Für viele Beschäftigte gehört es zum Arbeitsalltag, im Projektendspurt zusätzliche Stunden anzusammeln und diese später in Form von Freizeitausgleich abzubummeln. Doch wer entscheidet eigentlich, wann genau dieser Freizeitausgleich gewährt wird – und kann der Arbeitgeber im Zweifel sogar kurzfristig den Abbau von Überstunden anordnen?
Arbeitsvertragliche und tarifliche Grundlagen
- Vertragliche Regelungen
- Im Arbeitsvertrag kann ausdrücklich festgehalten sein, ob und in welchem Umfang Überstunden zu leisten und wie diese abgegolten werden.
- Fehlt eine ausdrückliche Regelung, gilt: Überstunden sind alle Arbeitsstunden, die über die vertraglich vereinbarte Normalarbeitszeit hinausgehen.
- Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen
- Viele Branchen haben für Überstunden besondere Regelungen in Tarifverträgen.
- Auch in Betriebsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat können abweichende Höchstgrenzen, Vergütungsmodalitäten oder Regeln zum Freizeitausgleich festgelegt sein.
- Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO)
- Nach § 106 Gewerbeordnung (Gewerbeordnung) besitzt der Arbeitgeber ein sogenanntes Direktions- bzw. Weisungsrecht. Dieses umfasst nicht nur die Zuweisung konkreter Arbeitsaufgaben, sondern kann – wenn nicht vertraglich verhindert – grundsätzlich auch die Lage der Arbeitszeit regeln.
- Hieraus leitet sich ab, dass der Arbeitgeber unter den o. g. Voraussetzungen auch den Abbau von Überstunden anordnen kann.
Anordnung von Freizeitausgleich: Voraussetzungen und Grenzen
- Keine abweichenden Vereinbarungen
- Gibt es keine betriebliche oder tarifvertragliche Regelung, bleibt es beim Weisungsrecht: Der Arbeitgeber kann einseitig Freizeitausgleich anordnen – gegebenenfalls auch kurzfristig.
- Mitarbeitende müssen daher damit rechnen, an „Überstundentagen“ kürzer oder an anderen Tagen länger arbeiten zu sollen, um im Wochendurchschnitt oder im Arbeitszeitkonto ausgeglichene Verhältnisse herzustellen.
- Anpassung der täglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit
- Beispiel: Arbeitnehmer A hat an einem Tag zehn statt acht Stunden gearbeitet. Der Arbeitgeber kann dann z. B. anordnen, dass A am Folgetag nur sechs Stunden arbeitet, um die vertragliche Wochenarbeitszeit wiederherzustellen.
- Dabei ist das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) zu beachten: Maximal dürfen werktäglich acht Stunden, in Ausnahmefällen bis zu zehn Stunden gearbeitet werden (§ 3 ArbZG).
- Sozial gerecht gestaltete Anordnung
- Die Weisung muss nach § 315 BGB billigem Ermessen entsprechen. Das bedeutet, der Arbeitgeber muss bei seiner Entscheidung sowohl die Belange des Betriebs als auch die der Beschäftigten angemessen abwägen.
- Unbillige, überraschende oder gesundheitlich unvertretbare Einschnitte sind rechtswidrig.
Abweichende Modelle: Gleitzeit und Arbeitszeitkonten
- Gleitzeitvereinbarungen
- In vielen Unternehmen bestimmen Arbeitnehmer im Rahmen festgelegter Kernarbeitszeiten Beginn und Ende ihres Arbeitstages selbst.
- Überschreitet oder unterschreitet die tatsächlich geleistete Zeit die Sollarbeitszeit, erfolgt der Ausgleich meist automatisch über ein Arbeitszeitkonto – ohne gesonderte Weisung.
- Arbeitszeitkonten
- Stunden wird auf einem Zeitkonto gutgeschrieben oder abgebucht.
- Arbeitnehmer können in der Regel selbst entscheiden, wann sie Plus- oder Minusstunden ausgleichen, sofern keine betrieblichen Engpässe entgegenstehen.
- Nur wenn dringende betriebliche Gründe eine Abweichung erfordern, darf der Arbeitgeber eingreifen und die Ausgleichsbuchung veranlassen.
Keine Pflicht zu Überstunden – mit Ausnahmen
- Grundsatz der Arbeitsleistung
- Ohne ausdrückliche Vereinbarung sind Beschäftigte nur zur Erbringung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit verpflichtet. Überstunden können grundsätzlich nicht einseitig verlangt werden.
- Ausnahmesituationen
- In Notfällen (§ 616 BGB – „vorübergehende Verhinderung“), bei unabwendbarem Ereignis oder wenn akute betriebliche Interessen dies erfordern (z. B. Katastrophenfall), darf der Arbeitgeber auch ohne vertragliche Grundlage kurzfristig Überstunden anordnen.
- Tarifverträge können darüber hinaus zwingende Überstundenregelungen für bestimmte Branchen vorsehen.
Praxistipp für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
- Für Arbeitgeber
- Prüfen Sie stets zunächst Arbeitsvertrag, Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, bevor Sie den Abbau von Überstunden anordnen.
- Gestalten Sie Weisungen sozial gerecht und unter Beachtung arbeitsrechtlicher Vorschriften (ArbZG, BGB).
- Kommunizieren Sie frühzeitig und transparent mit Ihren Mitarbeitenden und dem Betriebsrat, um Konflikte zu vermeiden.
- Für Arbeitnehmer
- Klären Sie, welche Regelungen zu Überstunden in Ihrem Arbeitsvertrag oder durch Tarifvertrag/Betriebsvereinbarung bestehen.
- Führen Sie ein genaues Arbeitszeitkonto oder nutzen Sie das Zeiterfassungssystem Ihres Arbeitgebers.
- Widersprechen Sie unbilligen oder überraschenden Weisungen schriftlich und suchen Sie im Zweifelsfall frühzeitig das Gespräch mit Arbeitgeber oder Betriebsrat – notfalls mit anwaltlicher Unterstützung.
Der Arbeitgeber besitzt grundsätzlich das Recht, den Abbau von Überstunden anzuordnen, wenn im Betrieb keine anderweitigen (vertraglichen, tariflichen oder betrieblichen) Regelungen bestehen. Dieses Weisungsrecht verlangt jedoch stets eine Abwägung der Interessen und die Beachtung arbeitsrechtlicher Vorschriften. Arbeitnehmer sollten ihre vertraglichen Rechte kennen und im Konfliktfall Gegenwehr leisten oder rechtlichen Rat einholen.