Errichtung von Windkraftanlagen: Erforderlichkeit einer Umweltprüfung auch für Erlasse und Rundschreiben

27. Juni 2020 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 25.06.2020 zum Aktenzeichen C-24/19 A entschieden, dass ein Erlass und ein Rundschreiben, die die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen festlegen, ihrerseits zuvor einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 77/2020 vom 25.06.2020 ergibt sich:

Vorliegend hatte der EuGH über die Auslegung der Richtlinie 2001/42 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. 2001, L 197, 30) zu entscheiden. Das Ersuchen um Auslegung durch den EuGH erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Anrainern eines nahe der Autobahn E 40 auf dem Gebiet der belgischen Gemeinden Aalter und Nevele gelegenen Grundstücks, auf dem eine Windfarm entstehen soll, und dem Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen (Regionaler Städtebaubeamter für den Raum Flandern, Abteilung Ost-Flandern, Belgien) wegen der von dieser Behörde erteilten städtebaulichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von fünf Windkraftanlagen (im Folgenden: streitige Genehmigung). Die Erteilung der streitigen Genehmigung am 30.11.2016 erfolgte unter der Auflage u.a. der Erfüllung bestimmter durch Vorschriften eines Erlasses der flämischen Regierung und eines Rundschreibens über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen festgelegter Voraussetzungen.
Zur Stützung ihrer Klage auf Aufhebung der streitigen Genehmigung vor dem Raad voor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten, Belgien) machten die Kläger insbesondere einen Verstoß gegen die Richtlinie 2001/42 geltend, da der Erlass und das Rundschreiben, auf deren Grundlage die Genehmigung erteilt worden sei, nicht Gegenstand einer Umweltprüfung gewesen seien. Der Urheber der streitigen Genehmigung vertrat dagegen die Auffassung, dass der in Rede stehende Erlass und das betreffende Rundschreiben einer solchen Prüfung nicht unterzogen werden müssten.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Erlass und ein Rundschreiben, die die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer städtebaulichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen festlegen, ihrerseits zuvor einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen.

Nach Auffassung des EuGH erfasst die Richtlinie 2001/42 Pläne und Programme sowie deren Änderungen, die von einer Behörde eines Mitgliedstaats ausgearbeitet oder angenommen werden, sofern sie „aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“ (Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42). Außerdem setze die Pflicht, einen bestimmen Plan oder ein bestimmtes Programm einer Umweltprüfung zu unterziehen, nach dieser Richtlinie voraus, dass der Plan oder das Programm im Sinne dieser Bestimmung voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen habe (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/42).

Hinsichtlich des Begriffs „Pläne und Programme, die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“ hat der EuGH entschieden, dass ein von der Regierung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats angenommener Erlass und ein von ihr erlassenes Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, unter diesen Begriff fallen. Aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH ergebe sich nämlich, dass im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“ jene Pläne und Programme anzusehen seien, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt sei, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegten (EuGH, Urt. v. 22.03.2012 – C-567/10; EuGH, Urt. v. 07.06.2018 – C-160/17 sowie EuGH, Urt. v. 12.06.2019 – C-321/18). Daher sei eine Maßnahme als Maßnahme, die „erstellt werden muss“, anzusehen, wenn die Befugnis zur ihrem Erlass ihre Rechtsgrundlage in einer solchen Bestimmung finde, auch wenn die Ausarbeitung der Maßnahme eigentlich nicht verpflichtend sei (EuGH, Urt. v. 07.06.2018 – C-671/16 Rn. 38 bis 40).

Das vorlegende Gericht und die Regierung des Vereinigten Königreichs haben den EuGH ersucht, diese Rechtsprechung zu überdenken. Der EuGH hat insoweit zunächst betont, dass bei einer Beschränkung der in Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 genannten Voraussetzung allein auf „Pläne und Programme“, deren Annahme verpflichtend ist, die Gefahr bestünde, die Tragweite dieses Begriffs zu marginalisieren und es nicht erlaubte, die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung zu wahren. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten und der heterogenen Praxis der nationalen Behörden seien die Annahme von Plänen und Programmen oder ihre Änderungen nämlich häufig weder generell vorgeschrieben noch zur Gänze dem Ermessen der zuständigen Behörden überlassen. Darüber hinaus erfülle das hohe Umweltschutzniveau, das die Richtlinie 2001/42 sicherstellen soll, indem sie die Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, einer Umweltprüfung unterwerfe, die Anforderungen der Verträge und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Bereich Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität (Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 191 Abs. 2 AEUV und Art. 37 GrCH ). Bei einer engen Auslegung, die es einem Mitgliedstaat ermöglichen könnte, sich der Pflicht zur Umweltprüfung dadurch zu entziehen, dass er die Annahme der Pläne oder Programme nicht als Verpflichtung ausgestaltet, bestünde jedoch die Gefahr, dass diese Ziele konterkariert würden.

Schließlich stehe die weite Auslegung des Begriffs „Pläne und Programme“ mit den internationalen Verpflichtungen der Union im Einklang (wie sie sich u.a. aus Art. 2 Abs. 7 des am 26.02.1991 in Espoo (Finnland) unterzeichneten Übereinkommens über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ergeben.). Sodann hat der EuGH geprüft, ob der in Rede stehende Erlass und das betreffende Rundschreiben die Voraussetzung des Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 erfüllen. Insoweit hat er festgestellt, dass der Erlass von der flämischen Regierung als Exekutive einer föderalen Einheit Belgiens gemäß einer gesetzlichen Ermächtigung angenommen worden war. Außerdem stamme auch das Rundschreiben, mit dem das Ermessen der zuständigen Behörden geregelt werden soll, von der flämischen Regierung und ändere – vorbehaltlich der Prüfung seiner genauen Rechtsnatur und seines präzisen Inhalts durch das nationale Gericht – die Bestimmungen des Erlasses, indem es sie weiterentwickele oder aufhebe. Daher sei der Schluss zu ziehen, dass der Erlass und, vorbehaltlich dieser Prüfungen, das Rundschreiben unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen, da davon auszugehen sei, dass sie im Sinne der Richtlinie 2001/42 „erstellt werden müssen“.

Hinsichtlich der Frage, ob der Erlass und das Rundschreiben nach der Richtlinie 2001/42 einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen, weil sie voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, hat der EuGH festgestellt, dass diese Rechtsakte, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, darunter Maßnahmen in Bezug auf Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen, zu den Rechtsakten zählen, die einer solchen Prüfung unterzogen werden müssen.

Insoweit seien die von dem in Rede stehenden Erlass und dem betreffenden Rundschreiben festgelegten Vorgaben über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen von hinreichend signifikantem Gewicht und Ausmaß, um die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von Windfarmen, die unbestreitbar Umweltauswirkungen haben, zu bestimmen. Diese Auslegung könne durch die besondere Rechtsnatur des Rundschreibens nicht in Frage gestellt werden.

Hinsichtlich der Möglichkeit der Aufrechterhaltung der Wirkungen dieser Rechtsakte und der Genehmigung, die unter Verstoß gegen die Richtlinie 2001/42 erlassen wurden, sei darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, die rechtswidrigen Folgen eines solchen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben. Unter Berücksichtigung des Gebots einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts könne nur der EuGH in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen des Gemeinwohls eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung der verletzten unionsrechtlichen Bestimmung herbeiführen, sofern es dem nationalen Gericht im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits durch eine nationale Regelung gestattet sei, bestimmte Wirkungen solcher Rechtsakte aufrechtzuerhalten. Daher hat der EuGH entschieden, dass ein nationales Gericht in einer Situation wie der im vorliegenden Fall gegebenen die Wirkungen des Erlasses und des Rundschreibens sowie der auf ihrer Grundlage erteilten Genehmigung nur dann aufrechterhalten kann, wenn ihm dies im Rahmen des bei ihm anhängigen Verfahrens durch das innerstaatliche Recht gestattet ist und wenn sich die Aufhebung der Genehmigung signifikant auf die Stromversorgung in Belgien auswirken könnte, und zwar nur während des Zeitraums, der absolut notwendig ist, um dieser Rechtswidrigkeit abzuhelfen; dies wird gegebenenfalls das vorlegende Gericht zu beurteilen haben.