Worum ging es in dem Fall?
Ein 66-jähriger Mann (Jahrgang 1958) litt seit Jahren an einem follikulären Non-Hodgkin-Lymphom – einer langsam verlaufenden, aber nicht heilbaren Krebsart. Seit 2016 war bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt. Trotz weiter bestehender Erkrankung versuchte die zuständige Behörde im Jahr 2019, den GdB auf 30 herabzusetzen. Die Begründung der Behörde: Der Gesundheitszustand sei stabil („watch & wait“ ohne weitere Chemotherapie), was als wesentliche Besserung genüge. Eine Vollremission (vollständiges Verschwinden des Tumors) oder andere eindeutige medizinische Verbesserungen lagen jedoch nicht vor – es bestand weiterhin ein „stable disease“, also ein stabiler Befund ohne Heilung oder deutliche Besserung. Der Mann legte Widerspruch ein und zog vor Gericht.
Das Sozialgericht Potsdam gab dem Kläger bereits 2022 Recht und hob die Kürzung auf. Die Behörde ging dagegen in Berufung – ohne Erfolg. Mit Urteil vom 10.06.2025 (Az. L 11 SB 24/23) hat nun auch das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg die Herabsetzung des GdB gestoppt. Der Kläger behält seinen Schwerbehindertenausweis mit GdB 50. Für viele Betroffene ist das ein deutliches Signal: Ohne lückenlose Nachweise einer echten gesundheitlichen Verbesserung darf das Amt den GdB nicht kürzen.
Gerichtsurteil: Keine Absenkung ohne wesentliche Änderung
Das LSG Berlin-Brandenburg stellte klar, dass eine Änderung oder Kürzung des GdB strengen Voraussetzungen unterliegt. Rechtsgrundlage ist § 48 Abs. 1 SGB X: Eine bestandskräftige GdB-Feststellung darf nur aufgehoben oder herabgesetzt werden, wenn eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist. Im Schwerbehindertenrecht bedeutet das, dass sich der Gesundheitszustand deutlich gebessert haben muss – und dies medizinisch nachweisbar. Pauschale Vermutungen oder bloß stabile Befunde reichen nicht aus. Die Beweislast für eine solche wesentliche Änderung liegt bei der Behörde. Sie muss also konkrete und belastbare neue medizinische Fakten vorlegen, die eine Herabstufung rechtfertigen. Gelingt ihr das nicht, ist eine GdB-Senkung rechtswidrig.
Im entschiedenen Fall konnte die Behörde keinen solchen Verbesserungsnachweis erbringen. Weder war der Tumor verschwunden noch gab es neue Befunde, die eine deutliche Gesundheitsbesserung zeigten. Im Gegenteil: Die Erkrankung bestand fort („stable disease“), und es blieb ein Tumorrest von etwa 4,5 × 1,5 cm dauerhaft nachweisbar. Nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VersMedV) ist aber klar geregelt: Bei einem lokalisierten niedrig-malignen Non-Hodgkin-Lymphom ist nach vollständiger Tumorfreiheit (Vollremission) für drei Jahre Heilungsbewährung ein GdB von 50 festzusetzen. Heilungsbewährung bedeutet eine Beobachtungszeit von drei Jahren ab dem Zeitpunkt, an dem kein Tumor mehr feststellbar ist. Solange kein kompletter Tumorrückgang erreicht ist, beginnt diese Frist nicht – und der GdB darf nicht sinken. Das Gericht folgte einer einfachen „Erst-recht-Logik“: Wenn selbst nach Vollremission noch ein GdB von 50 für einige Jahre gewährt wird, muss dies erst recht gelten, solange der Tumor noch nachweisbar ist.
Außerdem verwies das LSG auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts: Bereits 1989 hat das BSG entschieden, dass in GdB-Herabsetzungsverfahren die Behörde die volle Beweislast für eine wesentliche Änderung trägt. Im vorliegenden Fall blieb die Behörde diesen Nachweis schuldig – sie stellte letztlich nur Vermutungen an, etwa dass der verbliebene Tumorrest harmlos sein könne, ohne dies durch Befunde (z.B. eine erneute Gewebeuntersuchung) zu belegen. Auch ein vom Gericht beauftragtes Gutachten überzeugte nicht, da es die VersMedV-Vorgaben ignorierte. Folgerichtig wies das LSG die Berufung der Behörde zurück: Ohne belegte wesentliche Verbesserung bleibt der GdB des Klägers bei 50.
Bedeutung für Schwerbehinderte und Praxistipps
Dieses Urteil stärkt die Rechte von Menschen mit Schwerbehinderung, insbesondere bei chronischen Erkrankungen oder Krebsleiden im Remissionsstadium. Betroffene müssen eine GdB-Kürzung nicht einfach hinnehmen, wenn keine klaren medizinischen Verbesserungen vorliegen. Solange keine Vollremission oder vergleichbare Heilung nachgewiesen ist, bleibt der ursprüngliche GdB bestehen. Im Ergebnis darf ein stabiler Krankheitszustand ohne Verschlechterung nicht zu Lasten des Betroffenen ausgelegt werden – Stillstand ist keine wesentliche Besserung.
Für Schwerbehinderte ergeben sich aus dem Urteil folgende praktische Tipps:
- Nachweise einfordern: Sollte die Behörde im Rahmen einer Nachprüfung eine Absenkung vorschlagen, verlangen Sie konkrete medizinische Befunde als Beleg. Ein „gefühlter“ Verbesserungsbericht reicht nicht aus. Achten Sie darauf, dass Arztberichte klar zwischen partieller und vollständiger Remission unterscheiden – dieser Unterschied ist rechtlich entscheidend.
- Widerspruch einlegen: Gegen einen Absenkungsbescheid sollten Sie unverzüglich Widerspruch Weisen Sie darauf hin, dass keine wesentliche Änderung Ihres Gesundheitszustandes eingetreten ist, und beziehen Sie sich auf § 48 SGB X. Die Erfolgsaussichten stehen gut, denn Gerichte verlangen belastbare Beweise für GdB-Kürzungen.
- Eigene medizinische Schritte: Verzichten Sie nicht auf zusätzliche Untersuchungen, nur weil die Behörde meint, es sei nicht nötig. Holen Sie im Zweifel eine zweite ärztliche Meinung Insbesondere bei Krebs sollten aktuelle Befunde (Bildgebung, Laborwerte) vorliegen, um Ihren Status zu untermauern. Viele Krebsberatungsstellen oder Sozialverbände unterstützen hierbei sogar kostenlos.
Abschließend zeigt der Fall auch, warum es sich lohnt, um den Schwerbehindertenausweis zu kämpfen. Ein GdB von 50 (oder höher) bringt erhebliche Vorteile mit sich: Er schützt vor Nachteilen im Arbeitsleben (z.B. besonderer Kündigungsschutz, Zusatzurlaub) und gewährt finanzielle Vergünstigungen, etwa Steuererleichterungen und Freibeträge, Ermäßigungen beim ÖPNV oder der Rundfunkgebühr sowie weitere Nachteilsausgleiche. Wer sich also gegen eine unbegründete Kürzung wehrt, wahrt wichtige Rechte und oft bares Geld – jeden Monat.
Die Behörde darf den GdB nicht einseitig herabsetzen, solange sie keine lückenlose medizinische Dokumentation einer wesentlichen Besserung vorlegen kann. Das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 10.06.2025 bestätigt eindrucksvoll: Stabile Krankheitsbefunde ohne Vollremission rechtfertigen keine GdB-Senkung. Schwerbehinderte sollten ihre Rechte kennen und sich im Zweifel juristisch zur Wehr setzen – die Erfolgsaussichten stehen dank solcher Rechtsprechung gut.