Der Europäische Gerichtshof hat am 22.06.2021 zum Aktenzeichen C-718/19 entschieden, dass die Maßnahmen zur Vollstreckung einer Entscheidung über die Ausweisung eines Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit Beschränkungen des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts darstellen, die gerechtfertigt sein können, wenn sie ausschließlich auf dem persönlichen Verhalten der betroffenen Person beruhen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 110/2021 vom 22.06.2021 ergibt sich:
In Anbetracht der Mechanismen der Zusammenarbeit, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, geht die im belgischen Recht vorgesehene Höchsthaftdauer von acht Monaten jedoch über das hinaus, was für die Sicherstellung einer wirksamen Ausweisungspolitik erforderlich ist.
Bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) wurden zwei Klagen auf Nichtigerklärung der Loi du 24 février de 2017 modifiant la loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers afin de renforcer la protection de l’ordre public et de la sécurité nationale (Gesetz vom 24. Februar 2017 zur Änderung des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und die [Ausweisung] von Ausländern im Hinblick auf die Stärkung des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit) (Moniteur belge vom 19. April 2017, S. 51890) eingereicht, die erste vom Ordre des barreaux francophones et germanophone (Kammer der französischsprachigen und deutschsprachigen Anwaltschaften) und die zweite von vier im Bereich des Schutzes der Migranten- und Menschenrechte tätigen Non-Profit-Organisationen.
Diese nationale Regelung sieht zum einen die Möglichkeit vor, auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen innerhalb der ihnen für das Verlassen des belgischen Hoheitsgebiets nach einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung ergangenen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist oder während der Verlängerung dieser Frist präventive Maßnahmen zur Vermeidung jeglicher Fluchtgefahr, wie z. B. die Zuweisung eines Aufenthaltsorts, anzuwenden. Zum anderen ermöglicht sie es, Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die einer solchen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, für eine Höchstdauer von acht Monaten zur Sicherstellung der Vollstreckung dieser Entscheidung in Haft zu nehmen. Diese Vorschriften decken sich mit den für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige geltenden, mit denen die Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – ABl. 2008, L 348, S. 98) in belgisches Recht umgesetzt werden soll, oder sind diesen ähnlich.
Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof zur Vereinbarkeit dieser belgischen Regelung mit dem Freizügigkeitsrecht, das den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen durch die Art. 20 und 21 AEUV sowie durch die Aufenthaltsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35) garantiert wird, befragt.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof, der in der Großen Kammer zusammengetreten ist, stellt einleitend fest, dass mangels einer unionsrechtlichen Regelung betreffend die Vollstreckung einer Entscheidung über die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen der bloße Umstand, dass der Aufnahmemitgliedstaat im Rahmen dieser Vollstreckung Regeln vorsieht, die sich an jenen orientieren, die auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen anwendbar sind, für sich genommen nicht gegen das Unionsrecht verstößt. Solche Regelungen müssen jedoch mit dem Unionsrecht, insbesondere im Bereich des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, vereinbar sein. Der Gerichtshof überprüft sodann, ob diese Regelungen Beschränkungen dieses Rechts darstellen, und falls ja, ob diese Regelungen gerechtfertigt sind.
So geht der Gerichtshof erstens davon aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften, indem sie die Bewegungsfreiheit der betroffenen Person einschränken, Beschränkungen des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts darstellen.
Zweitens ruft der Gerichtshof in Bezug auf das Vorliegen von Rechtfertigungen für solche Beschränkungen zunächst in Erinnerung, dass die betreffenden Maßnahmen die Vollstreckung von aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügungen bezwecken und daher im Hinblick auf die Anforderungen nach Art. 27 der Aufenthaltsrichtlinie zu beurteilen sind (Nach Art. 27 Abs. 2 ist bei beschränkenden Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein).
Zum einen hat der Gerichtshof hinsichtlich der präventiven Maßnahmen zur Verhinderung von Fluchtgefahr entschieden, dass die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Aufenthaltsrichtlinie der Anwendung von Vorschriften, die ähnlich jenen sind, die in Bezug auf Drittstaatsangehörige der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie dienen sollen (Art. 7 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie. Nach dieser Bestimmung „[können] den Betreffenden … für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten“), auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen während der ihnen für die Ausreise aus dem Aufnahmemitgliedstaat nach Erlass einer solchen Ausweisungsverfügung gesetzten Frist nicht entgegenstehen, sofern erstere Bestimmungen die in der Aufnahmerichtlinie vorgesehenen (Art. 27 der Aufenthaltsrichtlinie) allgemeinen Grundsätze betreffend die Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit wahren und nicht weniger günstig sind als letztere Bestimmungen.
Solche präventiven Maßnahmen tragen nämlich zwangsläufig zum Schutz der öffentlichen Ordnung bei, da sie den Zweck haben, sicherzustellen, dass eine Person, die eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung des Aufnahmemitgliedstaats darstellt, von dessen Hoheitsgebiet ausgewiesen wird. Von diesen Maßnahmen kann daher angenommen werden, dass sie die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“ im Sinne der Aufenthaltsrichtlinie beschränken (Art. 27 Abs. 1 der Aufenthaltsrichtlinie), so dass sie grundsätzlich nach dieser Richtlinie gerechtfertigt sein können.
Im Übrigen können diese Maßnahmen nicht allein deshalb als gegen die Aufenthaltsrichtlinie verstoßend angesehen werden, weil sie jenen ähnlich sind, die der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in nationales Recht dienen sollen. Allerdings betont der Gerichtshof, dass die Berechtigten der Aufenthaltsrichtlinie einen Status und Rechte ganz anderer Art genießen als jene, auf die sich die Berechtigten der Rückführungsrichtlinie berufen können. Daher dürfen in Anbetracht des grundlegenden Status der Unionsbürger Maßnahmen, die ihnen zur Verhinderung einer Fluchtgefahr auferlegt werden können, nicht ungünstiger sein als die Maßnahmen, die im nationalen Recht vorgesehen sind, um eine solche Gefahr bei Drittstaatsangehörigen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung ein Rückkehrverfahren anhängig ist, während der Frist für die freiwillige Ausreise zu vermeiden.
Zum anderen hat der Gerichtshof hinsichtlich der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung entschieden, dass die Art. 20 und 21 AEUV sowie die Aufenthaltsrichtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach Ablauf der gesetzten Frist oder der Verlängerung dieser Frist einer gegen sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergangenen Ausweisungsverfügung nicht nachgekommen sind, eine Haftmaßnahme für eine Höchstdauer von acht Monaten anwendet, wobei diese Dauer im nationalen Recht gleich lang ist wie jene, die für Drittstaatsangehörige gilt, die einer aus solchen Gründen nach der Rückführungsrichtlinie erlassenen Rückkehrentscheidung nicht nachgekommen sind (Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie).
Insoweit führt der Gerichtshof aus, dass die in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehene Haftdauer, die sich mit der für die Abschiebung der Drittstaatsangehörigen deckt, in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel, eine wirksame Ausweisungspolitik für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen sicherzustellen, stehen muss. Was insbesondere die Dauer des Abschiebungsverfahrens betrifft, so befinden sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht in einer Situation, die mit der von Drittstaatsangehörigen vergleichbar ist, so dass es nicht gerechtfertigt ist, all diese Personen in Bezug auf die Höchsthaftdauer gleich zu behandeln.
Insbesondere verfügen die Mitgliedstaaten über Mechanismen der Zusammenarbeit und Möglichkeiten im Rahmen der Abschiebung der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen in einen anderen Mitgliedstaat, über die sie im Rahmen der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in ein Drittland nicht unbedingt verfügen. Die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, die auf der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit und dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen, dürften nämlich nicht zu gleichartigen Schwierigkeiten führen, wie sie bei der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern auftreten können. Zudem dürften die praktischen Schwierigkeiten bei der Organisation der Rückreise für diese beiden Personengruppen im Allgemeinen nicht dieselben sein. Schließlich wird die Rückkehr des Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet seines Herkunftsmitgliedstaats durch die Aufenthaltsrichtlinie erleichtert (Nach Art. 27 Abs. 4 muss nämlich der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, den Inhaber eines solchen Dokuments, der aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen lassen).
Nach Ansicht des Gerichtshofs geht daher eine Höchsthaftdauer von acht Monaten für die Zwecke der Abschiebung für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist.