Die Tücken des betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM): Pflicht, Chance – und juristische Stolperfalle

12. Juni 2025 -

Seit über zwei Jahrzehnten ist es fester Bestandteil des Arbeitsrechts – und sorgt dennoch bis heute für rechtliche Unsicherheiten: das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM). Was ursprünglich als präventives Instrument zur Sicherung von Arbeitsplätzen gedacht war, hat sich durch eine Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen zu einem komplexen rechtlichen Verfahren entwickelt. Für Arbeitgeber ist es längst kein „Nice-to-have“ mehr, sondern eine Pflicht mit weitreichenden Folgen, insbesondere dann, wenn eine krankheitsbedingte Kündigung im Raum steht. Für Arbeitnehmer bedeutet das bEM hingegen eine Chance – aber auch eine Entscheidung, die wohlüberlegt sein will.


Was ist das bEM – und wann ist es erforderlich?

Das bEM ist in § 167 Abs. 2 SGB IX geregelt. Ziel ist es, die Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters zu überwinden, erneuten Ausfällen vorzubeugen und den Arbeitsplatz langfristig zu sichern. Arbeitgeber müssen dieses Verfahren jedem Arbeitnehmer anbieten, der innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig war – unabhängig davon, ob diese Zeit am Stück oder durch mehrere Kurzerkrankungen zustande kam.

Betroffen sind alle Beschäftigten, ob in Vollzeit, Teilzeit oder als Beamte. Fremdgeschäftsführer sind nach aktueller Rechtslage ausgenommen. Auch wenn das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) innerhalb der ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses meist nicht greift, empfiehlt sich ein bEM bereits in der Probezeit, um frühzeitig Präventionsmaßnahmen zu ergreifen.


Pflicht ja – aber freiwillig für den Arbeitnehmer

Der Clou: Das bEM ist für den Arbeitgeber verpflichtend, für den Arbeitnehmer jedoch freiwillig. Dieser kann das Verfahren annehmen, ablehnen oder abbrechen – jederzeit. Gerade diese Freiwilligkeit verlangt vom Arbeitgeber besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Verfahren, vor allem beim Einladungsschreiben.


Formvorgaben, die Arbeitgeber kennen müssen

Die Arbeitsgerichte haben in den letzten Jahren strenge Maßstäbe an die Einladung zum bEM gelegt. Wird schon die Einladung nicht korrekt formuliert, ist das gesamte Verfahren juristisch angreifbar – mit teuren Konsequenzen.

Das Einladungsschreiben muss u. a.:

  • auf die Freiwilligkeit und Widerruflichkeit hinweisen,
  • konkrete Ziele des bEM benennen (nicht nur den Gesetzestext zitieren),
  • die Datennutzung transparent darstellen,
  • über die Zuziehung von Vertrauenspersonen aufklären (seit 2021 auch Rechtsanwälte, § 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX n.F.),
  • deutlich machen, dass Beteiligung von Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers erfolgt,
  • und die Möglichkeit benennen, medizinische Einschätzungen auch durch einen eigenen Arzt vorzulegen.

Datenschutz spielt dabei eine zentrale Rolle: Gesundheitsdaten sind streng vertraulich zu behandeln und dürfen nur zu den im Verfahren genannten Zwecken verarbeitet werden.


Der Ablauf in der Praxis

Das bEM beginnt mit dem Einladungsschreiben und kann über mehrere Phasen hinweg laufen:

  1. Einladung und ggf. Informationsgespräch
  2. Gesprächsphase mit dem Arbeitgeber (ggf. unter Beteiligung von Betriebsrat, Integrationsamt, Ärzten)
  3. Entwicklung individueller Maßnahmen: Arbeitsplatzanpassungen, Arbeitszeitmodelle, Versetzungen, technische Hilfen etc.
  4. Umsetzungsphase und abschließendes Evaluationsgespräch

Wichtig: Das Verfahren ist ergebnisoffen. Kommt es zu keiner Lösung, ist das bEM gescheitert – was juristisch dokumentiert werden muss. Führt es jedoch zu Maßnahmen, müssen diese auch tatsächlich umgesetzt werden, bevor eine Kündigung in Betracht gezogen wird.


Kündigung trotz bEM – geht das?

Ja – aber nicht ohne Risiko. Zwar ist das bEM keine formelle Voraussetzung für eine Kündigung, doch das Bundesarbeitsgericht (BAG) betrachtet es als wichtigen Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BAG, Urteil v. 13.05.2015 – 2 AZR 565/14).

Wird kein bEM durchgeführt, obwohl es erforderlich gewesen wäre, muss der Arbeitgeber vor Gericht schlüssig darlegen, dass ein solches Verfahren sowieso nichts gebracht hätte. Das ist eine hohe Hürde, die nur in Ausnahmefällen (etwa bei schwerer Suchterkrankung) genommen wurde (vgl. BAG, Urteil v. 20.03.2014 – 2 AZR 565/12).

Auch ein fehlerhaftes bEM kann zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. Umgekehrt: Hat der Arbeitnehmer ein ordnungsgemäßes bEM abgelehnt, ist die fehlende Durchführung kündigungsneutral (vgl. BAG, Urteil v. 24.03.2011 – 2 AZR 170/10).


Aktuelle Entwicklungen – was sich seit 2020 geändert hat

Das Thema bEM bleibt in Bewegung – durch neue Gesetze und wegweisende Urteile:

  • Vertrauensperson zulässig: Seit Inkrafttreten des Teilhabestärkungsgesetzes (10.06.2021) dürfen Beschäftigte eine Person ihres Vertrauens zu bEM-Gesprächen hinzuziehen – auch einen Anwalt (§ 167 Abs. 2 Satz 2 SGB IX n.F.).
  • Erneute Durchführung nötig: Ein einmal durchgeführtes bEM „verfällt“. Wird der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres erneut krank, ist ein neues Verfahren nötig (BAG, Urteil v. 18.11.2021 – 2 AZR 138/21).
  • Kein Individualanspruch des Arbeitnehmers: Arbeitnehmer können die Durchführung eines bEM nicht gerichtlich erzwingen, wenn der Arbeitgeber untätig bleibt (BAG, Urteil v. 07.09.2021 – 9 AZR 571/20).
  • Integrationsamt ersetzt kein bEM: Selbst bei Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters darf nicht auf ein bEM verzichtet werden (BAG, Urteil v. 15.12.2022 – 2 AZR 162/22).
  • Datenschutzerklärung nicht zwingend: Verweigert ein Arbeitnehmer die Unterschrift unter eine vorformulierte Datenschutzerklärung, darf das bEM dennoch nicht unterbleiben.

Sorgfalt ist das A und O

Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist kein bloßes Verwaltungstool – sondern ein juristisches Minenfeld, das sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer Chancen, aber auch Risiken birgt.

  • Arbeitgeber sollten sich nicht auf veraltete Muster oder pauschale Standardformulare verlassen. Wer das Verfahren nicht sorgfältig, aktuell und rechtssicher umsetzt, riskiert die Unwirksamkeit einer Kündigung.
  • Arbeitnehmer sollten das bEM nicht vorschnell ablehnen. Es kann Wege zur Rückkehr in den Arbeitsalltag ebnen – und die eigenen Rechte im Konfliktfall stärken.

In jedem Fall gilt: Frühzeitige rechtliche Beratung und begleitende Unterstützung sind entscheidend, um das bEM zu einem erfolgreichen Instrument für Gesundheit und Beschäftigung zu machen.

Für Fragen zur Einführung, Durchführung oder gerichtlichen Überprüfung eines bEM steht Ihnen unsere Kanzlei mit fachanwaltlicher Expertise gern zur Verfügung.