KI-basierte Gesichtserkennung im Strafverfahren: Pflichtverteidiger erforderlich

03. Dezember 2025 -

In einem aktuellen Beschluss vom 24. Mai 2025 hat das Amtsgericht Reutlingen in einem Strafverfahren, bei dem der Tatverdacht fast ausschließlich auf einer polizeilichen Gesichtserkennungssoftware beruhte, die Bestellung eines Pflichtverteidigers angeordnet. Das Gericht befand die Lage für „schwierig“ (§ 140 Abs. 2 StPO): Die eingesetzte KI-Software sei „unklar“ und in ihrem Beweiswert fraglich, so dass eine sachgerechte Verteidigung ohne fachkundigen Anwalt ausgeschlossen sei. Mit zahlreichen offenen Fragen zur Funktionsweise und Zulässigkeit der algorithmischen Identifizierung komme eine Selbstvertretung nicht in Betracht.

Sachverhalt und Ausgangslage

  • Automatisierte Beweiserhebung: Grundlage des Tatverdachts war fast ausschließlich ein Überwachungsvideo, das die Polizei mit einer Gesichtserkennungssoftware ausgewertet hatte. Der Angeklagte schwieg zu den Vorwürfen.
  • Intransparente Technik: Details zur Software fehlten völlig: Weder der Algorithmus noch die verwendete Datenbank oder Qualitätskriterien waren dokumentiert. In der Akte fand sich nur ein knapper Polizeivermerk, der das Ergebnis explizit als „Ermittlungsunterstützung“, nicht aber als belastbaren Befund bezeichnete.
  • Staatsanwaltschaft und Risiko: Trotz dieser erheblichen Unsicherheiten ging die Staatsanwaltschaft von einem hinreichenden Tatverdacht aus. Zudem war der Beschuldigte vorbestraft und befand sich noch in einer Bewährungszeit. Eine Verurteilung hätte daher mehrere Bewährungswiderrufe (§ 56f StGB) zur Folge haben können.

Schwierige Sach- und Rechtslage: Beweisschwierigkeiten und Wiedererkennung

Das Gericht beurteilt den Fall als „schwierig“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO. Insbesondere stütze sich der Verdacht „nahezu ausschließlich“ auf die technisch nicht nachprüfbare Gesichtserkennungssoftware. Da Software-Details und Datenbasis unbekannt sind, sei ihr Wert als Beweismittel „fraglich“, eine Verwertung der Ergebnisse daher „zweifelhaft“. Allein diese Intransparenz hebe die Schwelle, ab der ein Verteidiger erforderlich ist. Die Einstufung des Resultats als bloße „Ermittlungsunterstützung“ reiche schon für einen Anfangsverdacht nicht aus.

Zudem stellte das Gericht klar, dass auch bei einer richterlichen Wiedererkennung strenge Maßstäbe gelten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf ein Richter einen Verdächtigen im Videobild nur dann identifizieren, wenn er objektive Prüfkriterien anlegt und im Urteil offenlegt. Dabei sind etwa Bildqualität, Sichtverhältnisse, Distanz zum Motiv, Beobachtungsdauer, Zeitpunkt der Wahrnehmung und mögliche Suggestionen zu beachten. Die bloße „eigene Anschauung“ ohne solche Analyse genügt nicht. In der Regel sei daher für eine belastbare Gesichtsidentifizierung ein anthropologisches Sachverständigengutachten einzuholen. Lehne das Gericht dies ab, müsse es dies besonders sorgfältig begründen, andernfalls drohe eine verbotene Verkürzung des Beweismaßstabs.

Pflichtverteidigung nach § 140 StPO

Nach § 140 Abs. 2 StPO gehört ein Pflichtverteidiger zwingend dann hinzu, wenn „wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint“. Das AG Reutlingen hat dies bejaht, weil gerade die unklare KI-Technik und die zahlreichen rechtlichen Fragestellungen den Fall hochkomplex machten. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde daraufhin eine Pflichtverteidigung nach §§ 140 Abs. 2, 142 StPO angeordnet.

Praktische Lehre: Dieses Urteil verdeutlicht, dass Fälle mit automatisierter Gesichtserkennung im Strafprozess besondere Herausforderungen bergen. Ist der Tatverdacht fast ausschließlich algorithmisch ermittelt, überschreiten die Verwertungsunsicherheiten die Grenze dessen, was ein nicht spezialisierter Angeklagter noch ohne rechtlichen Beistand überblicken kann. Der Einsatz eines fachkundigen Strafverteidigers ist hier – mehr denn je – unabdingbar.

Rechtlicher Rahmen und Reformbedarf

Aktuell fehlt eine klare gesetzliche Grundlage für polizeiliche KI-Gesichtserkennung in Strafverfahren. Die StPO enthält bislang keine eigens geregelte Ermächtigungsnorm für solche biometrischen Fernidentifizierungsmethoden. Weder die allgemeinen Generalklauseln (§§ 161, 163 StPO) noch die Vorschrift zur ED-Beweisaufnahme (§ 98c StPO) sind darauf zugeschnitten. Selbst ein 2024 vorgesehener Entwurf für einen neuen § 98d StPO (nachträglicher Abgleich von Bild- und Stimmmerkmalen) sah zwar Einschränkungen vor (Verbot von Echtzeit-Identifikation, nur schwere Straftaten), erfüllte jedoch nach Expertenansicht nicht alle verfassungs- und datenschutzrechtlichen Anforderungen. In der Datenschutz-Grundverordnung und dem BDSG sind Gesichtsdaten als hochsensibel eingestuft: Nach § 48 BDSG (Umsetzung von Art. 10 RL 2016/680) darf biometrische Identifikation nur erfolgen, wenn sie für den Ermittlungserfolg „unbedingt notwendig“ ist und konkrete Schutzmaßnahmen vorliegen. § 54 BDSG verbietet außerdem Entscheidungen, die “allein durch eine Maschine“ ohne menschliche Kontrolle gefällt werden – was nach Auffassung mancher Kommentatoren schon die Annahme eines Tatverdachts durch eine KI erfassen könnte. Auch die neue EU‑KI-Verordnung stellt bei der biometrischen Echtzeit-Fernidentifizierung hohe Hürden (grundsätzlich Verbot, Ausnahmen nur für sehr schwere Straftaten unter strikten Auflagen).

Konsequenzen für den Beschuldigten – Praxistipps

Die Entscheidung des AG Reutlingen ist ein Weckruf für alle, die mit KI-indizierten Tatvorwürfen konfrontiert sind:

  • Pflichtverteidiger konsequent einfordern. In Fällen der oben beschriebenen Komplexität darf ein Angeklagter sich nicht allein verteidigen. Gleich nach Anklageerhebung sollte ein Fachanwalt für Strafrecht hinzugezogen bzw. ein Pflichtverteidiger beantragt werden.
  • Umfassende Akteneinsicht und Aufklärung verlangen. Fordern Sie konkret Auskunft über den verwendeten Algorithmus, die Trainings- und Vergleichsdaten sowie über die eingesetzten Qualitätsstandards. Nur so lässt sich die Zuverlässigkeit der automatischen Identifizierung prüfen.
  • Sachverständige heranziehen. Lassen Sie, sofern Videoaufnahmen eine Rolle spielen, die Identifizierung durch unabhängige Experten (z.B. Anthropologen oder forensische Bildanalysten) untersuchen, wie es das Gericht nahegelegt hat.
  • Bewährungsrisiken beachten. Stimmen Sie die Verteidigungsstrategie mit dem Anwalt auch darauf ab, dass eine Verurteilung im Bewährungsfall gravierende Konsequenzen (Widerruf der Bewährung) haben kann.
  • Gesetzeslage im Blick behalten. Weil der rechtliche Rahmen derzeit unzureichend ist, sollten Verteidigung und Mandant sich bewusst machen, dass die Zulässigkeit der Gesichtserkennung selbst rechtlich angegriffen werden kann. Hinweis: Gerichte betrachten automatische Tatverdachtsannahmen vorsichtig.

Der Beschluss des AG Reutlingen zeigt, dass Strafverfahren mit KI-gestützter Beweisführung „zu komplex für einen unverteidigten Angeklagten“ sind. Mandanten sollten daher in solchen Fällen frühzeitig spezialisierten Rechtsrat einholen und keine Selbstvertretung versuchen. Nur so lässt sich sicherstellen, dass alle technischen und rechtlichen Fragen umfassend geprüft und verteidigt werden können.

Quellen: AG Reutlingen, Beschluss v. 24.05.2025 – 5 Ds 29 Js 1276/25