Ein Thüringer Notar beurkundete im Jahr 2009 einen Kaufvertrag über ein Tankstellengrundstück, der eine Vertragsstrafenklausel enthielt. Später kam es zwischen den Vertragsparteien zum Rechtsstreit über die verwirkte Vertragsstrafe vor dem Landgericht G. (Az. 1 HKO 199/14). In diesem Prozess wurde der Notar von einer Partei als Zeuge für die Umstände des Zustandekommens der Vertragsstrafe benannt. Beide Vertragsparteien entbanden den Notar von seiner notariellen Verschwiegenheitspflicht nach § 18 BNotO, um ihm die Aussage zu ermöglichen. Da der Geschäftsführer der Käuferseite inzwischen verstorben war, erklärte das zuständige Landesjustizministerium an dessen Stelle die Entbindung von der Schweigepflicht. Trotz der Entbindung weigerte sich der Notar beharrlich, im Termin vor dem Landgericht als Zeuge auszusagen, weil er die Befreiung für unwirksam hielt. Er berief sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (Zeugnisverweigerung aus Amtsgeheimnissen).
Das Landgericht hielt die Weigerung jedoch für unberechtigt: Mit Zwischenurteil vom 07.01.2019 erklärte es die vom Notar geltend gemachte Zeugnisverweigerung für unrechtmäßig. Der Notar legte hiergegen sofortige Beschwerde ein, blieb damit aber ohne Erfolg – das Oberlandesgericht Jena wies sein Rechtsmittel im Oktober 2019 zurück. Damit stand rechtskräftig fest, dass der Notar zur Aussage verpflichtet ist.
Dennoch blieb der Notar bei seiner Verweigerungshaltung. Beim nächsten anberaumten Verhandlungstermin (Januar 2020) erschien er zwar vor Gericht, schwieg aber weiterhin zur Sache. In der Folge blieb er weiteren Terminen (September 2020 und April 2021) fern. Die vom Gericht gegen ihn verhängten Ordnungsgelder wegen Nichterscheinens und Aussageverweigerung zahlte er jeweils. Als er auch zum Termin am 29.09.2021 nicht erschien, setzte das Landgericht abermals ein Ordnungsgeld (1.000 €) fest und ordnete die Vorführung des Notars an. Bevor es dazu kam, wurde der Zivilrechtsstreit jedoch durch Klagerücknahme beendet.
Aufgrund der hartnäckigen Aussageverweigerung leitete der Präsident des Landgerichts Gera als notarielle Aufsichtsbehörde ein Disziplinarverfahren gegen den Notar ein. Mit Verfügung vom 30.11.2022 verhängte er eine Geldbuße von 9.000 € wegen vorsätzlicher Verletzung von Amtspflichten und erteilte zusätzlich einen Verweis (Verwarnung) wegen eines weiteren Vorfalls – einer ungehörigen E-Mail des Notars an einen Nichtbeteiligten. Der Notar akzeptierte dies nicht und erhob Widerspruch und anschließend Klage gegen die Disziplinarverfügung. Er beharrte darauf, zur Aussageverweigerung berechtigt – ja sogar verpflichtet – gewesen zu sein, da die Entbindung von der Schweigepflicht seiner Ansicht nach unwirksam gewesen sei.
Der Notarsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena gab dem Notar zunächst teilweise Recht. Mit Urteil vom 02.02.2024 (Az. 1 Not 3/23) hob das OLG die Geldbuße von 9.000 € auf und milderte den Verweis zu einer bloßen Missbilligung ab. Zur Begründung führte das OLG aus, die prozessuale Zeugenpflicht sei keine spezifische Amtspflicht des Notars. Bei unberechtigter Aussageverweigerung würden bereits die Vorschriften der ZPO (insb. Ordnungsgeld nach § 390 ZPO) greifen, sodass es keiner disziplinarrechtlichen Sanktion nach der Bundesnotarordnung (BNotO) bedürfe. Das Verhalten des Notars habe außerhalb seines Kernamts stattgefunden; außerberufliches Fehlverhalten sei nur dann ein Dienstvergehen, wenn es das Vertrauen in die Integrität der Amtsführung in besonderem Maße beeinträchtigt – was hier nach Ansicht des OLG nicht der Fall gewesen sei.
Der Bundesgerichtshof (Senat für Notarsachen) sah dies grundlegend anders. Mit Urteil vom 10.11.2025 (Az.: NotSt(Brfg) 1/24) stellte der BGH klar, dass das Verhalten des Notars sehr wohl eine schwerwiegende Amtspflichtverletzung darstellt. Bereits der amtliche Leitsatz der Entscheidung lautet: „Ist ein Notar wirksam von der Schweigepflicht entbunden worden, ist er zur Aussage verpflichtet und begeht eine Dienstpflichtverletzung, wenn er seine Aussage weiter verweigert.“. Der Notar habe hier gegen mehrere ihm obliegende Pflichten aus der Bundesnotarordnung verstoßen, insbesondere gegen § 14 Abs. 1 S. 1 BNotO (Pflicht, das Amt gesetzestreu zu führen) und § 14 Abs. 3 S. 1 BNotO (Wahrung der Würde und des Vertrauens des Amtes innerhalb und außerhalb des Dienstes). Die hartnäckige Zeugnisverweigerung vor Gericht verletzte diese Pflichten nach Auffassung des BGH in gravierender Weise.
Der BGH betonte, dass auch ein Notar der allgemeinen Bürgerpflicht unterliegt, auf gerichtliche Ladung zu erscheinen und auszusagen, sofern kein zulässiger Weigerungsgrund besteht. Insbesondere habe sich ein Notar – ähnlich wie ein Richter – an rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen zu halten und diese zu respektieren. Als unabhängiger Träger eines öffentlichen Amtes (§ 1 BNotO), der Aufgaben der vorsorgenden Rechtspflege wahrnimmt, komme dem Notar sogar eine besondere Vorbildfunktion in puncto Gesetzestreue zu. Ein Verhalten außerhalb des Amts kann daher sehr wohl ein Dienstvergehen sein, wenn es geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtstreue und Zuverlässigkeit des Notars in erheblicher Weise zu erschüttern. Genau dies war hier der Fall: Der Notar habe – so der BGH – durch sein Vorgehen das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Rechtmäßigkeit seiner Amtsführung untergraben. Dass der Vorgang nicht direkt eine notarielle Beurkundung betraf, spiele keine Rolle, weil der enge Zusammenhang mit der vorherigen Amtstätigkeit (der beurkundeten Urkunde) gegeben war.
Ausdrücklich stellte der Senat klar, dass im vorliegenden Fall alle Voraussetzungen für die Aussagepflicht des Notars vorlagen: Beide Urkundsbeteiligten hatten ihn von der Verschwiegenheitspflicht entbunden (für den Verstorbenen trat die Aufsichtsbehörde ein). Damit entfiel das Zeugnisverweigerungsrecht des Notars gemäß § 385 Abs. 2 ZPO. Bestehen Zweifel über die Wirksamkeit einer solchen Entbindung, sieht die ZPO ein Zwischenverfahren nach § 387 ZPO vor. Genau dieses war durchgeführt worden – mit dem rechtskräftigen Ergebnis, dass dem Notar kein Weigerungsrecht (aus § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO i.V.m. § 18 BNotO) mehr zustand. An dieses rechtskräftige Zwischenurteil ist der Notar gebunden, ungeachtet seiner persönlichen abweichenden Rechtsansicht. Die spätere Klagerücknahme im Zivilprozess änderte daran nichts – das Zwischenurteil blieb wirksam, es entfiel lediglich die weitere praktische Auswirkung im konkreten Rechtsstrei. Fazit des BGH: Der Notar war zur Aussage verpflichtet und seine fortgesetzte Weigerung stellte sich als bewusste Missachtung der Rechtsordnung dar.
Demgemäß hat der BGH das Verhalten als Dienstvergehen nach § 95 BNotO gewertet. Die im Disziplinarverfahren verhängte Geldbuße von 9.000 € wurde vom BGH in vollem Umfang bestätigt. Der Senat hob hervor, dass die Pflicht zur Gesetzestreue nach § 14 BNotO eine „den Notar treffende Kardinalpflicht“ darstellt. Ein Verstoß hiergegen wiegt allein schon wegen der Bedeutung dieser Pflicht schwer. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Notar vorsätzlich und trotz besseren Wissens handelte, indem er sich bewusst über ein rechtskräftiges Urteil hinwegsetzte. Er hielt „besonders uneinsichtig und hartnäckig“ an einer „für jeden Juristen offensichtlich falschen Rechtsauffassung“ fest. Damit habe er seine eigene Rechtsansicht über die geltende Rechtsordnung gestellt und den Ausgang des Zivilprozesses zumindest potentiell gefährdet. Dieses Verhalten bezeichnete der BGH als mit dem Ansehen des Notaramts unvereinbar. In ungewöhnlich scharfer Formulierung heißt es in dem Urteil: „Von einem Notar ist absolute Rechtstreue zu erwarten. Ein Berufsträger, der ein rechtskräftiges Urteil nicht akzeptiert und durch sein Verhalten ein rechtsstaatliches Verfahren behindert, stellt sich im besonderen Maß gegen den Rechtsstaat, dessen Teil er sein soll.“
Bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme berücksichtigte der BGH zugunsten des Notars zwar, dass dieser bislang disziplinarrechtlich nicht in Erscheinung getreten war und keinen persönlichen Vorteil aus der Verweigerung zog. Gleichwohl sei eine deutliche Sanktion erforderlich, um das erschütterte Vertrauen in das Notaramt wiederherzustellen. Die Geldbuße von 9.000 € liege sogar noch im unteren Bereich des gesetzlich möglichen Rahmens (bis 50.000 € nach § 97 Abs. 4 BNotO) und sei angesichts der Schwere des Verstoßes keinesfalls überhöht. Andere milde Maßnahmen kamen nach Auffassung des Senats nicht in Betracht, da es eines fühlbaren Zeichens bedurfte, dass ein derartiges ignorantes Verhalten eines Notars gegenüber gerichtlichen Entscheidungen nicht toleriert werden kann.
Die Entscheidung des BGH macht deutlich: Notarinnen und Notare sind zur Aussage vor Gericht verpflichtet, sobald sie wirksam von ihrer Schweigepflicht entbunden wurden. Das Amtsgeheimnis nach § 18 BNotO dient dem Schutz der Urkundsbeteiligten und der Rechtspflege, kann aber von allen Beteiligten – bzw. der Aufsichtsbehörde für verstorbene Beteiligte – gemeinsam aufgehoben werden. In dem Moment, in dem die Verschwiegenheitspflicht entfällt, steht dem Notar kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr zu (§ 385 Abs. 2 ZPO). Spätestens ein rechtskräftiges Zwischenurteil im Zivilprozess schafft endgültige Klarheit über die Aussagepflicht. Ein Notar darf sich dann nicht mehr auf einen vermeintlichen Geheimnisschutz berufen. Kommt er dennoch der Ladung nicht nach oder verweigert die Aussage, drohen doppelte Konsequenzen: Einerseits Ordnungsgeld oder Ordnungshaft nach der ZPO, andererseits disziplinarrechtliche Maßnahmen der Notarkammer bzw. Aufsichtsbehörde.
Für die notarielle Praxis bedeutet dies, dass Notare im Konfliktfall lieber vorab rechtlichen Rat einholen sollten, anstatt eigenmächtig die Wirksamkeit einer Entbindung infrage zu stellen. Die Unparteilichkeit und Gesetzestreue des Notars sind Grundpfeiler des Berufs. Wer – wie im vorliegenden Fall – trotz klarer Rechtslage und gerichtlicher Entscheidung die Aussage verweigert, riskiert neben seinem Ruf auch empfindliche Sanktionen. Der BGH setzt hier ein klares Zeichen, dass die Integrität des Notaramts und das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Person des Notars oberste Priorität haben. Notarinnen und Notare tun gut daran, diesem Vertrauen stets gerecht zu werden und ihrer Vorbildfunktion im Rechtsstaat zu entsprechen.