Owi-Verfahren: Keine Auslagenerstattung bei Einstellung ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 27. September 2024 zum Aktenzeichen 2 BvR 375/24 entschieden, dass eine Auslagenentscheidung nach gerichtlicher Einstellung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens verfassungswidrig ist.

Gegen den Beschwerdeführer erging ein Bußgeldbescheid wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften in Höhe von 143,75 €. Nach fristgerecht eingelegtem Einspruch setzte das Amtsgericht Hamburg-Wandsbek (im Folgenden: Amtsgericht) Hauptverhandlungstermin auf den 7. September 2023 fest, zu dem es das persönliche Erscheinen des Beschwerdeführers anordnete. Der vom Beschwerdeführer mandatierte Verteidiger nahm Akteneinsicht, konnte aber zwischen der auf dem Beweisfoto abgebildeten Person und dem Beschwerdeführer eine Übereinstimmung nicht feststellen. Zu dem Termin erschien der Beschwerdeführer in Begleitung seines Verteidigers. Zur Sache befragt gab der Verteidiger eine Erklärung ab, wonach der Beschwerdeführer nicht der Fahrer sei. Daraufhin verkündete das Amtsgericht folgenden Beschluss: „Das Verfahren wird gemäß § 47 Abs. 2 OWiG auf Kosten der Staatskasse eingestellt. Die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse nicht.“ Gründe enthielt der Beschluss nicht.

Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer erhob gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 7. September 2023 mit Schreiben vom 14. September 2023 „(sofortige) Beschwerde“, zudem beantragte er beim Amtsgericht mit gesondertem Schreiben vom selben Tag „sowohl im Wege der Gegenvorstellung, als auch im Wege der Anhörungsrüge“ die Aufhebung des Beschlusses, jedenfalls auch die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Das Amtsgericht verwarf mit Beschluss vom 15. September 2023 die Anhörungsrüge und die Gegenvorstellung als unzulässig. Eine Begründung erfolgte nicht. Mit Schreiben vom 18. Dezember 2023 begründete der Beschwerdeführer seine Beschwerde unter Verweis auf den Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 – dahingehend, dass hier die Beschwerde nach Ablehnung der Anhörungsrüge statthaft sei und zum Rechtsweg gehöre, der vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen sei. Das Landgericht Hamburg (im Folgenden: Landgericht) verwarf mit Beschluss vom 18. Januar 2024 die sofortige Beschwerde als unzulässig. Zur Begründung führte das Landgericht aus, dass nach § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 StPO eine gerichtliche Entscheidung über die Kosten und notwendigen Auslagen nicht anfechtbar sei, wenn eine Anfechtung der Hauptentscheidung nicht statthaft sei. § 47 Abs. 2 Satz 3 OWiG schließe die Anfechtbarkeit des Einstellungsbeschlusses ausdrücklich aus. Im Übrigen sei die Kosten- und Auslagenentscheidung auch nicht auf eine Gegenvorstellung hin abänderbar.

Die angegriffene Auslagenentscheidung den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.

Gemäß § 467 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG hat die nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens zu treffende Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen grundsätzlich dahingehend auszufallen, dass diese zulasten der Staatskasse gehen. Zwar kann oder muss hiervon in einigen gesetzlich geregelten Fällen abgesehen werden (§ 109a Abs. 2 OWiG, § 467 Abs. 2 bis 4 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG). Der Entscheidung des Amtsgerichts vom 7. September 2023 über die notwendigen Auslagen lässt sich jedoch nicht einmal im Ansatz entnehmen, aus welchem Grunde diese dem Beschwerdeführer auferlegt wurden. Sie enthält keinerlei Erwägungen, die ein Abweichen von der Regelung des § 467 Abs. 1 StPO rechtfertigen oder auch nur nachvollziehbar machen könnten. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Amtsgericht und in der Folge auch das Landgericht insoweit von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen.

Die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 109a Abs. 2 OWiG waren hier nicht gegeben, denn dem Beschwerdeführer sind ersichtlich keine vermeidbaren Auslagen dadurch entstanden, dass er entlastende tatsächliche Umstände (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. August 2013 – 2 BvR 864/12 -, Rn. 23 m.w.N.) nicht rechtzeitig vorgebracht hatte. Der Beschwerdeführer als Betroffener eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens war nicht verpflichtet, auf den Anhörungsbogen, sollte dieser dem Beschwerdeführer überhaupt zugegangen sein, Angaben zu machen und den aus seiner Sicht tatsächlichen Fahrer der Ordnungswidrigkeit zu benennen.

Nach der Bestimmung des § 467 Abs. 4 StPO in Verbindung mit § 46 Abs. 1 OWiG kann ein Gericht davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies – wie § 47 Abs. 2 OWiG – nach seinem Ermessen zulässt. Dabei darf auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt, aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden (vgl. BVerfGE 82, 106 <117>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 -, Rn. 31).

Das Amtsgericht hat seine Auslagenentscheidung weder im Beschluss vom 7. September 2023 begründet, noch die fehlende Begründung in seiner Entscheidung über die Gegenvorstellung und Anhörungsrüge des Beschwerdeführers vom 15. September 2023 nachgeholt. Das Fehlen der Begründung einer gerichtlichen Entscheidung kann dazu führen, dass ein Verfassungsverstoß nicht auszuschließen und die Entscheidung deshalb aufzuheben ist, weil erhebliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. BVerfGE 55, 205 <206>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 1993 – 2 BvR 251/93 -, juris, Rn. 4; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. März 2008 – 2 BvR 378/05 -, Rn. 33 und vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 -, Rn. 32).

Solche nicht auszuräumenden Zweifel drängen sich hier auf. Da die angegriffenen Beschlüsse vom 7. und 15. September 2023 – ungeachtet der vom Beschwerdeführer rechtlich und tatsächlich in Abrede gestellten Verdachtslage – keine Hinweise auf die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO enthalten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht sich insoweit von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen und deshalb das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist.