Digitale Teilhabe im Zivilprozess: VerfGH rügt Verweigerung der Videoverhandlung bei Behinderung

Der Fall: Videoverhandlung bei Reiseunfähigkeit abgelehnt

Eine schwerbehinderte Klägerin aus Berlin war aufgrund chronischer Erkrankung als reiseunfähig anerkannt. In einem Zivilprozess vor dem Amtsgericht Freiburg beantragte sie deshalb mehrfach, an der mündlichen Verhandlung per Videokonferenz nach § 128a Abs. 1 ZPO teilnehmen zu dürfen. Das Amtsgericht lehnte dies jedoch ab – mit der Begründung, man verfüge nicht über eine Videotechnik, die ein faires Verfahren gewährleiste. Konkret verwies der Richter darauf, dass bei einer Videoübertragung die gleichzeitige Übertragung der Mimik des Richters und von Zeugen mit der vorhandenen Technik nicht möglich sei und daher kein faires Verfahren garantiert werden könne. Die Klägerin sah darin eine unzulässige Benachteiligung wegen ihrer Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) sowie einen Verstoß gegen ihr Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und ein faires Verfahren.

Digitale Teilhabe im Zivilprozess – Rechtslage nach § 128a ZPO

Videokonferenztechnik im Gerichtssaal ermöglicht heute in vielen Fällen eine ortsunabhängige Teilnahme am Zivilprozess (Symbolbild). § 128a ZPO eröffnet Zivilgerichten die Möglichkeit, Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung durchzuführen. Dadurch soll die digitale Teilhabe am Gerichtsverfahren ermöglicht werden, etwa wenn eine Partei weit entfernt lebt oder – wie hier – aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen kann. Allerdings entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen über einen solchen Antrag. Dabei sind grundrechtliche Belange behinderter Personen besonders zu berücksichtigen, sodass Gerichte Anträge schwerbehinderter und reiseunfähiger Beteiligter auf Videoverhandlung nicht ohne Weiteres ablehnen dürfen. Fehlt es an einer überzeugenden Begründung oder an Bemühungen, technische Lösungen zu finden, kann die Ablehnung rechtswidrig oder sogar anfechtbar sein.

Im vorliegenden Fall hätte eine Videoverhandlung der Klägerin die Wahrnehmung ihres Rechts auf Teilhabe am Verfahren ermöglicht, ohne dass sie trotz Reiseunfähigkeit persönlich erscheinen musste. Die pauschale Ablehnung mit dem Hinweis auf fehlende Technik genügt den rechtlichen Anforderungen dabei nicht. Nach § 128a ZPO ist zwar sicherzustellen, dass die Verfahrensbeteiligten und der Richter einander sehen und hören können. Aber ein gewisses technisches Risiko oder Einschränkungen (z.B. eine etwas eingeschränkte Sicht auf Mimik) müssen in Kauf genommen werden, wenn andernfalls einer behinderten Person die Teilnahme am Prozess vollständig verwehrt würde. Das hat der Verfassungsgerichtshof (VerfGH) Baden-Württemberg in diesem Fall unmissverständlich klargestellt.

Richterliche Fürsorgepflicht gegenüber behinderten Parteien

Gerichte und Richter haben eine Fürsorgepflicht, die Rechte behinderter Parteien im Verfahren zu wahren. Das bedeutet insbesondere, Barrieren im Zugangs zum Gericht abzubauen und auf die besonderen Bedürfnisse z.B. schwerbehinderter, mobilitäts-eingeschränkter Personen Rücksicht zu nehmen. Behinderte Menschen dürfen im Gerichtsverfahren nicht benachteiligt werden, wie es auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vorgibt. Im Zivilprozess konkretisiert § 128a ZPO diese Teilhaberechte, indem er technische Teilhabe ermöglicht. Ein Gericht muss daher ernsthaft prüfen, ob es technische Mittel gibt, um einer behinderten Partei die Teilnahme zu ermöglichen. Im baden-württembergischen Justizwesen etwa steht den Gerichten grundsätzlich ein mobiles Videokonferenzsystem zur Verfügung, das sogar eine zweite Kamera und Zoom-Funktion für Beweisaufnahmen bietet. Richter sind gehalten, solche Möglichkeiten aktiv zu nutzen oder bei der Gerichtsleitung einzufordern, wenn dies erforderlich ist, um einer behinderten Person die Prozessbeteiligung zu ermöglichen.

Im entschiedenen Fall monierte der VerfGH Baden-Württemberg ausdrücklich, dass der Amtsrichter keinerlei Anstrengungen erkennen ließ, um eine angemessene technische Ausstattung für die Videoverhandlung zu beschaffen. Zwar ist ein einzelner Richter nicht selbst für die Ausstattung des Gerichts verantwortlich. Doch gerade wegen der grundrechtlich gebotenen Teilhabe behinderter Menschen hätte er sich an die Gerichtsleitung wenden müssen, um die nötige Technik bereitzustellen. Unterbliebene Bemühungen erwecken den Eindruck, dass der Richter technische Vorwände nur vorschiebt, um den Aufwand einer Videoverhandlung zu vermeiden. Eine solche generelle Verweigerung von Videoverhandlungen benachteiligt eine behinderte Partei in besonderer Weise in ihrem grundrechtlich geschützten Teilhaberecht.

Entscheidung des VerfGH Baden-Württemberg: Deutliche Kritik am Amtsgericht

Die schwerbehinderte Klägerin erhob gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Verfassungsbeschwerde zum VerfGH Baden-Württemberg. Zwar hatte die Beschwerde letztlich keinen Erfolg, da sie unzulässig war – die Frau hätte zunächst einen Befangenheitsantrag gegen den Amtsrichter stellen müssen (Grundsatz der Subsidiarität). Dennoch nutzte der VerfGH die Gelegenheit, dem Vorgehen des Amtsgerichts deutlich entgegenzutreten. Die Verfassungsrichter stellten klar, dass ein Befangenheitsantrag gegen den Richter hier sehr gute Aussichten auf Erfolg gehabt hätte. Wörtlich führte der Gerichtshof aus, ein solcher Antrag hätte „hinreichende Aussicht auf Erfolg gehabt“, weil der Beschluss des AG Freiburg, keine Videoverhandlung durchzuführen, geeignet sei, „Zweifel an der Unparteilichkeit des zuständigen Richters bei der Anwendung von § 128a Abs. 3 und Abs. 1 ZPO aufkommen zu lassen„. Mit anderen Worten: Die starre Weigerung, trotz Schwerbehinderung der Klägerin eine Videoverhandlung auch nur zu versuchen, ließ an der objektiven Neutralität des Richters zweifeln.

Inhaltlich hat der VerfGH den Amtsrichter scharf kritisiert. Das Gericht bemängelte vor allem zwei Punkte: Erstens habe der Richter nicht plausibel erklärt, warum ein faires Verfahren besser gewahrt sein soll, wenn einer reiseunfähigen Person die Teilnahme komplett verwehrt wird, anstatt ihr zumindest eine eingeschränkte Video-Teilnahme zu ermöglichen. Die Entscheidung des Amtsgerichts ließ völlig außer Acht, dass eine schlechtere Bildqualität immer noch besser ist, als die Klägerin wegen ihrer Behinderung gänzlich auszuschließen. Zweitens blieb offen, ob der Richter überhaupt versucht hat, technische Lösungen zu organisieren. Der VerfGH betonte, der Richter hätte trotz eigener fehlender Ausstattung aktiv bei der Gerichtsleitung auf entsprechende Technik hinwirken müssen. Gerade weil in Baden-Württemberg entsprechende Videotechnik grundsätzlich bereitsteht, wäre ein solches Bemühen naheliegend gewesen.

Der VerfGH fand dazu abschließende Worte von bemerkenswerter Deutlichkeit. Fehlt es an einem solchen Bemühen des Richters, so der VerfGH, drängt sich für eine vernünftige Prozesspartei der Eindruck auf, der generelle Verweis auf technische Probleme diene nur der Umgehung des gesetzlichen Auftrags aus § 128a ZPO. Eine daraus folgende generelle Weigerung von (hybriden) Videoverhandlungen benachteiligt eine behinderte Partei in ihrem grundrechtlich geschützten Recht auf Teilhabe in besonderer Weise. Damit stellen die Verfassungsrichter klar, dass Gerichte die Anforderungen der digitalen Barrierefreiheit und fairen Verfahrensgestaltung ernst nehmen müssen – nicht nur aus einfachem Gesetz, sondern auch aus Verfassungsrecht.

Praxistipp: Teilhabe einfordern und Rechtsbehelfe nutzen

Dieser Beschluss des VerfGH Baden-Württemberg ist ein Weckruf für die Praxis. Gerichte sind angehalten, digitale Teilhabe im Zivilprozess aktiv zu ermöglichen, insbesondere bei behinderten oder aus schwerwiegenden Gründen reiseunfähigen Parteien. Für Betroffene und ihre Anwälte bedeutet dies: Scheuen Sie sich nicht, eine Videoverhandlung nach § 128a ZPO zu beantragen, wenn persönliche Anwesenheit unzumutbar ist. Wird ein solcher Antrag mit pauschalem Verweis auf technische Schwierigkeiten abgelehnt, sollte man die Entscheidung kritisch hinterfragen. Der VerfGH hat deutlich gemacht, dass bloße Technik-Ausreden nicht akzeptabel sind.

In der Praxis kann es ratsam sein, schriftlich nachzufragen, welche Schritte das Gericht unternommen hat, um eine Videoverhandlung zu ermöglichen. Weist nichts auf ernsthafte Bemühungen hin, kommt – noch während des laufenden Verfahrens – ein Befangenheitsantrag in Betracht. Wie der VerfGH hervorhob, kann die verweigerte Unterstützung einer behinderten Partei als Anzeichen für mangelnde Unparteilichkeit des Richters gewertet werden. Ein solcher Befangenheitsantrag nach § 42 ZPO muss zwar sorgfältig begründet sein, hätte in Fällen wie dem vorliegenden aber gute Erfolgsaussichten.

Menschen mit Behinderung haben ein grundrechtlich geschütztes Recht auf Teilnahme am Gerichtsverfahren. Die Technik für Videotermine ist heutzutage verfügbar – Gerichte dürfen sich nicht bequem zurücklehnen und diese Möglichkeit ignorieren. Die Entscheidung aus Baden-Württemberg erinnert daran, dass die richterliche Fürsorgepflicht gebietet, alle zumutbaren Vorkehrungen für eine barrierefreie Rechtspflege zu treffen. Im Zweifel gilt: Lieber eine suboptimale Videoverhandlung als die Betroffenen ganz auszuschließen. Dies ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit, sondern der rechtsstaatlichen Gleichbehandlung und Fairness im Zivilprozess.