BAG-Urteil: Betriebsratsmitglied, Vergütung und fiktive Beförderung

20. Dezember 2025 -

Hintergrund: Keine Benachteiligung und kein Bonus für Betriebsräte

Betriebsratsmitglieder sollen im Job weder benachteiligt noch bevorzugt werden. So schreibt es § 78 Satz 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vor. Benachteiligungsverbot bedeutet: Ein Betriebsrat darf wegen seines Amtes keine Nachteile in Karriere oder Gehalt erleiden. Genauso untersagt das Begünstigungsverbot, ihnen nur wegen der Betriebsratsarbeit Sondervorteile zu verschaffen. Das Betriebsratsamt ist ein Ehrenamt (§ 37 Abs. 1 BetrVG) – dadurch darf der Arbeitgeber an sich weder positiv noch negativ entscheiden. Gleichzeitig garantiert § 37 Abs. 4 BetrVG freigestellten Betriebsratsmitgliedern mindestens die übliche Gehaltsentwicklung ihrer vergleichbaren Kollegen, damit ihr Gehalt während der Amtszeit nicht zurückbleibt.

Praxisproblem: Viele Arbeitgeber erhöhten in der Vergangenheit aus Vorsicht oder Kulanz die Löhne von freigestellten Betriebsräten stärker als bei anderen Mitarbeitern. Doch spätestens seit einem vielbeachteten BGH-Urteil von 2023 (Az. 6 StR 133/22) ist klar: Überzogene Gehaltszuwendungen können als Untreue strafbar sein. Daraufhin korrigierten manche Unternehmen die Vergütung von Betriebsräten nach unten Betriebsräte wehrten sich gerichtlich – und die Politik reagierte mit einer gesetzlichen Klarstellung im Juli 2025. In diesem Spannungsfeld hat nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 13.08.2025 (Az. 7 AZR 174/24) in einem Grundsatzurteil Leitlinien gesetzt.

Fiktive Beförderung: Anspruch auf hypothetische Karriere

Ein zentrales Thema des Urteils ist die „fiktive Beförderung“ (auch hypothetische Karriere genannt). Dahinter steckt die Frage: Hätte das Betriebsratsmitglied ohne sein Amt eine höher dotierte Position erreicht? Wenn ja, kann eine zu niedrige Vergütung eine verbotene Benachteiligung sein. In solchen Fällen kann der Betriebsrat verlangen, so bezahlt zu werden, als wäre er in diese Position aufgestiegen. Wichtig: Dieser Anspruch greift nur, wenn konkret feststeht, dass der Aufstieg ohne die Amtszeit erfolgt wäre. Es reicht nicht, dass es bloß „möglich“ oder „wahrscheinlich“ gewesen wäre – die Karrierechance muss greifbar sein (z.B. tatsächliche Bewerbung auf eine Stelle).

Beispiel aus dem Fall: Ein freigestellter Betriebsratsvorsitzender bewarb sich intern auf eine Abteilungsleiterstelle. Laut eigener Aussage wurde ihm die Stelle sogar zugesagt, doch er lehnte ab, um weiterhin dem Betriebsrat vorzustehen. Nach Ende seiner Amtszeit verdiente er weniger als die Abteilungsleiterposition. Hier prüfte das BAG, ob ihm rückwirkend die höhere Vergütung zusteht. Die Kernfrage dabei: War er qualifiziert genug für den Job, und durfte man seine während der Betriebsratsarbeit erworbenen Qualifikationen berücksichtigen?

BAG-Urteil: Qualifikationen aus Betriebsratsarbeit zählen

Das BAG stellte klar: Kenntnisse und Fähigkeiten, die ein Arbeitnehmer durch die Betriebsratsarbeit erwirbt, dürfen bei Beförderungsentscheidungen berücksichtigt werden, sofern sie für die angestrebte Stelle relevant sind. Darin liege keine unzulässige Begünstigung, sondern eine zulässige Honorierung von Weiterbildung und Qualifikation. Mit anderen Worten: Erwirbt ein Betriebsrat durch sein Amt wertvolle Fähigkeiten – etwa in Personalplanung, Arbeitsrecht oder Verhandlungstechnik – die auch außerhalb des Betriebsratsamts für höhere Positionen nützlich sind, dürfen diese wie eine Fortbildung gewertet werden. Das ist keine „Bezahlung für Betriebsratsarbeit“, sondern anerkennt den persönlichen Kompetenzzuwachs.

Diese Sichtweise verletzt weder § 78 BetrVG noch das Ehrenamtsprinzip. Entscheidend ist, dass die Berücksichtigung an fachlichen Anforderungen der Stelle anknüpft – nicht an der Funktion als Betriebsrat selbst. Der Gesetzgeber hat dies inzwischen ausdrücklich in § 78 Satz 3 BetrVG festgeschrieben: Ein Gehaltsanstieg ist unbedenklich, wenn das Betriebsratsmitglied für eine konkrete Stelle alle erforderlichen Kriterien erfüllt (fachlich und persönlich), auch unter Einbeziehung der im Amt erworbenen Qualifikationen, und die Entscheidung nicht ermessensfehlerhaft war. Solche erworbenen Fähigkeiten sind Ergebnis eines individuellen Lernprozesses und nicht automatisch durch das Betriebsratsamt vorgegeben. Nicht zulässig wäre es allerdings, reine Amtsaspekte als Qualifikation zu werten – etwa die Tatsache, dass jemand als Betriebsrat mit der Geschäftsführung „auf Augenhöhe verhandelt“ oder in interne Entscheidungen eingebunden ist. Das sind keine üblichen fachlichen Anforderungen einer Stelle, sondern würden das Mandat selbst vergüten, was verboten bleibt.

Im konkreten Fall rügte das BAG die Vorinstanz (LAG Hessen), die die Klage vorschnell abgewiesen hatte. Das LAG meinte, die während der Betriebsratstätigkeit erlangten Kenntnisse dürften gar nicht erst berücksichtigt werden – es sah darin eine unzulässige Bevorzugung. Dies hat das BAG entschieden korrigiert: Es komme gerade darauf an, ob der Kläger durch seine erworbenen Fähigkeiten objektiv geeignet für die höherwertige Position war. Die Sache wurde an das LAG zurückverwiesen, um genau das aufzuklären. Das oberste Arbeitsgericht hat damit klargestellt, dass Betriebsratsarbeit nicht zur Karrierefalle werden darf – qualifizierende Erfahrungen aus dem Amt sollen nicht ignoriert werden.

Rechte und Chancen für Betriebsratsmitglieder

Für Arbeitnehmer, die ein Betriebsratsamt innehaben, ergeben sich aus Rechtslage und Urteil folgende Tipps:

  • Keine Gehaltseinbußen hinnehmen: Freigestellte Betriebsräte haben Anspruch auf die betriebsübliche Gehaltsentwicklung ihrer vergleichbaren Kollegen (§ 37 Abs. 4 BetrVG). Ihr Gehalt sollte also genauso steigen wie bei anderen in ähnlicher Position und Qualifikation. Bleibt die Gehaltsentwicklung zurück, kann das ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot sein. Betriebsratsmitglieder können vom Arbeitgeber Auskunft über die Entwicklung vergleichbarer Mitarbeiter verlangen, um ihre Ansprüche zu prüfen.
  • Karrierechancen nutzen: Das Betriebsratsamt bedeutet nicht das Ende aller Aufstiegschancen. Bewerben Sie sich ruhig auf ausgeschriebene höhere Positionen, wenn Sie die Anforderungen erfüllen. Ihre durch Betriebsratsarbeit gewonnenen Kenntnisse dürfen Sie als Pluspunkt einbringen – etwa Erfahrung in Personalthemen, Moderation von Konflikten oder Organisationswissen. Sollte Ihnen eine Stelle nur wegen Ihrer Freistellung entgehen, dokumentieren Sie dies. Im Streitfall kann ein fiktiver Beförderungsanspruch geltend gemacht werden, wenn man beweisen kann, dass man ohne das Betriebsratsamt den Job bekommen hätte (z.B. durch Zeugenaussagen über ein abgelehntes Angebot).
  • Keine Angst vor dem Ehrenamt: Das Urteil unterstreicht, dass engagierte Betriebsratsarbeit später sogar Vorteile bringen kann. Die Skills und das Netzwerk, das man als Betriebsrat erwirbt, können die Karriere nach der Amtszeit fördern. Solange man fachlich am Ball bleibt, wird man beim nächsten Karriereschritt nicht schlechter gestellt als andere – das verbietet das Gesetz und nun auch ausdrücklich die Rechtsprechung.

Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber: Gehälter rechtssicher gestalten

Arbeitgeber sollten die Vergütung von Betriebsräten mit Augenmaß regeln, um weder in verbotene Begünstigungen noch Benachteiligungen zu geraten. Folgende Empfehlungen ergeben sich aus den neuen Entscheidungen und Gesetzesänderungen:

  • Vergütungsgrundsätze in Betriebsvereinbarung festlegen: Seit 2024/2025 erlaubt § 37 Abs. 4 BetrVG ausdrücklich, per Betriebsvereinbarung ein Verfahren zur Festlegung von Vergleichsgruppen zu definieren. Nutzen Sie diese Möglichkeit! Wenn Arbeitgeber und Betriebsrat transparent regeln, welche Arbeitnehmer als Vergleichsmaßstab für die Gehaltsentwicklung der Betriebsräte dienen (etwa nach Position, Berufsjahren, Qualifikation), ist die Anpassung rechtssicher. Solche Vereinbarungen sind gerichtlich nur auf grobe Fehler überprüfbar – das schafft Verlässlichkeit.
  • Kriterien für Gehaltserhöhungen dokumentieren: Erhöhungen des Betriebsratsgehalts sollten stets anhand objektiver Kriterien erfolgen. Knüpfen Sie Gehaltsanpassungen an konkrete betriebliche Anforderungen und Leistungsmerkmale. Beispiel: Wenn ein Betriebsrat eine höherwertige Aufgabe übernimmt oder offenkundig neue relevante Fachkenntnisse erworben hat (z.B. Weiterbildung in Arbeitsrecht oder Projektmanagement), kann eine Gehaltserhöhung sachlich begründet sein. Legen Sie diese Gründe schriftlich fest. So vermeiden Sie den Eindruck, das Plus erfolge „nur des Amtes wegen“.
  • Karrierewege offenhalten: Sorgen Sie dafür, dass Betriebsratsmitglieder von Stellenausschreibungen und Personalentwicklungsprogrammen nicht abgeschnitten sind. Ermutigen Sie sie zur Bewerbung auf höherwertige Stellen, wenn sie qualifiziert sind. Wichtig: Eine fiktive Beförderung setzt immer eine konkrete Stelle voraus. Daher sollten Arbeitgeber relevante Positionen regulär ausschreiben und Betriebsräte wie alle anderen fair berücksichtigen. Wird ein Betriebsrat bei Eignung ausgewählt, ist das keine Begünstigung, sondern Ergebnis seiner persönlichen Qualifikation.
  • Regelmäßige Überprüfung: Führen Sie regelmäßig einen Abgleich durch: Entspricht das Gehalt des freigestellten Betriebsratsmitglieds noch der Entwicklung seiner Vergleichsgruppe? So erkennen Sie früh, ob Handlungsbedarf besteht – in die eine oder andere Richtung. Nach dem BAG trägt der Arbeitgeber die Beweislast, wenn er eine früher gewährte Erhöhung im Nachhinein als zu hoch einstuft. Entsprechend sorgfältig sollte jede Korrektur vorbereitet sein. Im Zweifel rechtzeitig arbeitsrechtlichen Rat einholen.

Das BAG-Urteil vom 13.08.2025 bringt für beide Seiten mehr Klarheit. Betriebsräte dürfen darauf vertrauen, karriererelevante Erfahrung aus dem Ehrenamt in die Waagschale werfen zu können, ohne als „Privilegienritter“ dazustehen. Arbeitgeber wiederum erhalten Leitplanken, wie sie Gehälter angemessen und dokumentiert gestalten können, damit weder Strafbarkeit noch Rechtsstreit drohen. Arbeitgeber und Betriebsrat sind gut beraten, die neuen Handlungsoptionen wahrzunehmen, um die Vergütung freigestellter Betriebsratsmitglieder rechtssicher zu gestalten. So wird das Spannungsfeld zwischen Ehrenamt und Karriere für beide Seiten planbarer und fair.