BGH verlangt festen Kanzleiraum – Virtuelle Kanzlei reicht nicht aus

02. Dezember 2025 -

Der Bundesgerichtshof (Senat für Anwaltssachen) hat mit Urteil vom 1. Dezember 2025 (Az. AnwZ (Brfg) 50/24) entschieden, dass Rechtsanwälte einen festen Kanzleiraum unterhalten müssen und ein rein virtuelles Büro oder die Nutzung von Co-Working-Spaces nicht den gesetzlichen Anforderungen genügt. Konkret stellten die Karlsruher Richter klar, dass die Möglichkeit, bei Bedarf einen Besprechungsraum in einem Bürozentrum zu mieten, keine ausreichende Kanzlei im Sinne von § 27 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) darstellt. Die Rechtsanwaltskammer (RAK) dürfe daher von Anwälten verlangen, den Nachweis eigener Kanzleiräume zu erbringen. Dieses aktuelle BGH-Urteil hat erhebliche praktische Implikationen für alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die moderne Büromodelle nutzen – im Folgenden ein Überblick über die Entscheidung und ihre Folgen.

Hintergrund: Virtuelles Büro vs. Kanzleipflicht

Sachverhalt: Im zugrunde liegenden Fall hatte ein in Berlin zugelassener Rechtsanwalt – zugleich Syndikusrechtsanwalt in einem Unternehmen – für seine selbständige Anwaltstätigkeit kein eigenes dauerhaftes Kanzleibüro angemietet. Stattdessen nutzte er die Anschrift eines Bürocenters nahe dem Berliner Hauptbahnhof als Kanzleisitz. Dort waren ein Kanzleischild und Briefkasten für ihn angebracht, und eingehende Anrufe wurden vom Personal des Centers entgegengenommen und an ihn weitergeleitet. E-Mails erreichten den Anwalt direkt, er verfügte über eine eigene Webseite, und bei Bedarf konnte er Besprechungsräume im Bürocenter stundenweise buchen. Tatsächlich kam es aber nur sehr selten zu persönlichen Treffen mit Mandanten, da der Anwalt in seinem Fachgebiet (Umweltrecht) überwiegend beratend tätig war.

Reaktion der RAK: Die Rechtsanwaltskammer Berlin hielt dieses Konstrukt jedoch für unzureichend. Ihrer Auffassung nach muss ein niedergelassener Anwalt eigene Räumlichkeiten als Kanzlei dauerhaft bereithalten, weil dies für den Kanzleibegriff in § 27 BRAO essenziell sei. Sie erteilte dem Anwalt daher eine missbilligende Belehrung (eine berufsrechtliche Maßnahme) und forderte ihn auf, den Nachweis zu erbringen, dass er über „eigene (bestimmte) Kanzleiräumlichkeiten“ verfügt. Diese behördliche Aufforderung stellte einen Verwaltungsakt dar, gegen den der Anwalt den Anwaltsgerichtshof (AGH) Berlin anrief.

Entscheidung des AGH Berlin: Der AGH Berlin gab dem Anwalt zunächst Recht und hob die Belehrung der Kammer auf. Nach Auffassung des AGH erfüllte das vom Kläger vorgehaltene Bürocenter-Arrangement sehr wohl die Anforderungen einer Kanzlei im Sinne des § 27 BRAO. Der Begriff „Kanzlei“ sei nicht statisch, sondern müsse im jeweiligen gesellschaftlichen und technischen Kontext betrachtet werden. In einer digitalisierten Gesellschaft komme es auf ein modernes, technikoffenes Begriffsverständnis an, dem die Vorkehrungen des Klägers entsprächen. Insbesondere sei es nicht erforderlich, dass ein Anwalt sich überwiegend in eigenen Kanzleiräumen aufhalte – gerade wenn er (wie hier) zugleich Syndikusrechtsanwalt ist. Auch gehe die BRAO selbst nicht von einer ständigen Anwesenheit an einem Ort aus; ein Rechtsanwalt dürfe Zweigstellen und mehrere Kanzleisitze unterhalten. Entscheidend sei, dass der Anwalt für das rechtssuchende Publikum ausreichend erreichbar ist, was im vorliegenden Fall durch Telefon, E-Mail und nach Bedarf buchbare Besprechungsräume gewährleistet gewesen sei.

Die RAK Berlin akzeptierte dieses erstinstanzliche Urteil jedoch nicht und verfolgte die Sache in Berufung vor dem BGH (Senat für Anwaltssachen) weiter. Der AGH hatte die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

BGH-Urteil: Fester Raum statt virtueller Kanzlei

Der BGH hat nun in zweiter Instanz der Rechtsanwaltskammer Recht gegeben und das Urteil des AGH Berlin aufgehoben; die Klage des Anwalts wurde abgewiesen. Nach dem Tenor der Entscheidung erfüllt das Konzept der „virtuellen Kanzlei“ bzw. eines bloßen Büroservice nicht die Anforderungen des § 27 BRAO. Selbst die dauerhaft vorhandene Möglichkeit, an einer bestimmten Adresse bei Bedarf jederzeit einen Besprechungsraum zu mieten, genüge nicht – ein über die Anwaltszulassung verfügenden Rechtsanwalt muss vielmehr einen festen Raum nachweisen können, in dem er jederzeit für Mandanten zur Verfügung steht. Dies gilt laut BGH selbst dann, wenn der Anwalt diesen Raum in der Praxis kaum nutzt.

Die schriftlichen Urteilsgründe lagen unmittelbar nach Verkündung noch nicht vor. Dennoch lässt der Ausgang – die Aufhebung des AGH-Urteils – die strikte Linie des BGH deutlich erkennen. Der Anwaltssenat positioniert sich klar gegen neue Arbeitsmodelle: Weder eine vollkommen virtuelle Kanzlei ohne physische Präsenz noch eine Lösung mit bloß buchbaren Räumen bei Bedarf entspricht dem Kanzleierfordernis. Wer als Rechtsanwalt zugelassen ist, muss einen dauerhaft vorhandenen Kanzleiraum unterhalten. Damit hat der BGH eine restriktive Auslegung des § 27 BRAO gewählt und die eher flexible Sichtweise des AGH Berlin verworfen.

Zur Begründung wird im Urteil voraussichtlich auf den gesetzlichen Kanzleibegriff abgestellt. Das Gesetz selbst formuliert in § 27 Abs. 1 BRAO nur allgemein, dass jeder Rechtsanwalt „im Bezirk der Rechtsanwaltskammer, deren Mitglied er ist, eine Kanzlei einrichten und unterhalten“ muss. Was aber genau unter einer „Kanzlei“ zu verstehen ist, war bisher umstritten. Nach ständiger Interpretation umfasst der Kanzleibegriff mindestens einen festen Raum, in dem der Anwalt gewöhnlich seinen Berufsgeschäften nachgeht und zu den üblichen Geschäftszeiten normalerweise erreichbar ist. Die Kanzlei ist traditionell als örtlich fest verankerter Mittelpunkt der anwaltlichen Tätigkeit konzipiert, mit einem deutlich erkennbaren Kanzleischild und Erreichbarkeit während üblicher Zeiten. Primärer Zweck dieser Pflicht ist es, der Rechtsuchenden einen verlässlichen Anlaufpunkt zu bieten und zugleich Gerichten sowie Behörden zu ermöglichen, Zustellungen und Mitteilungen rechtssicher an den Anwalt richten zu können.

Der BGH knüpft mit seiner aktuellen Entscheidung an diese traditionelle Sicht an. Die Richter stellen offensichtlich auf die räumliche Präsenz als notwendiges Mindestmaß an Kommunikation und Erreichbarkeit ab. Ein nur gelegentlich genutzter Besprechungsraum im Fremdobjekt erfüllt dieses Kriterium nicht, da es an einem eigenen, ständig vorgehaltenen Büro fehlt. Damit wird die Kanzleipflicht in ihrer klassischen Ausprägung bestätigt.

Praxisrelevante Grundlagen und Pflichten

Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte bedeutet das BGH-Urteil, dass die Kanzleipflicht des § 27 BRAO strikt einzuhalten ist. Verstöße hiergegen sind keineswegs bloße Formalien, sondern können berufsrechtliche Sanktionen bis hin zum Widerruf der Zulassung nach sich ziehen. So sieht § 14 Abs. 3 Nr. 4 BRAO ausdrücklich vor, dass die Anwaltszulassung widerrufen werden kann, wenn ein Anwalt seine Kanzlei aufgibt, ohne von der Kanzleipflicht befreit zu sein. Alle Anwälte sollten daher ihre Büro-Situation daraufhin überprüfen, ob sie den Anforderungen genüge tut.

Wesentliche Rechtsgrundlagen im Überblick:

  • § 27 BRAO (Kanzleipflicht): Verpflichtet jede*n Rechtsanwalt/Anwältin, im Kammerbezirk eine Kanzlei einzurichten und zu unterhalten. Diese Pflicht kann in Ausnahmefällen per Antrag gem. §§ 29, 29a BRAO aufgehoben werden (z.B. bei Kanzleisitz im Ausland oder bei besonderen Härtegründen), was jedoch in der Praxis sehr selten gewährt wird.
  • § 5 BORA (Berufsordnung): Ergänzt die BRAO und verlangt, dass in Kanzlei und ggf. Zweigstelle die für die Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen vorgehalten werden. Das impliziert insbesondere eine erreichbare Büroadresse mit adäquater Ausstattung (Telefon, Briefkasten, etc.).
  • BGH-Rechtsprechung zum Kanzleibegriff: Schon vor der aktuellen Entscheidung hatte der BGH betont, dass eine Kanzlei ein physischer Anlaufpunkt sein muss. Etwa wurde formuliert, ein Anwalt brauche „einen oder mehrere Räume“, in denen er zu gewöhnlichen Zeiten erreichbar ist, und ein eindeutig gekennzeichnetes Büro (Kanzleischild) für eine geordnete Amtsausübung. Diese Linie wird nun fortgeführt und verschärft.
  • Frühere Verfassungsrechtliche Bewertung: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1986 entschieden, dass die Kanzleipflicht und ihre traditionellen Anforderungen (wie Kanzleischild, Büropräsenz) im Grundsatz verhältnismäßig und zumutbar sind. Auch wenn sich seitdem die Kommunikationsmöglichkeiten drastisch gewandelt haben, ist die Regelung bislang als verfassungsgemäß anerkannt. Gleichwohl wird man die aktuellen Entwicklungen vor dem Hintergrund von Art. 12 GG (Berufsfreiheit) beobachten müssen.

Handlungsempfehlungen für die anwaltliche Praxis

Angesichts des BGH-Urteils sollten alle zugelassenen Anwälte folgende Punkte beachten, um berufsrechtlich auf der sicheren Seite zu sein:

  • Eigene Kanzleiräume sicherstellen: Stellen Sie unbedingt sicher, dass Sie über zumindest einen festen Kanzleiraum verfügen, der Ihrer Hauptkanzlei entspricht. Ein bloß virtuelles Büro oder ein c/o-Adressservice reicht nicht aus. Dies kann auch ein häusliches Arbeitszimmer sein („Wohnzimmerkanzlei“), sofern es tatsächlich als Kanzleisitz angemeldet und für Mandantenkontakte geeignet ist. Wichtig ist, dass Sie dort jederzeit mandantenbereit sein könnten.
  • Bürogemeinschaften und Untermiete nutzen: Falls Sie keine eigene Kanzlei unterhalten wollen oder können, ist es ratsam, sich z.B. in eine Bürogemeinschaft einzumieten oder Büroräume bei Kolleginnen zu unterhalten. Entscheidend ist, dass Sie einen bestimmten Raum dauerhaft zu Ihrer Verfügung haben – sei es auch zur geteilten Nutzung – und nicht nur gelegentlich anwesend sind. Achten Sie darauf, dass an diesem Standort Ihr Kanzleischild* angebracht ist und Post zuverlässig empfangen werden kann.
  • Co-Working nur mit festem Büro: Die Nutzung von Co-Working-Spaces ist für Anwälte nicht generell ausgeschlossen, aber sie muss so gestaltet sein, dass ein fester Arbeitsplatz/Büroraum zur exklusiven Nutzung vorhanden ist. Ein Modell, bei dem man lediglich stundenweise Besprechungsräume bucht oder „Hot Desks“ nach Verfügbarkeit nutzt, genügt nicht den Kanzleipflicht-Vorgaben. Klären Sie im Zweifel mit dem Anbieter, ob eine feste Raumlösung (z.B. abschließbares Büro oder dauerhaft zugewiesener Desk) möglich ist.
  • Zulassung als Syndikusrechtsanwalt: Wer – wie im entschiedenen Fall – nebenberuflich als Syndikusrechtsanwalt arbeitet, darf die Kanzleipflicht nicht vernachlässigen. Auch Syndizi mit Doppelzulassung brauchen für den Bereich der freien Anwaltschaft einen eigenen Kanzleisitz. Der Arbeitsplatz beim Arbeitgeber allein zählt nicht als Kanzlei im Sinne der BRAO, da er nicht frei dem Publikumsverkehr zugänglich ist. Planen Sie also als Syndikus mit Nebentätigkeit frühzeitig, wo Ihre persönliche Kanzlei eingerichtet wird.
  • Erreichbarkeit sicherstellen: Unabhängig von der räumlichen Komponente müssen Sie gewährleisten, dass Sie während üblicher Geschäftszeiten tatsächlich erreichbar sind – sei es persönlich, telefonisch oder elektronisch. Richten Sie ggf. eine Rufumleitung oder Sekretariatsservice ein, wenn Sie selbst nicht ständig vor Ort sein können. Wichtig ist, dass Mandanten, Gerichte und Behörden verlässlich Kontakt mit Ihnen aufnehmen und Dokumente zustellen können.
  • Kammerinformationen beachten: Die Rechtsanwaltskammern bieten Merkblätter und Hinweise zur Kanzleipflicht und möglichen Befreiungen (z.B. bei Auslandsbezug oder Härtefällen). Informieren Sie sich bei Ihrer Kammer, falls Sie glauben, einen Ausnahmefall zu erfüllen. Beachten Sie jedoch, dass Befreiungen sehr restriktiv gehandhabt werden und im Interesse der Rechtspflege kaum erteilt werden. Im Zweifel gilt: Lieber die Kanzlei den Vorgaben anpassen als auf eine Ausnahme zu hoffen.

Ausblick

Der BGH hat mit dem Urteil vom 1.12.2025 unmissverständlich klargestellt, dass die klassischen Anforderungen an den Kanzleisitz weiterhin gelten. Anwältinnen und Anwälte tun gut daran, diese Vorgaben ernst zu nehmen und ihre berufliche Infrastruktur entsprechend auszurichten. Ein Verstöße gegen die Kanzleipflicht können nicht nur zu Rügen durch die Kammer führen, sondern im Extremfall die eigene Zulassung gefährden.

Gleichzeitig zeigt der Fall aber auch, dass die Digitalisierung und veränderte Arbeitsformen einen Anpassungsdruck erzeugen. Der AGH Berlin hatte ein modernes Verständnis der Kanzlei vertreten und primär auf die Erreichbarkeit des Anwalts abgestellt – ein Ansatz, den viele Praktiker begrüßen würden. In der Tat erscheint es im Jahr 2025 aus Sicht mancher Beobachter nicht mehr zeitgemäß, Anwälten starre Raumvorgaben zu machen, solange die Kommunikation mit Mandanten reibungslos funktioniert. Insbesondere bei rein beratender Tätigkeit oder bei Nebenkanzleien von Syndikusrechtsanwälten wird der Mehrwert eines kaum genutzten „Showroom“-Büros bezweifelt. Kritiker verweisen darauf, dass auch die vielfach praktizierte Wohnzimmerkanzlei (Kanzleisitz in der Privatwohnung) nicht unbedingt im Mandanteninteresse liege, aber dennoch zulässig ist. Ein professionell ausgestatteter Besprechungsraum in einem Business Center könnte im Einzelfall sogar praktischer sein als das heimische Wohnzimmer.

Der BGH sieht jedoch den Gesetzgeber am Zug, um auf solche Entwicklungen zu reagieren. Nachdem nun die Entscheidungsgründe ausgewertet werden, könnte politisch geprüft werden, ob § 27 BRAO präzisiert oder modernisiert werden sollte. Bis dahin gilt jedoch: Die aktuelle Rechtslage verpflichtet jede Anwältin und jeden Anwalt, eine „echte“ Kanzlei vorzuhalten – und daran lässt das neue Urteil keinen Zweifel. Kolleginnen und Kollegen sollten diese Vorgabe daher in ihrer Praxis umsetzen, um berufsrechtliche Konflikte zu vermeiden, und die weitere Entwicklung der Regelung aufmerksam verfolgen.