen Sie sicher, dass Arbeitszeiten genau erfasst werden. Arbeitgeber sind ohnehin verpflichtet, die Mehrarbeit und Überstunden ihrer Mitarbeiter zu dokumentieren. Eine lückenlose Zeiterfassung ist nun umso wichtiger, um korrekt berechnen zu können, ab wann bei Teilzeitkräften der Zuschlag anfällt. So vermeiden Sie Streit über die geleisteten Stunden und können Ansprüche klar prüfen.
  • Nachzahlung und Risikomanagement: Kalkulieren Sie mögliche Rückforderungen von Teilzeitmitarbeitern ein. Teilzeitbeschäftigte können Überstundenzuschläge rückwirkend verlangen, sofern die Ansprüche nicht verjährt oder durch Ausschlussfristen verfallen sind. Die regelmäßige Verjährungsfrist für Lohnansprüche beträgt 3 Jahre (§ 195 BGB). Prüfen Sie zudem, ob in Arbeits- oder Tarifverträgen kürzere vertragliche Ausschlussfristen gelten, und ob diese wirksam sind. Es kann sinnvoll sein, auf Mitarbeiter zuzugehen und ggf. freiwillig Anpassungen oder Nachzahlungen anzubieten, um langwierige Prozesse zu vermeiden.
  • Schulung und Kommunikation: Informieren Sie Ihre Personalabteilung und Führungskräfte über die neue Rechtslage. Intern sollte kommuniziert werden, dass Teilzeitkräfte hinsichtlich Überstunden gleich zu behandeln sind wie Vollzeitkräfte. In Zweifelsfällen ziehen Sie rechtlichen Rat hinzu – insbesondere wenn eine Anpassung von Tarifverträgen in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften erforderlich ist.

Für Arbeitnehmer

  • Rechte kennen und einfordern: Wenn Sie in Teilzeit arbeiten und regelmäßig Mehrarbeit leisten, haben Sie nun klar das Recht auf Überstundenzuschläge für diese zusätzlichen Stunden. Schauen Sie in Ihren Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag: Steht dort, dass Überstundenzuschläge erst ab z. B. 40 Stunden/Woche gezahlt werden? Diese Klausel ist nach der neuen BAG-Entscheidung unwirksam. Sie können daher beim Arbeitgeber die entsprechende Zulage für bereits geleistete Überstunden einfordern. Scheuen Sie sich nicht, auf das BAG-Urteil hinzuweisen, das Ihre Position stützt.
  • Fristen beachten: Warten Sie nicht zu lange, um Ihre Ansprüche geltend zu machen. Gesetzliche Lohnforderungen verjähren in der Regel innerhalb von drei Jahren ab Ende des Jahres, in dem sie entstanden sind. Viele Arbeitsverträge oder Tarifverträge enthalten zudem Ausschlussfristen, die eine noch viel frühere schriftliche Geltendmachung verlangen (z. B. binnen 3 Monaten). Prüfen Sie daher Ihre Unterlagen oder lassen Sie sie prüfen. Geht ein Anspruch durch Fristablauf verloren, hilft auch das beste Urteil nichts mehr. Daher: Falls Sie glauben, Ihnen stehen Nachzahlungen zu, werden Sie zeitnah aktiv.
  • Dokumentation der Überstunden: Führen Sie möglichst Eigenbuch über Ihre Arbeitszeiten. Notieren Sie jede Stunde, die Sie über Ihre vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinaus arbeiten, inklusive Datum und Uhrzeit. Diese Aufzeichnungen können im Zweifel als Nachweis dienen, falls der Arbeitgeber die Überstunden bestreitet. Seit einem Urteil des BAG 2022 sind Arbeitgeber zwar ohnehin zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet, doch in der Praxis sollte man als Arbeitnehmer stets seine Überstunden selbst im Blick behalten.
  • Rechtliche Beratung und Vorgehen: Sollte Ihr Arbeitgeber nicht freiwillig reagieren, haben Sie das Recht, Ihre Ansprüche gerichtlich durchzusetzen. Dank des aktuellen BAG-Urteils stehen die Chancen sehr gut, dass Gerichte Ihnen die Zuschläge zusprechen, ohne erst auf Tarifverhandlungen zu verweisen. Überlegen Sie, ob Sie sich an den Betriebsrat oder – falls vorhanden – an Ihre Gewerkschaft wenden. Diese können Druck ausüben und ggf. eine Anpassung der tariflichen Regelungen vorantreiben. In Einzelfällen kann auch ein Fachanwalt für Arbeitsrecht weiterhelfen, um Ihre Ansprüche durchzusetzen oder eine Einigung mit dem Arbeitgeber zu erzielen.

Das Urteil des BAG vom 26.11.2025 ist ein Meilenstein für die Gleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitkräften. Arbeitgeber sollten jetzt handeln und ihre Vertragsbedingungen auf den Prüfstand stellen, um rechtliche Risiken zu vermeiden. Arbeitnehmer in Teilzeit wiederum können künftig fairere Bedingungen erwarten und bereits jetzt bestehende Ansprüche auf Überstundenzuschläge selbstbewusst geltend machen. Dieses Urteil sorgt damit für mehr Gerechtigkeit in der Arbeitswelt und konkrete Verbesserungen im Alltag sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmen. Die klare juristische Linie des BAG bietet Orientierung für die vertragliche Praxis und stellt sicher, dass “Teilzeitbeschäftigte nicht wegen ihrer Teilzeit schlechter behandelt werden dürfen” – ein Grundsatz, der nun nachhaltig bekräftigt wurde.