In einem aktuellen Beschluss des OLG Frankfurt am Main (3 U 97/25 vom 03.11.2025) ging es um die Eilbedürftigkeit in einstweiligen Verfügungsverfahren. Der Verfügungskläger begehrte eine Unterlassungsverfügung, weil ihn ein ehemaliger Geschäftspartner öffentlich als „kriminell“ bezeichnet hatte. Obwohl das Eilverfahren grundsätzlich zügig betrieben werden muss, ließ sich der Anwalt des Klägers nach erstinstanzlicher Niederlage ungewöhnlich viel Zeit mit der Berufungsbegründung – rund sieben Wochen nach Berufungseinlegung. Der Leitsatz der OLG-Entscheidung bringt es auf den Punkt: Die Dringlichkeit für eine einstweilige Verfügung entfällt durch Selbstwiderlegung, wenn der Antragsteller länger untätig bleibt und damit selbst zeigt, dass es ihm nicht wirklich eilig ist. In besonderen Konstellationen kann bereits das bloße Ausschöpfen der vollen zweimonatigen Berufungsbegründungsfrist als dringlichkeitsschädlich angesehen werden. Mit anderen Worten: „So dringlich kann es wohl nicht gewesen sein“.
Entscheidung des OLG Frankfurt
Das OLG Frankfurt wies die Berufung des Antragstellers gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück, weil es aufgrund der Verzögerung keinen Verfügungsgrund (Dringlichkeit) mehr sah. Die Richter stellten klar, dass prozesstaktisch zwar erlaubt ist, Fristen voll auszuschöpfen, dies aber nichts daran ändert, dass im Eilverfahren eine schnellere Gangart erwartet wird. Einstweilige Verfügungen sind per Definition dringlich, sodass alle Beteiligten gehalten sind, diesen Verfahren höchste Priorität einzuräumen. Im vorliegenden Fall konnte der Kläger durch sein Zuwarten die anfangs vermutete Dringlichkeit nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.
Wichtige Erwägungen des Senats in diesem Beschluss waren unter anderem:
- Trennung von Fristen und Dringlichkeit: Die prozessuale Berufungsbegründungsfrist (§ 520 Abs. 2 ZPO) von zwei Monaten und die materielle Dringlichkeit sind getrennt zu betrachten. Auch ein fristgerechtes Verhalten kann dringlichkeitsschädlich sein, wenn es objektiv zu langsam ist. Entscheidend ist, wie lange der Antragsteller trotz Kenntnis der Umstände untätig bleibt.
- Gesamtverhalten des Antragstellers: Es ist eine Gesamtbetrachtung des prozessualen (und vorprozessualen) Verhaltens geboten. Hier fiel dem Senat auf, dass der Kläger bereits im ersten Rechtszug Verzögerungen verursacht hatte (z.B. durch formale Rügen bezüglich Videotermin und Vollmacht), was nicht zu jemandem passt, der dringend eine einstweilige Verfügung benötigt. Dieses Verhalten wurde dem Kläger nach § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet.
- Kein komplexer Ausnahmefall: Der Senat betonte, dass weder Sachverhalt noch Rechtsfragen besonders schwierig waren. Die Gerichtsakte umfasste nur ca. 100 Seiten, das erstinstanzliche Urteil lediglich 6 Seiten. Die zentrale Argumentation der Berufung (dass es sich bei „kriminell“ um eine Tatsachenbehauptung handle) war schon im ersten Rechtszug vorgebracht worden. Eine fünfwöchige Schrift (5 Seiten) rechtfertigt keine siebenwöchige Bearbeitungszeit – zumal vieles bloß wiederholt wurde. Pauschale Hinweise des Anwalts auf „Arbeitsüberlastung“, „Koordination mit Mandanten“ oder „gründliche Prüfung“ genügten nicht als Entschuldigung.
- Rechtsprechungsvergleich: Soweit der Kläger argumentierte, andere Oberlandesgerichte sähen im Ausschöpfen von Fristen kein Dringlichkeitsproblem, hielt das OLG Frankfurt entgegen, dass diese Rechtsprechung falsch verstanden sei. Tatsächlich erkennen viele Gerichte an, dass auch das Ausnutzen gesetzlicher Fristen im Eilverfahren die Dringlichkeitsvermutung widerlegen kann. So gilt nach überwiegender Ansicht: Ein Zuwarten von mehr als etwa einem Monat indiziert fehlende Eile, während geringfügige Überschreitungen nur im Ausnahmefall toleriert werde. Im konkreten Fall lagen rund sieben Wochen Untätigkeit vor – deutlich jenseits der üblichen Grenze von vier bis sechs Wochen, die in der Rechtsprechung noch als gerade hinnehmbar angesehen wird.
- Konsequenz: Durch dieses verzögerliche Vorgehen sah der Senat die anfangs bestehende Eilbedürftigkeit als selbst widerlegt an. Ein Verfügungsgrund (§§ 935, 940 ZPO) war damit nicht mehr gegeben, sodass die Unterlassungsverfügung schon aus diesem Grund zu versagen war. Auf die materiell-rechtliche Frage, ob die Äußerung „kriminell“ eine Tatsachenbehauptung oder eine Meinungsäußerung ist, kam es letztlich nicht mehr entscheidend an. Zudem wies das OLG darauf hin, dass eine Revision gemäß § 542 Abs. 2 ZPO gegen solche Beschlüsse in Eilsachen nicht statthaft ist – die Entscheidung ist also unanfechtbar.
Praxishinweis für Rechtsanwälte
Für die Praxis verdeutlicht dieser Beschluss eindrücklich: Wer einen dringenden Rechtsschutz in Anspruch nehmen will, muss zügig und konsequent handeln – und zwar in allen Verfahrensstadien. Einige Hinweise für Anwälte, die einstweilige Verfügungen beantragen oder verteidigen:
- Maximal ein Monat Zeit: Auch wenn keine starre Frist im Gesetz steht, sollten Sie eine Monatsfrist (ab Kenntnis des Verstoßes oder ab negativer Entscheidung) als Richtschnur betrachten. Viele Gerichte sehen bereits Überschreitungen dieser Frist als kritisch an. In Wettbewerbs- und Pressesachen werden häufig 5–6 Wochen als Obergrenze der Dringlichkeit genannt. Überschreitungen darüber hinaus (z.B. 7–8 Wochen) gefährden den Verfügungsgrund erheblich.
- Priorisierung des Eilverfahrens: Machen Sie intern deutlich, dass das Eilverfahren Vorrang hat. Gerichte erwarten, dass Anwälte andere Mandate zurückstellen, Überlastung abbauen oder personell nachsteuern, um Eilsachen vorrangig zu bearbeiten. Wenn nötig, ziehen Sie Kolleg:innen hinzu oder beantragen Sie eine Fristverkürzung bzw. beschleunigte Terminierung, statt die vollen Fristen auszuschöpfen.
- Begründung von Verzögerungen: Unvorhersehbare Verzögerungen (z.B. Krankheit, neue Tatsachen) sollten substantiiert dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Allgemeine Aussagen zur Arbeitsbelastung genügen nicht. Sollten Sie ausnahmsweise eine Frist voll ausschöpfen müssen, dokumentieren Sie die Gründe (etwa umfangreiche Vergleichsverhandlungen oder besonders komplexe Rechtsfragen), damit im Streitfall ersichtlich ist, dass das Zuwarten sachlich gerechtfertigt war.
- Konsistentes Verhalten: Achten Sie auf stringentes prozessuales Verhalten. Maßnahmen, die das Verfahren verzögern (z.B. formalistische Rügen ohne Erfolgaussicht), können später als Indiz gegen die Dringlichkeit ausgelegt werden. Im Zweifel sollte jede Handlung darauf ausgerichtet sein, das Verfahren zu beschleunigen, nicht zu bremsen.
Im einstweiligen Rechtsschutz gilt das Motto „Wer Eile für sich beansprucht, darf keine Zeit verlieren.“ Die OLG-Frankfurt-Entscheidung warnt deutlich davor, die zulässigen Fristen auszureizen. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte tun gut daran, Eilverfahren mit höchstem Nachdruck zu betreiben – anderenfalls steht die begehrte schnelle Hilfe vor Gericht auf dem Spiel.