Haftung einer Fluglinie für psychische Folgen einer Evakuierung?

24. März 2022 -

Generalanwalt Jean Richard de la Tour hat am 24.03.2022 im Verfahren C-111/21 vor dem Europäischen Gerichtshof seine Schlussanträge zu der Frage vorgelegt, ob eine Fluglinie nach dem Übereinkommen von Montreal auch für eine Beeinträchtigung der psychischen Unversehrtheit haften kann, die der Fluggast wegen eines Unfalls an Bord oder während des Ein- oder Aussteigens erlitten hat.

Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 24.03.2022 ergibt sich:

Der österreichische Oberste Gerichtshof hat einen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem eine Reisende von Laudamotion Schadensersatz wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung verlangt. Diese war nach einem Unfall diagnostiziert worden, der sich ereignete, als das Flugzeug, mit dem die Reisende von London nach Wien fliegen wollte, evakuiert wurde. Die Evakuierung erfolgte, weil beim Start das linke Triebwerk explodiert war. Die Reisende verließ das Flugzeug über den Notausstieg am rechten Flügel und wurde durch den Jetblast des rechten Triebwerks, das zu diesem Zeitpunkt noch in Bewegung war, mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Seitdem leidet sie an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, plötzlichen Weinanfällen, starker Müdigkeit und Stottern. Sie befindet sich wegen der diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung in ärztlicher Behandlung.

Der Oberste Gerichtshof hat den EuGH in diesem Zusammenhang um Auslegung des Übereinkommens von Montreal ersucht, wonach der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen hat, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat. Der Oberste Gerichtshof möchte wissen, ob der Begriff „körperlich verletzt“ eine Beeinträchtigung psychischer Art umfasst, die zwar Krankheitswert erreicht, jedoch nicht die Folge einer Körperverletzung im engeren Sinne ist.

In seinen Schlussanträgen vom 24.03.2022 schlägt Generalanwalt Richard de la Tour dem EuGH vor, dem Obersten Gerichtshof zu antworten, dass der Begriff „körperlich verletzt“ unabhängig vom Vorliegen einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit eines Reisenden eine infolge eines Unfalls erlittene Beeinträchtigung seiner psychischen Unversehrtheit umfasst, wenn sie durch ein ärztliches Gutachten festgestellt wird und eine medizinische Behandlung erfordert.

Die Diskussionen im Rahmen der Ausarbeitung des Übereinkommens ließen den festen Willen erkennen, die „psychische Verletzung“ ebenso wie die „Körperverletzung“ im engeren Sinne zu entschädigen. Der Umstand, dass im endgültigen Text des Übereinkommens der Begriff „körperlich verletzt“ verwendet wurde, lasse nicht den Willen erkennen, die Entschädigung auf bestimmte Arten von Verletzungen zu beschränken. Es erscheine heute wesentlich, den Begriff der „Körperverletzung“ so auszulegen, dass neben der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit die Beeinträchtigung der psychischen Unversehrtheit anerkannt werde, wenn sie die Fähigkeit der betroffenen Person beeinträchtige, ihren Körper oder Geist bei der Ausübung ihrer bisherigen Aufgaben zu verwenden.

Jedes außergewöhnliche Ereignis, das von einer Person als ernste und unmittelbare Lebensbedrohung empfunden werde, wie z. B. eine Naturkatastrophe, ein Terroranschlag, ein schwerer Verkehrsunfall oder ein Angriff, könne ein Trauma darstellen, das zwar psychologischer Natur, aber genauso real und verheerend sei wie die Körperverletzung selbst. Diese psychischen Beeinträchtigungen nicht in den Begriff der „Körperverletzung“ einzubeziehen, wäre eine „überholte und unhaltbare Dichotomie“.