Nichtzulassung der Berufung in einem Zivilrechtsstreit über die Ersatzfähigkeit vorgerichtlicher Inkassokosten ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 16. April 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 2373/19 entschieden, dass die Nichtzulassung der Berufung in einem Zivilrechtsstreit über die Ersatzfähigkeit vorgerichtlicher Inkassokosten verfassungswidrig ist.

Die im Ausgangsverfahren klagende Beschwerdeführerin belieferte den Beklagten des Ausgangsverfahrens mit Gas und Wasser, stellte ihm die Lieferungen in Rechnung und mahnte mehrmals selbst die Zahlung an. Auf Veranlassung einer Anschlusssperre sagte der Beklagte Zahlung zu, leistete diese aber nicht. Im Anschluss beauftragte die Beschwerdeführerin ein Inkassounternehmen, das erfolglos weitere Mahnungen versandte und schließlich in ihrem Namen einen Mahnbescheid erwirkte, gegen den der Beklagte Widerspruch erhob.

Im streitigen Verfahren führte die nunmehr anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin zur Begründung der als Nebenforderung geltend gemachten vorgerichtlichen Inkassokosten aus, zwischen ihr und dem Inkassounternehmen seien Kosten in der nach § 4 Abs. 5 RDGEG zulässigen Höhe vereinbart worden, woraus sich unter Berücksichtigung ihrer Berechtigung zum Vorsteuerabzug bei einer Hauptforderung in Höhe von 5.035,75 Euro ein Betrag von 480,20 Euro ergebe. Dies entspreche einer 1,3-Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV-RVG in Höhe von 460,20 Euro zuzüglich einer Kommunikationspauschale nach Nr. 7002 VV-RVG in Höhe von 20 Euro und damit den Kosten, die das RVG für die vorgerichtliche Vergütung eines Rechtsanwalts vorsehe.

Eine hälftige Anrechnung der für die Beauftragung des Inkassounternehmens geltend gemachten Geschäfts- auf die im gerichtlichen Verfahren anfallende Verfahrensgebühr nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV-RVG scheide aus. Da der Beschwerdeführerin auch unter Berücksichtigung ihrer Schadensminderungsobliegenheit freigestanden hätte, vorgerichtlich einen anderen Rechtsanwalt zu beauftragen als mit der gerichtlichen Geltendmachung (unter Verweis auf BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2009 – VII ZB 41/09 -), könne bei vorgerichtlicher Beauftragung eines Inkassobüros nichts anderes gelten. Maßgeblich sei, ob sie dessen Einschaltung für erforderlich habe halten dürfen. Dies sei hier der Fall, da der Beklagte nie Einwendungen erhoben und bei Androhung einer Anschlusssperre reagiert habe. Die Beschwerdeführerin habe bewusst diesen Weg gewählt, der bei Beauftragung des Inkassobüros auch mit der Durchführung des Mahnverfahrens wegen der nach § 4 Abs. 4 Satz 2 RDGEG geringeren Gebühr häufig günstiger sei als die Beauftragung eines Rechtsanwalts, da nur in wenigen Fällen Widerspruch oder Einspruch eingelegt werde.

Für den Fall einer Anrechnung beantragte die Beschwerdeführerin unter Hervorhebung der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage die Zulassung der Berufung.

Mit angegriffenem Teil-Versäumnis- und Endurteil vom 13. September 2019 gab das Landgericht Kiel der Klage in Bezug auf die Hauptforderung und die sonst geltend gemachten Verzugsschäden in einer echten Säumnisentscheidung statt, wies sie aber in Bezug auf die 250,10 Euro übersteigenden Inkassokosten ‒ unter Vornahme der durch richterlichen Hinweis in Aussicht gestellten Anrechnung ‒ durch Endurteil ab und ließ die Berufung nicht zu. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts könnten Inkassokosten nur insoweit verlangt werden, als sie auch bei sofortiger Einschaltung eines Rechtsanwalts entstanden wären, § 254 BGB in Verbindung mit § 4 Abs. 5 RDGEG. Aus der letztgenannten Vorschrift folge, dass Inkassokosten nur in Höhe der nicht auf die Prozessgebühr anrechenbaren RVG-Geschäftsgebühr verlangt werden könnten (unter Verweis auf OLG München, Urteil vom 22. Juni 2016 – 20 U 171/16 -, juris; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 286 Rn. 46). Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung lägen nicht vor, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erforderten.

Die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies das Landgericht mit nicht angegriffenem Beschluss vom 4. Oktober 2019 zurück, weil der auf die Nichtzulassungsentscheidung bezogene Vortrag der Beschwerdeführerin nicht übergangen worden sei. Darüber hinaus sei die zugrunde liegende Rechtsfrage höchstrichterlich geklärt, da das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung NJOZ 2012, S. 996 (= BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. September 2011 – 1 BvR 1012/11 -) ausgeführt habe, dass die Höhe der geltend gemachten Inkassokosten die alternativ bei Beauftragung eines Rechtsanwalts entstehenden Kosten nicht übersteigen dürfe. Hiervon abzuweichen habe trotz Vorlage abweichender Entscheidungen kein Anlass bestanden.

Gegen das Teil-Versäumnis- und Endurteil hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde erhoben und rügt eine Verletzung in ihren Rechten insbesondere aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Durch die Nichtzulassung der Berufung habe das Landgericht die Beschwerdeführerin ihrem gesetzlichen Richter entzogen. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, denn die Frage, ob eine hälftige Anrechnung der Inkassokosten zu erfolgen habe, sei klärungsfähig und -bedürftig und könne sich in einer Vielzahl weiterer Fälle stellen. Die durch das Landgericht zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ändere nichts. Insbesondere überstiegen die Inkassokosten nicht die Kosten, die alternativ bei Beauftragung eines Rechtsanwalts entstanden sein würden.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits geklärt (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Kommt ein Gericht der gesetzlich vorgesehenen Pflicht zur Zulassung eines Rechtsmittels nicht nach, so verstößt dies gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn die Entscheidung insoweit sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert (vgl. BVerfGE 42, 237 <241>; 67, 90 <94 f.>; 87, 282 <284 f.>; 101, 331 <359 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 8. Oktober 2015 – 1 BvR 1320/14 -, Rn. 12; entsprechend zu Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfGE 125, 104 <137>; 134, 106 <117 f. Rn. 34>). Diese Voraussetzungen liegen vor.

Nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Variante 1 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszugs ‒ bei Streitwerten bis 600 Euro ‒ die Berufung unter anderem zu, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Variante 1 ZPO kommt einer Sache nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2015 – 1 BvR 2791/14 -, Rn. 13; BGHZ 154, 288 <291>; 159, 135 <137>; BGH, Hinweisbeschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09 -, NJW-RR 2010, S. 1047 Rn. 3). Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden oder die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BGHZ 154, 288 <291>; 159, 135 <137 f.>; BGH, Hinweisbeschluss vom 8. Februar 2010 – II ZR 54/09 -, NJW-RR 2010, S. 1047 Rn. 3; siehe auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25. März 2015 – 1 BvR 2791/14 -, Rn. 13).

Nach diesen Maßgaben hat das Landgericht die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es das Merkmal der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage als Voraussetzung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Variante 1 ZPO in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise angewandt hat.

Die entscheidungserhebliche Frage einer Anrechnung der bei vorgerichtlicher Tätigkeit eines Inkassounternehmens entstehenden Kosten auf die spätere Verfahrensgebühr des beauftragten Rechtsanwalts ist in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten (Erstattungsfähigkeit befürwortend etwa LG Oldenburg, Urteil vom 8. März 2017 – 5 S 445/16 -, juris, Rn. 16; LG Wuppertal, Urteil vom 27. Oktober 2016 – 17 O 203/15 -, juris, Rn. 28; LG Kiel, Urteil vom 19. September 2014 – 3 O 169/12 – [Berufung gegen dieses Urteil zurückgewiesen durch OLG Schleswig, Urteil vom 29. Mai 2015 – 11 U 136/14 -]; Dornis, in: Gsell/Krüger/Lorenz/Rey-mann, BeckOGK BGB, § 286 Rn. 352.1 [Juni 2019]; Petershagen, NJW 2018, S. 1782 <1785> m.w.N.; Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 286 Rn. 237 f., 241 [2019]; demgegenüber für Anrechnung OLG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2019 – 27 U 36/17 -, juris, Rn. 34; OLG München, Urteil vom 22. Juni 2016 – 20 U 171/16 -, juris, Rn. 18; OLG Hamm, Urteil vom 19. April 2016 – I-24 U 48/15 -, juris, Rn. 28; OLG Bamberg, Urteil vom 5. Dezember 2011 – 4 U 72/11 -, juris, Rn. 97 f.; LG Hildesheim, Beschluss vom 9. Juli 2019 – 3 T 13/19 -, juris, Rn. 31; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 286 Rn. 46; Frage des Einzelfalls, aber Mitverschuldenseinwand naheliegend nach Ernst, in: MüKo BGB, 8. Aufl. 2019, § 286 Rn. 167) und durch den Bundesgerichtshof bislang nicht entschieden.

Die Annahme, die Frage der Anrechnung sei durch den in der Entscheidung über die Anhörungsrüge zitierten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. September 2011 – 1 BvR 1012/11 -) geklärt, ist sachlich nicht zu rechtfertigen. Im dortigen Ausgangsverfahren war die grundsätzliche Erstattungsfähigkeit von Inkassokosten streitig. Das Landgericht bezieht sich auf die Passage, „[n]ach herrschender Meinung anerkannte Einschränkungen sind etwa, dass die Höhe der geltend gemachten Kosten die alternativ bei Beauftragung eines Rechtsanwalts entstehenden Kosten nicht übersteigen dürfen“ (ebd., Rn. 16). Diese nunmehr ausdrücklich in § 4 Abs. 5 RDGEG enthaltene Begrenzung an sich wurde von der Beschwerdeführerin jedoch gar nicht in Zweifel gezogen. Zu der vielmehr aufgeworfenen Frage der Auslegung dieser Einschränkung enthält der Kammerbeschluss dagegen keine Aussage. Danach kann schlechterdings nicht davon ausgegangen werden, das Bundesverfassungsgericht habe die Frage einer Anrechnung vorgerichtlicher Inkassokosten bei späterer Beauftragung eines Rechtsanwalts als von der herrschenden Meinung geklärt angesehen oder gar selbst geklärt.

Die Entscheidung beruht auch auf dem Verstoß, da ein der Beschwerdeführerin günstigerer Ausgang insbesondere unter Berücksichtigung der durch sie im fachgerichtlichen Verfahren zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2009 – VII ZB 41/09 -, juris, Rn. 11 ff.) nicht ausgeschlossen werden kann.