Erstanwalt haftet trotz Vergleich – Mitverschulden bei Fehlern des Zweitanwalts

09. Dezember 2025 -

Urteil: OLG München, Endurteil vom 11.11.2025 – 9 U 863/25

Hintergrund: Erstanwalt bringt Bauprozess in Schieflage

Eine Mandantin hatte in diesem Fall gleich zweimal Pech mit ihren Anwälten: Der erste Anwalt manövrierte einen an sich erfolgversprechenden Bauprozess in eine prozessuale Schieflage. Trotz eines selbständigen Beweisverfahrens mit bestätigten Baumängeln trug er im Hauptprozess nicht ausreichend substantiiert vor, ignorierte gerichtliche Hinweise und reichte eine verspätete, handschriftliche Replik ein. Als das Gericht im Verhandlungstermin auf die Unschlüssigkeit der Klage hinwies, schied der erste Anwalt bereits aus; sein Nachfolger hatte das Mandat kurz zuvor übernommen. Unter dem Eindruck der drohenden Klageabweisung schloss die Mandantin einen Vergleich, der ihr lediglich 3.000 € (statt der eingeklagten ~19.000 €) einbrachte – bei Verzicht auf den Rest.

Die Mandantin forderte anschließend vom ersten Anwalt Schadensersatz in Höhe der Differenz zwischen ihrer ursprünglichen Forderung und dem Vergleichsbetrag (ca. 15.900 €). Das Landgericht München I wies die Klage mangels Nachweis des erfolgreichen Prozessausgangs ab. In der Berufung vor dem OLG München hatte sie jedoch teilweise Erfolg: Der erste Anwalt wurde zur Zahlung von 5.303,21 € verurteilt, was etwa einem Drittel des geltend gemachten Schadens entspricht.

Haftung des Erstanwalts trotz nachträglichem Vergleich

Das OLG bejahte eindeutig eine anwaltliche Pflichtverletzung des Erstanwalts. Dieser habe den Bauprozess „mangelhaft geführt, Hinweise des Gerichts übergangen und entscheidenden Sachvortrag verspätet oder unzureichend eingebracht“. Wäre der Prozess von Anfang an ordnungsgemäß betrieben worden, hätte die Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolg gehabt.

Entscheidend war, dass der später geschlossene, „der Höhe nach unangemessene“ Vergleich den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht. Die Mandantin schloss den Vergleich gerade in der (vom Erstanwalt verschuldeten) Notlage, um eine drohende Klageabweisung zu verhindern. Der Vergleich stellte somit keine neue, unabhängige Schadensursache dar, sondern war Konsequenz der Ausgangslage, die der erste Anwalt durch seine Versäumnisse geschaffen hatte. Bildlich gesprochen fungierte der Vergleich als „Notbremse“ für ein bereits erheblich geschwächtes Verfahren.

Merksatz: Ein Anwalt, der einen Prozess „in den Sand setzt“, bleibt haftbar – selbst wenn ein späterer Vertreter den Schaden durch einen vorschnellen Vergleich vergrößert. Zugleich greift die Schadensminderungspflicht: Versäumnisse des Nachfolgeanwalts können den Anspruch des Mandanten nach § 254 BGB mindern.

Mit anderen Worten: Der erste Anwalt konnte sich nicht darauf berufen, der ungünstige Vergleich habe den Schaden allein verursacht. Seine Haftung blieb dem Grunde nach bestehen, weil ohne seine Fehler die Mandantin gar nicht erst in die schlechte Vergleichsposition geraten wäre. Allerdings war zu prüfen, inwieweit das Verhalten des zweiten Anwalts den Schadensumfang reduzierte (Stichwort: Mitverschulden).

Schadensminderungspflicht: Mitverschulden bei Fehlern des Zweitanwalts

Der zweite Anwalt – der nach Ausscheiden des ersten das Mandat übernahm – hatte eigene Versäumnisse, die den Schaden der Mandantin vergrößerten. Laut OLG hätte der Zweitanwalt mehrere prozessuale Rettungsanker nutzen können, um die Klage doch noch zum Erfolg zu führen, statt einen vorschnellen Vergleich abzuschließen. Im Mittelpunkt stand dabei die sogenannte „Flucht in die Säumnis“:

  • Flucht in die Säumnis: Das Gericht monierte ausdrücklich, dass der neue Anwalt es unterließ, durch Nichtverhandeln im Termin ein Versäumnisurteil zu provozieren, um danach Einspruch einzulegen. Warum dieses Manöver? Durch einen Einspruch wäre der Prozess in den Stand vor der Säumnis zurückversetzt worden (§ 342 ZPO). In der Einspruchsfrist hätte der Anwalt den bislang fehlenden Sachvortrag nachholen und die Klage schlüssig machen können – ohne an die strengen Präklusionsvorschriften gebunden zu sein. Die Rechtsprechung erkennt die Flucht in die Säumnis als legitime Strategie an, um Versäumnisse bei der Klageführung auszubügeln – im Einzelfall sogar gegen den Willen der Partei. Der Anwalt darf und muss also unter Umständen auch gegen den Wunsch des Mandanten in die Säumnis gehen, wenn dies die letzte Möglichkeit ist, einen ansonsten aussichtslosen Prozess zu retten.
  • Klagerücknahme und Neuerhebung: Alternativ hätte der Zweitanwalt in Betracht ziehen müssen, die Klage zurückzunehmen und danach neu einzureichen. Dies bot sich insbesondere an, weil es sich um eine werthaltige und grundsätzlich durchsetzbare Forderung handelte und keine Verjährung drohte. Zwar hätte eine Klagerücknahme Kosten verursacht (Gerichts- und Anwaltskosten im vierstelligen Bereich), doch wäre die Mandantin dadurch in der Lage gewesen, ihren vollen Anspruch erneut geltend zu machen – anstatt im Vergleich über 80 % der Forderung preiszugeben.

Der Zweitanwalt hat keine dieser Möglichkeiten ausgeschöpft und stattdessen den für die Mandantin ungünstigsten Weg – den weitgehenden Forderungsverzicht im Vergleich – gewählt. Darin sah das Gericht ein erhebliches Mitverschulden auf Seiten der Mandantin, zurechenbar nach § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB i.V.m. § 278 BGB. Denn die Mandantin hatte sich des zweiten Anwalts bedient, um den Schaden durch den ersten Anwalt abzuwenden; insoweit fungierte der Zweitanwalt als „Erfüllungsgehilfe“ in Rahmen der Schadensminderungspflicht. Sein Verschulden wurde der Mandantin zugerechnet, sodass ihr Ersatzanspruch gegen den ersten Anwalt gekürzt wurde.

Konkret schätzte das OLG die Haftungsquote auf 1/3 zu 2/3: Der erste Anwalt haftet für ein Drittel des entstandenen Schadens, die restlichen zwei Drittel verbleiben bei der Mandantin (als Folge des mitzurechnenden Verschuldens des Zweitanwalts). Einen vollständigen Haftungsausschluss des ersten Anwalts lehnte der Senat ab, da die ursprüngliche Schieflage des Prozesses maßgeblich auf dessen Versäumnisse zurückzuführen war.

Praxistipps für Anwälte

Für die anwaltliche Praxis – gerade im Bereich der Anwaltshaftung – lassen sich aus diesem Urteil mehrere wichtige Lehren ziehen:

  • Sorgfalt des Erstanwalts: Offensichtliches Grundprinzip, aber essenziell: Anwälte müssen Klagen von Anfang an schlüssig und vollständig vorbereiten. Gerichtliche Hinweise dürfen nicht ignoriert werden; Fristen und Substantiierungspflichten sind strikt einzuhalten. Andernfalls drohen nicht nur Prozessniederlagen, sondern auch Regressforderungen der Mandanten.
  • Vergleich schließt Haftung nicht aus: Ein nachträglicher Vergleich des Mandanten mit der Gegenseite schützt den früheren Anwalt nicht automatisch vor Haftung. Ist der Mandant nur wegen anwaltlicher Fehler gezwungen, einen ungünstigen Vergleich zu schließen, bleibt der Kausalzusammenhang zur Pflichtverletzung bestehen. Tipp: Als Anwalt können Sie sich im Regressprozess nicht darauf zurückziehen, der Mandant habe ja „freiwillig“ verglichen – wenn dieser Vergleich „in höchster Not“ erfolgte, um größeren Schaden abzuwenden.
  • Schadensminderungspflicht ernst nehmen: Übernehmen Sie als Zweitanwalt ein bereits angeschlagenes Mandat, müssen Sie alle zumutbaren Schritte ausschöpfen, um den Schaden für den Mandanten zu begrenzen. Dazu gehören auch ungewöhnliche prozessuale Maßnahmen wie die Flucht in die Säumnis oder gegebenenfalls eine Klagerücknahme mit Neuerehebung, sofern diese strategisch sinnvoll sind. Unterlassen Sie machbare Rettungsmaßnahmen, riskieren Sie nicht nur eigene Haftung, sondern schwächen auch den Regressanspruch des Mandanten gegen den Erstanwalt.
  • Flucht in die Säumnis abwägen: Die Flucht in die Säumnis ist mit Risiken (Versäumniskosten, keine Garantie vollständiger Berücksichtigung neuen Vorbringens) behaftet. Doch in Ausnahmesituationen kann sie geboten sein, um Präklusionsfallen zu umgehen. Der BGH und Instanzgerichte haben anerkannt, dass ein Anwalt ohne besondere Weisung des Mandanten in die Säumnis gehen darf und mitunter sogar muss, wenn andernfalls ein endgültiger Rechtsverlust droht. Praxistipp: Besprechen Sie diese Option mit der Mandantschaft frühzeitig. Sollte der Mandant sich weigern, aber die Lage es erfordern, darf der Anwalt im Zweifel auch eigenverantwortlich das Vorgehen wählen, das die materiellen Interessen des Mandanten am besten wahrt.
  • Vergleich sorgfältig prüfen: Ein Vergleich sollte immer im Lichte der materiellen Rechtsposition und Alternativen bewertet werden. Im vorliegenden Fall kritisierte das OLG, dass der ausgehandelte Vergleich über 80 % der berechtigten Forderung aufgab – ohne ausreichende Notwendigkeit. Merke: Ein Anwalt, der seinem Mandanten zu einem derart ungünstigen Vergleich rät, obwohl prozedurale oder taktische Alternativen verfügbar sind, verletzt womöglich seine Pflichten. Lieber Verfahren fortführen oder neu starten, solange realistische Erfolgsaussichten bestehen, anstatt vorschnell Ansprüche preiszugeben.

Dieses Urteil erinnert daran, dass bei der Anwaltshaftung alle Beteiligten in die Pflicht genommen werden: Der erste Anwalt haftet für seine Fehler trotz eines späteren Vergleichs, aber der zweite Anwalt muss im Rahmen der Schadensminderung alles Zumutbare tun, um Schlimmeres zu verhindern – andernfalls mindert sein Versäumnis den Ersatzanspruch. Rechtsanwälte sollten daraus den dringenden Rat mitnehmen, in schwierigem Fahrwasser alle prozessualen Register zu ziehen und im Zweifel auch ungewöhnliche Wege (wie die Flucht in die Säumnis) nicht zu scheuen, um die Interessen ihrer Mandanten bestmöglich zu wahren. So lässt sich Haftungsrisiken vorbeugen – und Mandanten behalten die optimale Chance, zu ihrem Recht zu kommen.