Hintergrund des Falls und Ausgangslage
Ein niedergelassener Augenarzt aus Solingen bot über ein Online-Buchungsportal (Jameda) freie Termine an, die auch von gesetzlich versicherten Patienten gebucht werden konnten. Allerdings war bei Auswahl „gesetzlich versichert“ ein Warnhinweis eingeblendet: Gesetzlich Versicherte müssten die Behandlungskosten selbst zahlen, wenn sie einen kurzfristig verfügbaren Termin wünschten. Konkret sollte ein Kassenpatient 150 € zu seinem Termin mitbringen – andernfalls hätte er mehrere Monate warten müssen. Diese Praxis betraf sogar Notfälle: Selbst bei akuten Beschwerden oder Schmerzen wurden gesetzlich Versicherte nur gegen Selbstzahlung kurzfristig behandelt. Die Ehefrau des Patienten (privatversichert) hatte online einen früheren Termin für ihn gebucht und wurde telefonisch von der Praxis darüber informiert, dass ihr gesetzlich versicherter Mann 150 € zahlen müsse. Daraufhin sagte sie den Termin ab.
Der verärgerte Patient wandte sich an die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, die den Augenarzt zunächst abmahnte (d.h. zur freiwilligen Unterlassung aufforderte). Da der Arzt jedoch keine Unterlassungserklärung abgab, brachte die Verbraucherzentrale den Fall vor Gericht. In dem Verfahren vor dem Landgericht Düsseldorf (Az.: 34 O 107/22) klagte die Verbraucherzentrale auf Unterlassung der Praxis, gesetzlich Versicherten gegen Extra-Geld frühere Termine anzubieten.
Inhalt und Begründung des Urteils
Das Landgericht Düsseldorf gab der Verbraucherzentrale Recht und untersagte dem Augenarzt diese Vorgehensweise. Künftig darf er keine Behandlungstermine mehr anbieten, bei denen ein gesetzlich Versicherter nur gegen Bezahlung früher dran kommt. Insbesondere dürfen auch Notfall-Termine nicht mehr als Selbstzahler-Termine angeboten werden. Das Urteil vom 26. Juni 2024 stellt klar, dass gesetzlich versicherte Patienten weder für normale Leistungen noch für Notfälle extra bezahlen müssen, um zeitnah behandelt zu werden.
Als zentralen Begründungsansatz führte das Gericht an, dass der fragliche Termin innerhalb der regulären Sprechstundenzeit für Kassenpatienten gelegen hätte. Vertragsärzte (Kassenärzte) sind verpflichtet, mindestens 25 Stunden pro Woche für die Behandlung gesetzlich Versicherter anzubieten. Davon müssen 5 Stunden als offene Sprechstunde (ohne Terminvereinbarung) für akute Fälle freigehalten werden. Die betreffenden Termine fielen in genau diese gesetzlich vorgesehene Kassensprechzeit, die bereits durch die Versichertenbeiträge finanziert ist. Es könne nicht sein, betonte das Gericht, dass ein gesetzlich Versicherter für eine Leistung der Krankenkasse doppelt zahlen soll – einmal über Beiträge und dann nochmals aus eigener Tasche.
Weiter stützte sich das Urteil auf die ärztliche Berufsordnung. Laut § 32 Abs. 1 Satz 1 der Berufsordnung für Ärzte (Nordrhein) ist es Ärzten untersagt, von Patienten Geschenke oder andere Vorteile zu fordern, wenn dadurch der Eindruck entstehen könnte, dass medizinische Entscheidungen nicht mehr unabhängig getroffen werden. Ein solcher unzulässiger Vorteil liegt hier nach Auffassung des Gerichts vor: Der Arzt ließ sich für eine frühere Behandlung einen finanziellen Extra-Bonus versprechen, indem er den Patienten dazu brachte, die Behandlung privat zu bezahlen. Dies widerspricht dem in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Sachleistungsprinzip, wonach Versicherte ihre medizinischen Leistungen als Sachleistung erhalten – also ohne selbst direkt bezahlen zu müssen. Indem der Arzt einen früheren Termin nur gegen Selbstzahlung anbot, drängte er den Patienten faktisch, auf die Sachleistung zu verzichten und stattdessen als Selbstzahler aufzutreten. Darin sah das Gericht einen Verstoß gegen das Sachleistungsprinzip und zugleich einen Wettbewerbsverstoß: Ein solches Verhalten benachteiligt die Patienten und verstößt gegen Marktverhaltensregeln, die das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) schützt.
Zivilrechtliche Bewertung und Sachleistungsprinzip der GKV
Zivilrechtlich – genauer gesagt nach Wettbewerbs- und Sozialrecht – ist die Sache eindeutig: Vertragsärzte dürfen gesetzlich Versicherten keine Leistungen gegen Extrazahlung anbieten, wenn diese Leistungen eigentlich von der Krankenkasse abgedeckt sind. Das Sachleistungsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) besagt, dass Versicherte medizinische Behandlungen als Sachleistung erhalten. Das heißt, sie legen in der Regel kein Geld vor und bekommen keine Rechnung, sondern die Krankenkasse übernimmt die Kosten direkt durch Verträge mit den Ärzten. Anders als Privatpatienten können gesetzlich Versicherte nicht einfach ihre Behandlung selbst bezahlen und das Geld von der Kasse zurückfordern (Ausnahme ist das selten genutzte Kostenerstattungsprinzip, das aber vorher mit der Kasse vereinbart werden muss). Mit anderen Worten: Eine Person, die in der GKV versichert ist, hat bereits durch ihre Beiträge für die Behandlung bezahlt und hat einen Anspruch darauf, die Leistung ohne Zuzahlung im Rahmen der Kassenversorgung zu erhalten.
Im vorliegenden Fall versuchte der Arzt, dieses Prinzip zu umgehen. Er bot eine Kassenleistung (hier eine Augenuntersuchung, die regulär von der Kasse bezahlt wird) nur gegen private Bezahlung an. Damit hätte der Patient doppelt gezahlt – zum einen seine Versicherungsbeiträge, zum anderen die 150 € Praxisgebühr – und der Arzt hätte die Leistung außerhalb des Kassensystems abgerechnet. Ein solches Vorgehen verstößt gegen die Regeln der gesetzlichen Krankenversicherung. So verbietet etwa § 128 Abs. 5a SGB V Vertragsärzten ausdrücklich, unzulässige Zuwendungen zu fordern oder anzunehmen oder Versicherte zu beeinflussen, eine privatärztliche Behandlung anstelle der Kassenleistung in Anspruch zu nehmen. Ähnliches bestimmt § 18 Abs. 8 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä): Vertragsärzte dürfen Patienten nicht dazu drängen, statt der Sachleistung eine Privatbehandlung (gegen eigenes Geld) zu wählen. Diese Vorschriften sollen sicherstellen, dass Kassenpatienten nicht schlechtergestellt werden und ihr Versicherungsanspruch gewahrt bleibt. Im Urteil wurde klargestellt, dass der Arzt mit seinem Angebot gegen diese Grundsätze verstieß und damit rechtswidrig handelte.
Durch die Klage der Verbraucherzentrale wurde der Verstoß als unlautere geschäftliche Handlung eingeordnet, da hier gegen eine gesetzliche Vorschrift zum Schutz der Patienten (Verbraucher) verstoßen wurde. Auf dieser zivilrechtlichen Grundlage (dem UWG) konnte das Gericht dem Arzt die weitere Durchführung solcher Angebote untersagen. Für die Patienten bedeutet dies zivilrechtlich auch: Hätten sie auf ein solches Angebot eingehen und zahlen müssen, wäre dies rechtlich nicht bindend gewesen – einen Anspruch auf eine bevorzugte Behandlung gegen Geld gibt es im GKV-System nicht, und eine solche Zahlung wäre unzulässig verlangt worden.
Berufsrechtliche Konsequenzen für Ärztinnen und Ärzte
Über die zivilrechtliche Unterlassung hinaus hat der Fall auch berufsrechtliche Relevanz. Ärzte unterliegen der ärztlichen Berufsordnung, die berufsethische Pflichten festlegt. In § 32 der (Muster-)Berufsordnung für Ärzte ist festgeschrieben, dass Ärzten nicht gestattet ist, von Patienten Geschenke oder andere Vorteile für sich zu fordern oder anzunehmen, wenn dadurch auch nur der Anschein entsteht, dass eine ärztliche Entscheidung nicht mehr unabhängig erfolgt. Dieses Verbot soll das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient schützen: Patienten sollen sicher sein können, dass medizinische Entscheidungen nach Bedarf und Notwendigkeit getroffen werden – und nicht danach, wer extra bezahlt.
Im Urteil wurde festgestellt, dass der Augenarzt genau gegen dieses Verbot verstoßen hat. Er hat von einem gesetzlich Versicherten einen monetären Vorteil (150 €) verlangt, um eine medizinische Leistung zu einem früheren Zeitpunkt zu erbringen. Dadurch hat er den Eindruck erweckt, dass die Terminvergabe und womöglich die Behandlung von einer Zahlung abhängig gemacht werden – ein klarer Widerspruch zum ärztlichen Ethos der Gleichbehandlung. Dieses Verhalten stellt einen berufsrechtlichen Pflichtverstoß dar, der von der zuständigen Ärztekammer geahndet werden kann. Möglichkeiten reichen von einer Rüge oder Geldbuße bis hin zu strengeren Maßnahmen, falls Wiederholungen oder schwere Verstöße vorliegen (z.B. im Extremfall Entzug der Zulassung durch die Kassenärztliche Vereinigung, wobei letzteres nur in gravierenden Fällen geschieht).
Darüber hinaus kann die Kassenärztliche Vereinigung (KV) einschreiten, da Vertragsärzte an deren Vorgaben gebunden sind. Wie oben erwähnt, verstoßen Ärzte, die Versicherte zur Privatbehandlung drängen oder unzulässige Zuwendungen fordern, gegen ihre vertragsärztlichen Pflichten. Die KV kann in solchen Fällen ein Disziplinarverfahren einleiten (§ 81 Abs. 5 SGB V). Dies kann zu Sanktionen innerhalb der kassenärztlichen Versorgung führen. Insgesamt zeigt der Fall, dass ein Arzt nicht nur mit einer zivilrechtlichen Klage rechnen muss, sondern auch standesrechtliche und vertragsrechtliche Konsequenzen drohen, wenn er Patientenrechte derart verletzt.
Bedeutung für die Praxis und für Patientinnen und Patienten
Dieses Urteil hat eine klare Signalwirkung für die ärztliche Praxis: Bevorzugte Terminvergabe gegen Bezahlung ist unzulässig. Auch wenn Wartezeiten in Facharztpraxen mitunter sehr lang sind – insbesondere für gesetzlich Versicherte –, dürfen Ärztinnen und Ärzte daraus keine unlauteren Geschäftsmodelle entwickeln. Die Versuchung mag groß sein, durch Selbstzahler-Termine die Terminplanung zu entzerren und zusätzliches Honorar zu erzielen. Doch das Urteil macht unmissverständlich klar, dass solche Praktiken weder rechtlich erlaubt noch ethisch vertretbar sind. Vertragsärzte sind verpflichtet, die bestehende Patientennachfrage innerhalb des Kassensystems zu bewältigen oder ggf. Patientinnen und Patienten an Kolleg*innen weiterzuvermitteln, statt eine Zweiklassenmedizin zu fördern.
Für die ärztliche Praxis bedeutet dies: Wer gesetzlich Versicherte behandelt, muss diese fair und gleichberechtigt behandeln – unabhängig davon, ob sie privat oder gesetzlich versichert sind. In den ausgewiesenen Kassensprechstunden dürfen keine bevorzugten Slots gegen Geld verkauft werden. Andernfalls macht sich ein Arzt angreifbar durch Wettbewerbs- und Aufsichtsverfahren und riskiert das Vertrauen seiner Patienten. Praxen sollten zudem beachten, dass inzwischen Online-Terminportale wie Jameda oder Doctolib es technisch ermöglichen, Patienten nach Versicherungsstatus zu filtern. Diese Funktion darf nicht missbraucht werden, um Kassenpatienten systematisch benachteiligt warten zu lassen oder sie indirekt zur Selbstzahlung zu drängen. Die Verbraucherzentralen berichten, dass Fälle dieser Art keine Einzelfälle sind – immer wieder beschweren sich Patienten über frühere Termine gegen Aufpreis. Das nun vorliegende Urteil stärkt insoweit die Patientenrechte und dient als Mahnung an alle Praxen, solche Geschäftsmodelle zu unterlassen.
Für Patientinnen und Patienten – speziell gesetzlich Versicherte – ist das Urteil eine ermutigende Bestätigung ihrer Rechte. Es unterstreicht, dass man für eine schnellere Behandlung beim Kassenarzt nicht extra bezahlen muss. Sollte dennoch eine Praxis eine Zuzahlung für einen zeitnahen Termin verlangen, wissen Patienten nun, dass dies rechtlich nicht zulässig ist. Sie können sich in so einem Fall an ihre Krankenkasse, die Kassenärztliche Vereinigung oder Verbraucherzentrale wenden, um Unterstützung zu erhalten. Wichtig zu wissen: Es gibt legitime Wege, um schneller einen Facharzttermin zu bekommen, ohne in die eigene Tasche greifen zu müssen. Hausärztinnen und Hausärzte können bei medizinisch dringenden Fällen einen Dringlichkeitscode vergeben und den Patienten an eine Facharztpraxis weiterüberweisen. Außerdem betreiben die Kassenärztlichen Vereinigungen Terminservicestellen (erreichbar z.B. unter Tel. 116117 oder per App), die helfen, zeitnah einen freien Termin bei einem Facharzt zu finden. Und schließlich sind alle Vertragsärzte verpflichtet, Offene Sprechstunden anzubieten (mindestens 5 Stunden pro Woche), in denen Patienten mit akuten Beschwerden ohne Termin in die Praxis kommen können. Dieses Angebot sollte von Patienten in Anspruch genommen werden, wenn der nächste reguläre Termin zu weit in der Zukunft liegt und dringender Behandlungsbedarf besteht.
Zusammengefasst stärkt das Urteil das Vertrauen darin, dass gesetzlich Versicherte in der medizinischen Versorgung nicht gegenüber Privatpatienten zweiter Klasse sein dürfen. Es betont die Verantwortung der Ärzte, ihre Termine gerecht zu vergeben, und es erinnert Patienten daran, dass sie im Zweifel Rechte geltend machen und Hilfe suchen können, statt zu glauben, sie müssten für schnellere Hilfe bezahlen.
Handlungsempfehlungen für eine rechtssichere Terminvergabe
Abschließend einige praktische Tipps für Ärztinnen und Ärzte, um Termine rechtssicher und fair zu vergeben:
- Keinerlei Extra-Gebühren für frühere Termine verlangen: Machen Sie die Terminvergabe niemals von privaten Zahlungen abhängig. Insbesondere Kassenleistungen dürfen nicht als Selbstzahler-Leistungen verkauft werden, nur um Wartezeiten zu verkürzen. Das schließt auch akute Fälle ein – auch hier sind keine Aufpreise zulässig.
- Mindestsprechzeiten und offene Sprechstunden einhalten: Stellen Sie sicher, dass Sie die vorgeschriebenen 25 Wochenstunden für Kassenpatienten tatsächlich anbieten. Planen Sie außerdem pro Woche mindestens 5 Stunden offene Sprechzeit ein, in denen Patienten mit dringenden Problemen ohne Termin kommen können. Diese Vorgaben sind nicht nur rechtliche Pflichten, sondern dienen auch der Patientensicherheit.
- Versicherungsstatus nicht als unwirksames Filterkriterium nutzen: Sie dürfen zwar organisatorisch zwischen Privat- und Kassenpatienten unterscheiden (z.B. getrennte Sprechstundenzeiten), aber bevorzugen Sie nicht zahlungskräftige Patienten zulasten der GKV-Patienten. Terminvergaben sollten sich an medizinischer Dringlichkeit und zeitlicher Reihenfolge orientieren – nicht am Geldbeutel. Andernfalls droht der Eindruck einer Ungleichbehandlung, was rechtlich und ethisch problematisch ist.
- IGeL-Leistungen sauber abgrenzen: Bieten Sie Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) nur dort an, wo es medizinisch sinnvoll ist – als zusätzliche, freiwillige Angebote außerhalb des Leistungskatalogs der Kasse. Missbrauchen Sie IGeL nicht, um reguläre Kassenbehandlungen vorzeitig gegen Bezahlung durchzuführen. Eine Kassenleistung bleibt auch in Verbindung mit einer IGeL eine Kassenleistung und darf GKV-Versicherten nicht vorenthalten werden.
- Personal schulen und Kommunikation transparent gestalten: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Mitarbeitenden über die rechtlichen Grenzen informiert sind. Keine Empfangskraft sollte einem Patienten sagen, er bekomme nur gegen Geld einen früheren Termin – das bringt die Praxis in Gefahr. Überprüfen Sie auch Hinweise in Ihren Online-Buchungssystemen. Formulierungen wie in diesem Fall („Selbstzahlergebühr: gesetzlich Versicherte müssen Kosten selbst übernehmen“) sollten unbedingt entfernt oder gar nicht erst verwendet werden. Kommunizieren Sie stattdessen offen, welche Möglichkeiten Patienten haben (z.B. Hinweis auf offene Sprechstunde oder Terminservicestelle bei Überlastung).
- Im Zweifel rechtlichen Rat einholen: Wenn Sie innovative Terminvergabemodelle oder besondere Serviceangebote (z.B. „Premium-Termine“) planen, lassen Sie diese vorher juristisch prüfen. Ein kurzer rechtlicher Rat kann helfen, teure Rechtsstreitigkeiten und Imageschäden zu vermeiden.
Halten Sie sich an das Sachleistungsprinzip und behandeln Sie alle Patienten nach medizinischen Kriterien. So vermeiden Sie juristische Risiken und erfüllen Ihren ärztlichen Versorgungsauftrag. Das Urteil des LG Düsseldorf führt eindrücklich vor Augen, dass die faire Terminvergabe nicht nur eine moralische Pflicht, sondern auch eine rechtliche Anforderung ist. Damit schützen Sie nicht nur Ihre Patientinnen und Patienten, sondern letztlich auch sich selbst vor rechtlichen Konsequenzen.