LAG Köln: Arbeitgeber haftet bei Arbeitsunfall nur bei Vorsatz

17. Dezember 2025 -

Auf Baustellen gilt das Haftungsprivileg: Verunfallt ein Arbeitnehmer, kommt in der Regel die gesetzliche Unfallversicherung für Personenschäden auf. Einen Schadensersatzanspruch gegen den Arbeitgeber gibt es nur in seltenen Ausnahmefällen.

Hintergrund des Falls

Ein schwerer Arbeitsunfall ereignete sich im Februar 2019 auf einer Baustelle. Ein Bauhelfer entfernte die Verschalung und Stützen einer frisch betonierten Treppe – ob auf Anweisung seines Vorarbeiters, war zwischen den Parteien umstritten. Die Betontreppe stürzte daraufhin in sich zusammen und begrub den Arbeiter unter sich. Der erfahrene Bauarbeiter erlitt schwerste Verletzungen und musste mehrfach stationär behandelt werden. Anschließend verlangte er von seinem Arbeitgeber (einem Bauunternehmer) und dessen Vater (als Bauleiter auf der Baustelle) Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 40.000 € für die Unfallfolgen.

Der Arbeitgeber bestritt jede vorsätzliche Gefährdung. Er verwies darauf, dass der Mitarbeiter über 35 Jahre Baustellenerfahrung verfügte und selbst hätte erkennen müssen, dass der Beton noch nicht ausgehärtet war. Außerdem greife hier das Haftungsprivileg der gesetzlichen Unfallversicherung – es habe sich um einen Arbeitsunfall im Sinne der §§ 7, 8 SGB VII gehandelt, sodass grundsätzlich keine zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers bestehe. Das Arbeitsgericht Siegburg wies die Klage des Arbeitnehmers ab. Dagegen legte der verletzte Arbeitnehmer Berufung zum Landesarbeitsgericht (LAG) Köln ein.

Haftungsprivileg der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 104, 105 SGB VII)

Bei Arbeitsunfällen sind Arbeitnehmer durch die gesetzliche Unfallversicherung (etwa die Berufsgenossenschaften) geschützt. Die Arbeitgeber zahlen in dieses System ein und sind im Gegenzug von der individuellen Haftung für Personenschäden weitgehend freigestellt. Schadensersatzansprüche von Beschäftigten gegen den Arbeitgeber wegen Personenschäden sind nach § 104 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen, sofern der Unfall nicht vorsätzlich durch den Arbeitgeber herbeigeführt wurde. Gleiches gilt für Ansprüche gegen Arbeitskollegen oder Vorgesetzte nach § 105 SGB VII. Dieses Haftungsprivileg soll den Betriebsfrieden wahren: Der verletzte Beschäftigte erhält Leistungen der Unfallkasse, ohne aufwändige Prozesse gegen den Arbeitgeber führen zu müssen. Dafür kann der Arbeitgeber nur in extremen Ausnahmefällen persönlich in Anspruch genommen werden.

Ausnahmefall Vorsatz: Eine Haftung des Arbeitgebers (oder eines mitverantwortlichen Kollegen/Vorgesetzten) kommt nur in Betracht, wenn der Unfall vorsätzlich herbeigeführt wurde. Dabei stellen die Gerichte hohe Anforderungen an den Vorsatz. Nach ständiger Rechtsprechung – man spricht von der „Lehre vom doppelten Vorsatz“ – genügt es nicht, dass der Arbeitgeber bewusst gegen Sicherheitspflichten verstoßen hat. Vielmehr muss sich sein Vorsatz auf zwei Ebenen erstrecken: (1) auf die Handlung selbst und (2) auf den konkreten Verletzungserfolg. Mit anderen Worten: Der Arbeitgeber müsste nicht nur willentlich gegen eine Arbeitsschutzvorschrift verstoßen, sondern dabei auch die schwere Verletzung des Mitarbeiters gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen haben. Bedingter Vorsatz liegt nur vor, wenn der Arbeitgeber den möglichen Schaden bewusst akzeptiert – reine Gleichgültigkeit oder die Hoffnung, „es wird schon gutgehen“, reichen nicht aus. In der Praxis sind derartige Vorsatzkonstellationen äußerst selten (etwa in Fällen absichtlicher Tätlichkeiten). Entsprechend greift das Haftungsprivileg fast immer – selbst grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers schützt den Arbeitnehmer zwar nicht vor dem Unfall, schließt aber eigene Schmerzensgeldansprüche gegen den Arbeitgeber in aller Regel aus.

Hinweis: Das Haftungsprivileg bezieht sich nur auf Personenschäden des verunfallten Mitarbeiters. Sachschäden sind davon nicht erfasst und können unter Umständen vom Arbeitgeber ersetzt verlangt werden. Zudem bleiben andere Konsequenzen möglich: Strafrechtliche Ermittlungen (z. B. wegen fahrlässiger Körperverletzung) und insbesondere Regressforderungen der Berufsgenossenschaft im Falle grober Fahrlässigkeit können den Arbeitgeber trotz Haftungsprivileg treffen. Die Berufsgenossenschaft kann etwa die von ihr übernommenen Behandlungskosten vom verantwortlichen Arbeitgeber zurückfordern, wenn dieser Unfallverhütungsvorschriften gravierend missachtet hat.

Entscheidung des LAG Köln (Urteil vom 02.11.2021 – 4 Sa 279/21)

Das LAG Köln hat die Klage des verletzten Bauarbeiters – wie schon die Vorinstanz – abgewiesen. Ein Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch gegen den Arbeitgeber besteht nicht, weil keine vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls nachgewiesen werden konnte. Zwar stand außer Frage, dass ein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorlag. Doch die Schwelle zum Vorsatz war nicht erreicht.

Insbesondere genügt die Verletzung von Arbeitsschutzpflichten allein nicht, um dem Arbeitgeber Vorsatz bezüglich der Verletzung zu unterstellen. Im vorliegenden Fall gab es zwar Anhaltspunkte für Fehlverhalten des Arbeitgebers: Die Ausschalfristen des Betons wurden nicht eingehalten, mutmaßlich fehlte eine ausreichende Unterweisung der (sprachunkundigen) Arbeiter, und es war kein fachkundiger Aufseher dauerhaft vor Ort. Diese Versäumnisse könnten zwar fahrlässig oder sogar grob fahrlässig gewesen sein; das Gericht stellte jedoch klar, dass selbst die bewusste Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften in der Regel nicht als Vorsatz im haftungsrechtlichen Sinne zu werten ist. Wer etwa aus Zeitdruck oder Unachtsamkeit Sicherheitsregeln ignoriert, hofft regelmäßig dennoch, dass kein Unfall passiert – er will den Schaden gerade nicht. Im LAG-Fall fehlten greifbare Tatsachen, dass die Beklagten den Einsturz der Treppe und die schweren Verletzungen des Klägers billigend in Kauf genommen hätten. Allein die Tatsache, dass der Vorarbeiter (Beklagter zu 2) dem Kläger möglicherweise spontan die Anweisung gab, die Stützen zu entfernen, ließ nicht den Schluss zu, er wollte damit eine Verletzung herbeiführen. Angesichts der langen Berufserfahrung des Klägers durften die Beklagten vielmehr davon ausgehen, dass dieser sich nicht selbst in Lebensgefahr bringen würde. Ein doppelter Vorsatz im Sinne der Rechtsprechung war damit nicht nachweisbar – weder beim Arbeitgeber selbst noch bei dem als Weisungsgeber in Anspruch genommenen Vater.

Ergebnis: Mangels Vorsatz bleibt es beim Haftungsausschluss nach §§ 104 f. SGB VII. Der verunglückte Arbeitnehmer erhält Leistungen der Berufsgenossenschaft (wie z. B. Heilbehandlung und Verletztengeld), kann aber keinen weiteren Schadensersatz oder Schmerzensgeld von den Beklagten verlangen. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde nicht zugelassen, das Urteil ist rechtskräftig.

Für Arbeitnehmer bedeutet dieses Urteil, dass Schmerzensgeldklagen nach Arbeitsunfällen nur in absoluten Ausnahmefällen Aussicht auf Erfolg haben. Trotz eventuell gravierender Sicherheitsverstöße des Arbeitgebers können Beschäftigte in der Regel keine zusätzlichen Ansprüche gegen den Arbeitgeber persönlich durchsetzen, solange kein Vorsatz vorliegt. Die Versorgung läuft über die Berufsgenossenschaft – diese zahlt zwar medizinische Kosten, Verletztengeld und ggf. eine Rente, aber kein Schmerzensgeld. Nur wenn der Arbeitgeber nachweislich absichtlich den Arbeitsunfall herbeigeführt hat (einschließlich des Verletzungswillens), fällt das Haftungsprivileg weg. Solche Fälle sind extrem selten, denn die Schwelle des Vorsatzes ist juristisch hoch. Arbeitnehmer sollten daher wissen, dass selbst grobe Fahrlässigkeit des Chefs meist nicht ausreicht, um zivilrechtliche Ansprüche auf immateriellen Schadenersatz durchzusetzen – so hart dies im Einzelfall erscheinen mag.

Für Arbeitgeber bestätigt die Entscheidung die weite Schutzwirkung des Haftungsprivilegs. Selbst deutliche Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften führen in aller Regel nicht zu einer zivilrechtlichen Haftung gegenüber dem verletzten Mitarbeiter. Das nimmt die Angst vor ruinösen Schmerzensgeldklagen im Nachgang eines Unfalls: Nur bei Vorsatz – also wenn der Arbeitgeber die Verletzung des Mitarbeiters wissentlich und willentlich in Kauf genommen hat – haften Unternehmen oder verantwortliche Personen persönlich auf Schadensersatz. Allerdings ist dies kein Freibrief für Nachlässigkeit. Arbeitgeber sind weiterhin gesetzlich verpflichtet, für sichere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Jeder Arbeitsunfall bringt Unannehmlichkeiten und Kosten mit sich: neben dem menschlichen Leid auch Produktionsausfall, mögliche Strafverfahren wegen Arbeitsschutzverletzungen und drohende Regressforderungen der Unfallversicherung bei grober Fahrlässigkeit. Die beste Strategie besteht daher darin, Arbeitsunfälle durch konsequenten Arbeitsschutz zu verhindern – im Interesse der Beschäftigten und um rechtliche wie finanzielle Risiken gar nicht erst aufkommen zu lassen.