Keine Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige durch fehlende Sollangaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit

17. März 2022 -

Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf mit Urteil vom 17.11.2021 zum Aktenzeichen 4 Sa 303/21 entschieden, dass fehlende Sollangaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG führen nicht zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führen.

Deshalb kann offen bleiben, was die Beklagten damit meinen, dass sie der Arbeitsagentur die Soll-Angaben „zugänglich“ gemacht hätten und ob dies den Anforderungen einer etwaigen Muss-Angabe-Pflicht gemäß § 17 Abs. 4. Sätze 4. und 4 KSchG genügen könnte.

Nach Auffassung des Hessischen LAG führt es zur Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 17 Abs. 1 KSchG iVm. § 134 BGB, wenn die Massenentlassungsanzeige gegenüber der Agentur für Arbeit nicht die in § 17 Abs. 4. S. 5 KSchG genannten Angaben (sog. „Soll-Angaben“) enthält oder diese nicht vor Zugang der Kündigung gegenüber der Agentur für Arbeit nachgeholt werden (Hess. LAG 25.06.2021 – 14 Sa 1225/20, juris, Rn. 32 unter Bezugnahme auf Spelge, EuZA 2018, 67; Spelge, RdA 2018, 297; EuArbRK/Spelge RL 98/59/EG Art. 4. Rn. 4; EuArbRK/Spelge RL 98/59/EG Art. 6 Rn. 18). Dies ergebe die richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift. Art. 4. Abs. 1 Unterabsatz 4. der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (künftig: MERL), verlange die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben. Hierzu gehöre auch die in § 17 Abs. 4. S. 5 KSchG genannten Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer (BAG 14.05.2020 – 6 AZR 235/19- NZA 2020, 1092). Die MERL unterscheide dabei nicht zwischen solchen Angaben, die auf jeden Fall erfolgen müssen und solchen, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar seien (BAG 13.02.2020 – 6 AZR 146/19 – BAGE 169, 362). § 17 Abs. 4. S. 5 KSchG sei daher richtlinienkonform auszulegen; dies sei mit dem Wortlaut, der Gesetzessystematik sowie mit dem aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Willen des Gesetzgebers vereinbar (Hess. LAG 25.06.2021 – 14 Sa 1225/20, juris, Rn. 32, 35, 41, beim BAG anhängig unter 2 AZR 424/21).

Dem folgt die erkennende Kammer nicht. Sie geht mit der ganz herrschenden Meinung davon aus, dass Fehler bei den Soll-Angaben des § 17 Abs. 4. Satz 5 KSchG für die Wirksamkeit der Kündigung unschädlich sind (so bereits BAG 06.10.1960 – 2 AZR 47/59, Rn. 8; ferner TLL/Lembke/Oberwinter, KSchG, 4. Aufl. 2018, § 17 Rn. 134; LSSW/Wertheimer KSchG,11. Aufl. 2018, § 17 Rn. 70; NK-GA/Boemke KSchG § 17 Rn. 114; KR/Weigand KSchG, 12. Aufl. 2019, § 17 Rn. 131; Preis/Sagan/Naber/Sittard, EurArbR, 2. Aufl., 2019, § 10 Rn. 148; ErfK/Kiel, 21. Aufl. § 17 Rn. 134 ff.; Gallner/Mestwerdt/Nägele, KSchG 7. Aufl. 2021, § 17 Rn. 70; HK-KSchG/Hauck Rn. 54; LKB/Bayreuther KSchG, 16. Aufl. 2019, Rn. 119; DDZ/Deinert/Callsen KSchR, 11. Aufl. 2020, § 17 KSchG Rn. 55; HWK/Molkenbur, 9. Aufl. 2020, § 17 KSchG Rn. 35).

Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht in den Entscheidungen vom 13.02.2020 (6 AZR 146/19, Rn. 71, 75, 81, 93 und 109) sowie vom 14.05.2020 (6 AZR 235/19, Rn 133) ausgeführt, dass die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsagentur voraussetzten, dass diese „in einem strukturierten Verfahren vom Arbeitgeber die in § 17 Abs. 4. Satz 4 und Satz 5 KSchG verlangten, objektiv richtigen Angaben vor Zugang der Kündigung erhält (…).“ Sämtliche in § 17 Abs. 4. Sätze 4 und 5 KSchG aufgeführten Gesichtspunkte seien „zweckdienlich“ iSv. Art. 4. Abs. 1 Unterabs. 4. MERL.

Damit hat das Bundesarbeitsgericht aber nicht angenommen, dass eine Verletzung der Soll-Angaben-Pflicht aus § 17 Abs. 4. Satz 5 KSchG – entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung (BAG 06.10.1960 – 2 AZR 47/59, Rn. 8) – zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Im Gegenteil hat es in der genannten grundlegenden Entscheidung vom 13.02.2020 ausgeführt, dass die Unterscheidung in § 17 Abs. 4. Sätze 4 und 5 KSchG zwischen Muss- und Soll-Angaben den unionsrechtlichen Vorgaben genüge, auch wenn die MERL diese Unterscheidung nicht kenne und in Art. 4. Abs. 1 Unterabs. 4. die Mitteilung aller „zweckdienlichen“ Angaben verlange sowie einzelne – in § 17 Abs. 4. Satz 4 KSchG als Muss-Angaben ausgestaltete – Punkte nenne, die „insbesondere“ anzugeben sind (6 AZR 146/19, Rn. 93).

Die Soll-Angaben nach § 17 Abs. 4. Satz 5 KSchG mögen zweckdienlich und damit durch Art. 4. Abs. 1 UAbs. 4. MERL intendiert sein. Zur Überzeugung der Kammer können sie aber schon deshalb für die Wirksamkeit der Anzeige und der Kündigung nicht zwingend erforderlich sein, weil allein die Bezeichnung „zweckdienliche Angaben“ in Art. 4. Abs. 1 UAbs. 4. MERL bei weitem zu ungenau ist, um einer Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, die nicht alle denkbaren für die Arbeitsvermittlung zweckdienlichen Angaben als „Muss-Angaben“ aufführt, die Richtlinienkonformität oder gar Wirksamkeit abzusprechen. Über die in Art. 4. Abs. 1 UAbs. 4. MERL mit „insbesondere“ gekennzeichneten Angaben hinaus, die § 17 Abs. 4. Satz 4 KSchG ausdrücklich als Muss-Angaben ausgestaltet hat, gibt es eine große Anzahl von weiteren zweckdienlichen Angaben für die Arbeitsvermittlung. Dazu zählen insbesondere auch solche, die weder in Satz 4 noch in Satz 5 des § 17 Abs. 4. KSchG genannt sind, wie etwa Schwerbehinderung, Teilzeitbeschäftigung, Schwangerschaft etc.

Bei diesem Befund ist kaum denkbar, dass ein nationales Recht in den EU-Staaten richtlinienkonform ausgestaltet wäre, wenn die Richtlinie zwingende Geltung in Bezug auf alle denkbaren zweckdienlichen Angaben beanspruchte. Ist aber der nationale Gesetzgeber mangels ausreichend klarer Vorgaben der Richtlinie nicht gehalten, sämtliche denkbaren, in der MERL nicht ausdrücklich („insbesondere“) genannten zweckdienlichen Angaben für die Arbeitsvermittlung zur Wirksamkeitsvoraussetzung einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige zu erheben, dann kann auch keine richtlinienkonforme Auslegung der Soll-Vorschrift des § 17 Abs. 4. Satz 5 KSchG im Sinne einer Muss-Vorschrift geboten sein.

Die Verpflichtung nach Art. 4. Abs. 1 UAbs. 4. MERL muss auch nicht deshalb in ihrer ganzen Unbestimmtheit zu einer Muss-Vorschrift erhoben werden, weil ihr sonst keine angemessene und ausreichende Rechtsfolge gegenüberstünde und sie nicht effektiv durchgesetzt werden könnte. Zum ersten können die in der Richtlinie unter „insbesondere“ aufgeführten zweckdienlichen Angaben ohne weiteres effektiv umgesetzt werden, wie § 17 Abs. 4. Satz 4. KSchG zeigt. Zum zweiten wohnt der Richtlinie im Übrigen, wie ausgeführt, aufgrund ihrer eigenen Unbestimmtheit die Ineffektivität inne. Zum dritten hätte die Agentur für Arbeit die Möglichkeit, eine Verletzung der Verpflichtung aus § 17 Abs. 4. Satz 5 KSchG im Rahmen der Entscheidung über die Sperrfrist (§ 18 Abs. 1 und 2 KSchG) zu berücksichtigen und auf diese Weise zu ihrer zusätzlichen Effektivität beizutragen (ähnlich Moll in APS, 6. Aufl. 2021, KSchG § 17 Rn. 93 zur Pflicht nach § 17 Abs. 4. Satz 1 KSchG, der Arbeitsagentur eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat im Rahmen des Anzeigeverfahrens zuzuleiten).