Rufbereitschaft zu Hause – Unfallversicherungsschutz erst ab der Haustürschwelle

21. November 2025 -

Wann greift der gesetzliche Unfallversicherungsschutz bei Rufbereitschaft in den eigenen vier Wänden? Diese Frage hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg in einem aktuellen Urteil beantwortet. Die Kernaussage des Urteils vom 6. November 2025 (Az. L 3 U 42/24) lautet: Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung beginnt während einer Rufbereitschaft erst, nachdem man das Haus verlassen hat – konkret beim Überschreiten der Haustürschwelle. Ein Unfall, der sich noch innerhalb der eigenen Wohnung oder im Treppenhaus auf dem Weg nach draußen ereignet, gilt demnach nicht als versicherter Arbeitsunfall. Im Folgenden erklären wir, was hinter dieser Entscheidung steckt, warum das Gericht einen „strengen Maßstab“ anlegt und welche praktischen Folgen dies für Arbeitnehmer und Arbeitgeber hat.

Der Fall: Sturz im Treppenhaus während der Rufbereitschaft

Im entschiedenen Fall befand sich ein 72-jähriger Abschleppdienst-Fahrer in Rufbereitschaft zu Hause. Mitten in der Nacht – gegen 2 Uhr morgens – erhielt er einen Noteinsatz und machte sich von seiner Wohnung aus auf den Weg. Beim Verlassen seiner Wohnung im ersten Stock stolperte er im Treppenhaus seines Mehrfamilienhauses über einen dort liegenden Backstein und stürzte die Treppe hinunter, noch bevor er die Haustür erreicht hatte. Der Mann erlitt u.a. eine Gehirnerschütterung und musste eine Woche im Krankenhaus behandelt werden.

Anschließend meldete er den Vorfall seiner Berufsgenossenschaft (der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung) als Arbeitsunfall. Die Berufsgenossenschaft lehnte jedoch eine Anerkennung als Arbeitsunfall ab, mit der Begründung, der Unfall habe sich nicht im versicherten Bereich ereignet. Der Fall landete vor Gericht: Das Sozialgericht Berlin wies die Klage des Mannes ab, und auch in der Berufung vor dem LSG Berlin-Brandenburg blieb der Kläger erfolglos.

Urteil: Unfallversicherung greift erst ab der Haustür

Das LSG Berlin-Brandenburg hat klar gestellt, dass hier kein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorliegt. Entscheidend war die Abgrenzung zwischen privater Sphäre und versichertem Wegeunfall. Zwar umfasst der gesetzliche Unfallversicherungsschutz grundsätzlich auch den Weg von und zur Arbeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII). Allerdings beginnt dieser versicherte Weg erst dort, wo der private Bereich endet. Nach Auffassung des LSG bedeutet das: Erst mit dem Verlassen des Wohnhauses – konkret beim Durchschreiten der Außentür/Haustür – wird der „unversicherte häusliche Lebensbereich“ verlassen und der versicherte Arbeitsweg betreten.

Im vorliegenden Fall gehörte somit das Heruntergehen der Treppe von der Wohnungstür bis zur Hauseingangstür nicht mehr zum versicherten Weg. Da der Mann durch den Sturz den Hauseingang gar nicht erreicht hatte, befand er sich nach Ansicht des Gerichts noch in seinem privaten Bereich – und somit außerhalb des Schutzbereichs der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein solcher Unfall auf der Haustreppe während der Rufbereitschaft ist folglich kein Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Definition.

Gesetzlicher Hintergrund: § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zählt ausdrücklich auch „das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit“ zur versicherten Tätigkeit. Dieser sogenannte Wegeunfall ist also prinzipiell versichert – aber nur innerhalb bestimmter Grenzen. Nach gefestigter Rechtsprechung beginnt der versicherte Weg außerhalb der eigenen Wohnung, typischerweise an der Haustürschwelle. Alles, was davor passiert (z.B. Treppensteigen innerhalb des eigenen Wohngebäudes), wird als private Tätigkeit angesehen. Diese Linie hat das LSG hier konsequent bestätigt.

Strenger Maßstab aus Gründen der Rechtssicherheit

Das LSG spricht selbst von einem „ziemlich strengen Maßstab“, den es hier anlegt. Warum so streng? Der Grund ist die Rechtssicherheit. Indem man den Beginn des Versicherungsschutzes an ein objektiv feststellbares Merkmal – nämlich das Überschreiten der Haustür – knüpft, zieht man eine klare, starre Grenze. Diese Linie mag im Einzelfall hart wirken, ist aber bewusst gewählt, um eindeutige Verhältnisse zu schaffen.

Für Gerichte und Versicherungsträger ist es vergleichsweise leicht festzustellen, wo ein Unfall passiert ist: innerhalb der Wohnung (privater Bereich) oder außerhalb auf dem Arbeitsweg (versicherter Bereich). Wäre der Unfallversicherungsschutz schon innerhalb des Hauses gegeben, müsste im Einzelfall oft schwierig abgegrenzt werden, welche Tätigkeiten oder Wege im eigenen Wohnraum noch privat und welche bereits dem Beruf geschuldet sind. Die Haustürschwelle bietet hier eine klare Zäsur. So erklärt sich, warum die Rechtsprechung – auch in früheren Fällen – konsequent den Versicherungsschutz erst ab der Haustür greifen lässt. Diese starre Grenze sorgt letztlich dafür, dass Versicherte wissen, woran sie sind, und Streitigkeiten auf ein Minimum reduziert werden können.

Ausnahme: Homeoffice vs. Rufbereitschaft zu Hause

Eine wichtige Besonderheit betont das Gericht: Anderes kann gelten, wenn die Arbeitsstätte selbst im häuslichen Bereich liegt. Stichwort Homeoffice: Wer aufgrund einer Vereinbarung mit dem Arbeitgeber von zu Hause aus arbeitet, genießt den Unfallversicherungsschutz in gleicher Weise, als befände er sich im Betrieb. Bei einer Homeoffice-Tätigkeit könnten also auch Arbeitswege innerhalb des Hauses versichert sein – etwa der Gang zur Küche oder zum Drucker, sofern er in direktem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit steht (hierzu gibt es bereits entsprechende Urteile des Bundessozialgerichts). Wichtig: Diese Homeoffice-Regelung greift nur, wenn tatsächlich eine berufliche Tätigkeit im Haushalt ausgeübt wird.

Eine bloße Rufbereitschaft zu Hause zählt gerade nicht als Homeoffice-Tätigkeit. Der on-call Arbeitnehmer verrichtet in dieser Zeit keine aktive Arbeit, sondern kann seine Zeit weitgehend frei gestalten – er darf schlafen, fernsehen, privaten Interessen nachgehen und muss erst bei Bedarf tätig werden. Solange kein Einsatz läuft, liegt also reine Privatsphäre vor. Genau deshalb gibt es während der Rufbereitschaft zu Hause zunächst keinen gesetzlichen Unfallschutz im Haushalt: Der Versicherungsschutz „greift grundsätzlich nicht schon bei einem Unfall innerhalb des Wohngebäudes, sondern erst dann, wenn das Wohnhaus durch die Außentür verlassen wird, um den Arbeitsweg anzutreten“. Erst wenn tatsächlich ein Arbeitseinsatz beginnt (z.B. durch Verlassen des Hauses zum Noteinsatz oder – in anderen Branchen – durch aktive Arbeitsleistungen via Telefon/Computer), bewegt man sich im versicherten Bereich.

Beispiel: Ein IT-Techniker in Rufbereitschaft wird telefonisch alarmiert, um von seinem Heimcomputer aus einen Server neu zu starten. Während er zum Arbeitszimmer eilt, stolpert er über ein Kabel und verletzt sich. – Versichert oder nicht? Hier käme es darauf an, ob seine Rufbereitschaft praktisch einer Homeoffice-Tätigkeit gleichkommt. Muss der Techniker tatsächlich von zu Hause aus arbeiten (z.B. am Computer Eingriffe vornehmen), könnte dieser Unfall als Arbeitsunfall anerkannt werden, da er auf einem beruflich veranlassten Weg im Haushalt passiert. In vielen klassischen Rufbereitschaft-Fällen (wie beim Abschleppdienstfahrer) ist aber ein Hinausfahren zum Einsatzort nötig. In solchen Konstellationen beginnt der Arbeitsweg eben erst draußen – und Unfälle im Wohnbereich bleiben privat.

Folgen für Beschäftigte: Risiken kennen und vorbeugen

Das Urteil macht deutlich, wie streng die Abgrenzung beim Unfallversicherungsschutz gezogen ist. Für Arbeitnehmer, die Rufbereitschaft von zu Hause leisten, bedeutet das: Bis die Haustür hinter einem ins Schloss fällt, besteht kein gesetzlicher Unfallschutz. Stürzt man also im eigenen Haus oder auf der Wohnungs-Treppe während der Alarmierung, steht man grundsätzlich ohne Unfallversicherungsschutz da. Die Konsequenzen können gravierend sein – denn ein anerkannter Arbeitsunfall hätte Vorteile: Die Berufsgenossenschaft käme für Heilbehandlung, Rehabilitation und ggf. Verletztengeld oder eine Unfallrente auf. Bleibt der Unfall unversichert, müssen Beschäftigte ihren Schaden über die eigene Krankenversicherung tragen und haben keinen Anspruch auf besondere Leistungen der Unfallkasse.

Arbeitnehmer sollten daher einige Vorsichtsmaßnahmen beherzigen:

  • Sicherheit im Wohnbereich: Halten Sie Wege frei und beseitigen Sie Stolperfallen in Ihrer Wohnung, besonders wenn Sie in Rufbereitschaft sind. Im geschilderten Fall lag ein Backstein im Treppenhaus – ein solches Hindernis hätte im versicherten Außenbereich vielleicht eine Mitverantwortung anderer begründet, war hier aber im privaten Bereich allein sein Risiko. Achten Sie also darauf, dass Treppen, Flure und Ausgänge in Ihrem Zuhause gut beleuchtet und hindernisfrei sind, falls Sie nachts eilig losmüssen.
  • Privater Unfallschutz: Überlegen Sie, ob eine private Unfallversicherung sinnvoll ist. Diese kann zumindest finanziell einspringen, wenn ein Unfall außerhalb des gesetzlichen Unfallschutzes passiert. Gerade wer häufig Rufbereitschaft leistet, könnte so für zusätzliche Absicherung sorgen. Auch Arbeitgeber gewähren mitunter Zusatzversicherungen oder Angebote für solche Fälle – informieren Sie sich, ob es betriebliche Regelungen gibt.
  • Im Ernstfall richtig melden: Falls während der Rufbereitschaft ein Unfall passiert, sollte er dennoch der Berufsgenossenschaft gemeldet werden – auch wenn die Erfolgsaussichten auf Anerkennung gering erscheinen. In manchen Grenzfällen (z.B. wenn doch ein wenig Arbeitsbezug nachweisbar war) lohnt es sich, die Entscheidung der Versicherung prüfen zu lassen. Notfalls kann rechtlich geklärt werden, ob nicht doch ein Arbeitsunfall vorliegt. Wichtig: Unfälle auf dem direkten Arbeitsweg außerhalb des Hauses sind selbstverständlich weiterhin melde- und versicherungspflichtig.

Hinweise für Arbeitgeber: Planung und Aufklärung

Auch Arbeitgeber sollten diese Rechtslage kennen. Für Sie bedeutet das Urteil:

  • Keine automatische Haftung im Privatbereich: Verunfallt ein Mitarbeiter während Rufbereitschaft daheim (und noch nicht auf dem Arbeitsweg draußen), greift die gesetzliche Unfallversicherung nicht – dementsprechend drohen dem Arbeitgeber in der Regel keine Haftungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Das kann etwa relevant werden, wenn es um Ausfallzeiten oder Lohnfortzahlung geht: Ein nicht versicherter Unfall ist ein „Privatunfall“ des Arbeitnehmers, für den kein Wegeunfall-Ausgleich durch die BG erfolgt.
  • Aufklärung der Mitarbeiter: Es empfiehlt sich, Mitarbeiter, die Rufbereitschaft leisten, auf diese Abgrenzung hinzuweisen. Viele Arbeitnehmer gehen irrig davon aus, bei einem Alarm vom ersten Moment an voll unfallversichert zu sein. Klare Informationen (z.B. im Rufbereitschafts-Vertrag oder in einer Dienstanweisung) können Missverständnisse vermeiden. So wissen Mitarbeiter, dass sie bis zum Verlassen des Hauses besonders vorsichtig sein und im Zweifel eigene Vorsorge treffen sollten.
  • Organisation der Rufbereitschaft: In manchen Branchen besteht die Möglichkeit, Rufbereitschaften alternativ als Bereitschaftsdienst am Arbeitsplatz zu organisieren. Beim Bereitschaftsdienst hält sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort (oft dem Betrieb oder einer Unterkunft) auf. Unfälle dort würden regelmäßig im betrieblichen Bereich passieren und eher vom Unfallversicherungsschutz erfasst sein. Wo praktikabel, könnte ein solcher Wechsel von Rufbereitschaft zu Bereitschaftsdienst erwogen werden – etwa um ältere Arbeitnehmer zu entlasten. Natürlich ist das nicht überall umsetzbar, aber es zeigt eine Option auf: Je näher die Mitarbeiter am Arbeitsplatz sind, desto eher greift der Unfallschutz.

Klare Linie – aber Wachsamkeit gefragt

Das LSG-Urteil mag für Betroffene im ersten Moment ernüchternd sein: Wer während der Rufbereitschaft in den heimischen vier Wänden verunglückt, geht in aller Regel leer aus, solange er das Haus noch nicht verlassen hat. Diese strikte Linie folgt jedoch einer logischen Systematik des gesetzlichen Unfallversicherungsrechts – sie schafft Rechtssicherheit und klare Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben. Arbeitnehmer in Rufbereitschaft tun gut daran, sich dieses „versicherungsfreien“ Risikos bewusst zu sein und entsprechende Vorsicht walten zu lassen. Arbeitgeber sollten die Rahmenbedingungen ihrer Rufbereitschaftsregelungen überprüfen und ihre Belegschaft informieren, um Überraschungen im Schadensfall vorzubeugen.

Bei weiteren Fragen zum gesetzlichen Unfallversicherungsschutz oder zur Gestaltung von Rufbereitschaften stehen wir Ihnen gerne beratend zur Seite. Fachanwalt Dr. jur. Jens Usebach LL.M. und sein Team helfen Arbeitgebern wie Arbeitnehmern, rechtliche Fallstricke zu vermeiden und im Ernstfall die richtigen Schritte einzuleiten. Kontaktieren Sie uns für eine individuelle Beratung.