Arbeitsunfälle passieren schnell – doch ob ein Arbeitgeber dafür Schmerzensgeld zahlen muss, hängt von einem entscheidenden Faktor ab: dem Vorsatz. Ein aktuelles Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Rheinland-Pfalz bestätigt, dass Arbeitgeber nur dann zum Schadenersatz (insbesondere Schmerzensgeld) herangezogen werden können, wenn sie den Unfall vorsätzlich herbeigeführt haben. In allen anderen Fällen übernimmt die gesetzliche Unfallversicherung die Folgen des Arbeitsunfalls, und der Arbeitgeber ist von der Haftung freigestellt. Für Arbeitnehmer bedeutet das: Die Unfallkasse zahlt zwar Behandlung, Verletztengeld oder Rente, aber Schmerzensgeld für erlittene Schmerzen gibt es nur, wenn der Arbeitgeber die Verletzung bewusst gewollt oder zumindest billigend in Kauf genommen hat.
Gesetzliche Unfallversicherung: Haftungsfreistellung des Arbeitgebers
Grundlage dieser Rechtslage ist § 104 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VII. Arbeitsunfälle (und anerkannte Berufskrankheiten) werden in Deutschland durch die Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen abgedeckt. Dafür zahlen Arbeitgeber Beiträge – im Gegenzug sind sie bei Unfällen ihrer Beschäftigten in aller Regel haftungsfrei gestellt. Personenschäden der Beschäftigten werden durch die Unfallversicherung abgegolten; ein direkter zivilrechtlicher Anspruch gegen den Arbeitgeber besteht grundsätzlich nicht. Dieser Haftungsausschluss erstreckt sich auch auf immaterielle Schäden wie Schmerzensgeld. Weder der Arbeitgeber noch die Unfallversicherung zahlen üblicherweise ein Schmerzensgeld bei Arbeitsunfällen – eine Ausnahme gibt es jedoch: Vorsatz des Arbeitgebers. Nur wenn der Arbeitgeber den Arbeitsunfall vorsätzlich verursacht hat, entfällt seine Haftungsprivilegierung und er muss für sämtliche Schäden aufkommen, einschließlich Schmerzensgeld.
Wichtig zu wissen: Selbst grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers genügt nicht, um diese Hürde zu überwinden. Die Rechtsprechung fordert einen doppelten Vorsatz („Absicht im doppelten Sinne“): Der Arbeitgeber muss vorsätzlich eine Schutzpflichtverletzung begehen und vorsätzlich den daraus resultierenden Schaden herbeiführen wollen. Es reicht also nicht, dass gegen Arbeitsschutzvorschriften oder Unfallverhütungsvorschriften verstoßen wurde – zusätzlich muss der Arbeitgeber den Verletzungserfolg (die Gesundheitsschädigung des Arbeitnehmers) zumindest billigend in Kauf genommen haben. Diese Einschränkung soll verhindern, dass jede bewusst riskante Handlung im Betrieb automatisch als vorsätzliche Körperverletzung gewertet wird. Nur in krassen Ausnahmefällen – etwa wenn der Unternehmer schwere Gesundheitsschäden als nahezu unvermeidliche Folge seines Handelns vorausgesehen und akzeptiert hat – haften Arbeitgeber persönlich auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.
LAG-Fall: Paletten-Unfall nach langem Arbeitstag
Ein anschauliches Beispiel liefert das Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 02.08.2018 (Az. 5 Sa 298/17). In dem Fall war eine Verkäuferin in einem Einzelhandelsmarkt bei Aufräumarbeiten verletzt worden: Nach rund zehn Stunden Arbeitszeit rutschte ihr beim Verräumen einer Lieferung eine schwere Europalette (über 30 kg) aus den Händen und fiel auf ihren Fuß. Die Arbeitnehmerin brach sich zwei Zehen und fiel zunächst sechs Wochen lang arbeitsunfähig aus. In der Folge traten weitere gesundheitliche Probleme auf (u. a. ein beidseitiges Karpaltunnel-Syndrom, das später als Berufskrankheit anerkannt wurde). Nachdem sie nach kurzen Wiedereinsätzen erneut zusammenbrach, war die Mitarbeiterin ab Mai 2016 für über ein Jahr ununterbrochen krankgeschrieben. Schließlich kündigte der Arbeitgeber – der Inhaber des Einzelhandelsmarkts – das Arbeitsverhältnis im April 2018 aus betrieblichen Gründen.
Die Verkäuferin machte gegenüber dem Arbeitgeber Schmerzensgeld und Schadenersatz in Höhe von insgesamt ca. 23.000 € geltend. Ihr Vorwurf: Der Arbeitgeber habe grob gegen Arbeitsschutzvorschriften verstoßen und damit fahrlässig (später argumentierte sie: vorsätzlich) ihre Gesundheit geschädigt. So habe sie am Unfalltag 13 Stunden ohne ausreichende Pausen arbeiten müssen – deutlich mehr als das Arbeitszeitgesetz erlaubt. Zudem habe sie die schweren Getränkepaletten ohne Schutzkleidung und technische Hilfsmittel bei Regen verräumen müssen, weil Personal fehlte. Diese Arbeitsbedingungen (Übermüdung, Nässe, fehlende Sicherheitsschuhe) hätten wesentlich zum Unfall beigetragen. Auch in der Zeit danach habe der Arbeitgeber trotz erkennbarer Überlastung keine wirksamen Maßnahmen ergriffen, um weitere Gesundheitsschäden zu verhindern. Aus Sicht der Klägerin verletzte der Arbeitgeber unter anderem das Arbeitszeitgesetz, das Arbeitsschutzgesetz und die Lastenhandhabungsverordnung in grober Weise – damit liege ein “gesetzlich verbotenes Fehlverhalten” vor, das Schmerzensgeld begründe. Der Arbeitgeber bestritt die Vorwürfe und berief sich auf den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz (§ 104 SGB VII), der seine Haftung ausschließe.
Gerichtsurteil: Kein Schmerzensgeld mangels Vorsatz
Das Landesarbeitsgericht gab letztlich dem Arbeitgeber Recht – die Klage auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wurde abgewiesen. Zur Begründung verwies das Gericht auf den hohen Haftungsmaßstab des § 104 SGB VII: Ein Anspruch gegen den Arbeitgeber bestehe nur, wenn dieser den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt habe. Im konkreten Fall ließ sich ein solcher Vorsatz nicht nachweisen. Allein die bewusste Missachtung von Arbeitnehmerschutzvorschriften genügt nicht, um Vorsatz im juristischen Sinne anzunehmen. Auch wenn der Arbeitgeber hier möglicherweise gegen Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregeln verstoßen hat, bedeutete das nicht, dass er die Verletzung der Mitarbeiterin billigend in Kauf genommen hat. Die Richter betonten, man dürfe eine vorsätzliche Pflichtverletzung mit nachfolgendem ungewollten Unfall nicht einem gewollten Erfolg gleichsetzen. Mit anderen Worten: Nur weil ein Arbeitgeber wissentlich eine Regel missachtet (z. B. keine Sicherheitsschuhe zur Verfügung stellt oder überlange Schichten zulässt), heißt das nicht automatisch, dass er einen Unfall absichtlich provoziert. Würde man hier jeden bewussten Verstoß als Vorsatz werten, gäbe es kaum noch Fälle “nur” fahrlässiger Arbeitgeberfehler – nahezu jeder Verstoß würde zur vollen Haftung führen. Das entspricht nicht der Intention des Gesetzes.
Im LAG-Fall konnte die Klägerin zwar zahlreiche Unzulänglichkeiten im Betrieb aufzeigen, jedoch keinen Beweis erbringen, dass der Inhaber ihren Gesundheitsschaden wissentlich in Kauf nahm. So fehlten konkrete Nachweise, wann und wie oft sie tatsächlich länger als 10 Stunden arbeitete, in welchem Umfang sie alleine schwere Kisten heben musste und ob der Arbeitgeber die Gefahr für ihre Gesundheit erkannte. Widersprüche und pauschale Behauptungen reichten dem Gericht nicht aus. Folglich blieb es beim Haftungsausschluss: Die Berufsgenossenschaft trägt den Schaden, ein Schmerzensgeld vom Arbeitgeber gibt es nicht. Das Urteil zeigt exemplarisch, wie hoch die Hürden für Arbeitnehmer in solchen Fällen sind – und dass Arbeitgeber in der Regel nur bei nachgewiesenem Vorsatz persönlich haften.
Was bedeutet das für Arbeitnehmer?
Für Arbeitnehmer ist wichtig zu wissen, dass Schmerzensgeldforderungen nach Arbeitsunfällen nur in seltensten Fällen Erfolg haben. Einige Praxistipps für Beschäftigte:
- Unfall sofort melden: Melden Sie jeden Arbeitsunfall umgehend dem Arbeitgeber und lassen Sie ihn als Arbeitsunfall von der Berufsgenossenschaft aufnehmen. So sichern Sie Ihren Anspruch auf Leistungen (wie Heilbehandlung, Verletztengeld, Rehabilitation). Schmerzensgeld steht Ihnen dabei zunächst nicht automatisch zu.
- Schmerzensgeld nur bei Vorsatz: Wollen Sie zusätzlich Schmerzensgeld vom Arbeitgeber verlangen, müssen harte Beweise her. Sie müssen nachweisen können, dass der Chef den Unfall billigend in Kauf nahm oder sogar absichtlich herbeiführte. Das bedeutet oft eine nahezu unmögliche Beweislage – Aussagen wie “er hat gegen Arbeitsschutzregeln verstoßen” reichen nicht. Dokumentieren Sie daher genau eventuelle extreme Anweisungen oder Warnungen, die der Arbeitgeber ignoriert hat. Ohne klaren Vorsatznachweis wird die Klage scheitern.
- Behörden einschalten: Bei schweren Missständen (etwa systematische Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz, keine Schutzmaßnahmen bei Gefahrstoffen oder permanent überlastende Arbeitsbedingungen) sollten Sie die zuständige Arbeitsschutzbehörde informieren. Die Gewerbeaufsichtsämter können Kontrollen durchführen und den Arbeitgeber anhalten, die Regeln einzuhalten. Zwar bringt Ihnen das kein Schmerzensgeld, aber es verbessert die Arbeitsbedingungen und schützt Sie und Kollegen vor weiteren Unfällen.
- Leistungen der Unfallversicherung nutzen: Ist ein Arbeitsunfall passiert, konzentrieren Sie sich darauf, alle Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung auszuschöpfen. Nach Ende der Lohnfortzahlung erhalten gesetzlich Versicherte in der Regel Krankengeld von der Krankenkasse und anschließend Verletztengeld von der Berufsgenossenschaft. Bei dauerhaften Folgen kommt eine Unfallrente in Betracht. Diese Sozialleistungen sind oft der einzige finanzielle Ausgleich, da zusätzliche zivilrechtliche Ansprüche gegen den Arbeitgeber meist ausgeschlossen sind.
Was bedeutet das für Arbeitgeber?
Für Arbeitgeber zeigt dieses Urteil zweierlei: Einerseits genießen Unternehmen einen weitreichenden Haftungsschutz bei Arbeitsunfällen – solange kein Vorsatz im Spiel ist. Andererseits dürfen Sie das nicht als Freibrief verstehen, die Arbeitssicherheit zu vernachlässigen. Folgende Handlungsempfehlungen lassen sich ableiten:
- Arbeitsschutz ernst nehmen: Prävention ist die beste Versicherung. Sorgen Sie für sichere Arbeitsbedingungen, um Unfälle zu vermeiden. Halten Sie die Arbeitszeitgrenzen ein (maximal 8 Stunden pro Werktag, ausnahmsweise 10 Stunden mit Ausgleich) und vermeiden Sie regelmäßige Übermüdung Ihrer Mitarbeiter. Stellen Sie erforderliche Schutzausrüstung (z. B. Sicherheitsschuhe, Wetterschutzkleidung) bereit und schulen Sie Ihre Beschäftigten in sicherem Arbeiten. Verstöße gegen Arbeitsschutzvorschriften können nicht nur behördliche Bußgelder oder Auflagen nach sich ziehen, sondern im Ernstfall sogar als Vorsatz ausgelegt werden, falls doch etwas passiert.
- Gefährdungsbeurteilungen und Unterweisungen: Erfüllen Sie Ihre Pflichten nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und Arbeitssicherheitsgesetz. Führen Sie für alle Arbeitsplätze Gefährdungsbeurteilungen (§ 5 ArbSchG) durch und dokumentieren Sie diese. Insbesondere bei körperlich belastenden Tätigkeiten (z. B. regelmäßiges Heben schwerer Lasten) sind technische Hilfsmittel (Hubwagen, Hebehilfen) bereitzustellen und die Lastenhandhabungsverordnung strikt einzuhalten. Unterweisen Sie Mitarbeiter regelmäßig über richtiges Heben und Tragen sowie allgemeine Unfallverhütung. Ein Arbeitgeber, der nachweislich alle zumutbaren Schutzmaßnahmen ergriffen hat, entfernt sich schon damit weit vom Vorwurf eines billigenden Inkaufnehmens von Gesundheitsschäden.
- Arbeitsmedizinische Betreuung: Binden Sie einen Betriebsarzt und eine Fachkraft für Arbeitssicherheit ein (wie vom Arbeitssicherheitsgesetz vorgesehen). Diese Experten helfen, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren früh zu erkennen und zu verhindern. Im genannten Fall wurde dem Arbeitgeber vorgeworfen, erst sehr spät (nach Auftreten der Erkrankungen) für betriebsärztliche Betreuung gesorgt zu haben – ein Versäumnis, das Sie unbedingt vermeiden sollten. Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen und eine proaktive Gesundheitsprävention zeigen, dass Sie das Wohl Ihrer Mitarbeiter im Blick haben.
- Dokumentation und Reaktion: Führen Sie ein Verzeichnis von Arbeitsunfällen (Unfallbuch) und reagieren Sie auf jeden Vorfall mit geeigneten Maßnahmen. Analysieren Sie die Unfallursachen und verbessern Sie die Arbeitsschutzstandards, wo nötig. Wenn Mitarbeiter oder deren Angehörige auf Sicherheitsprobleme hinweisen (wie im geschilderten Fall geschehen), nehmen Sie diese ernst und stellen Sie Mängel umgehend ab. Eine offene Sicherheitskultur kann nicht nur Unfälle verhindern, sondern bewahrt Sie im Zweifel auch vor dem Vorwurf, Warnungen ignoriert zu haben.
- Vorsatz unbedingt vermeiden: Der Schutzschirm der Unfallversicherung greift nur, solange Ihnen kein Vorsatz angelastet wird. Nie darf der Eindruck entstehen, Sie würden schwere Unfälle billigend in Kauf nehmen. Die Rechtsprechung zieht die Linie zwar erst bei doppeltem Vorsatz, doch jede bewusste Regelmissachtung erhöht das Risiko, im Fall der Fälle persönlich zu haften. Verlassen Sie sich also nicht darauf, dass „schon die Berufsgenossenschaft zahlt“. Im Worst Case – etwa wenn Sie trotz Kenntnis einer akuten Gefahr nichts unternehmen und ein Mitarbeiter dadurch verunglückt – können Sie sich dem Vorwurf einer vorsätzlichen Schädigung ausgesetzt sehen. Dann haften Sie privat und unbeschränkt für alle Folgen.
Das LAG Rheinland-Pfalz hat klargestellt, dass Schmerzensgeldansprüche nach Arbeitsunfällen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen gegen den Arbeitgeber durchsetzbar sind. Arbeitnehmer sollten sich dessen bewusst sein und vor allem auf Prävention sowie die gesetzlichen Unfallversicherungsleistungen vertrauen. Arbeitgeber können zwar darauf bauen, dass sie bei „einfacher“ Fahrlässigkeit nicht zur Kasse gebeten werden – trotzdem müssen sie alles Zumutbare tun, um Unfälle zu verhindern. Arbeitsschutz ist nicht nur gesetzliche Pflicht, sondern auch im ureigenen Interesse des Unternehmers: Gesunde, motivierte Mitarbeiter und die Vermeidung von Unfällen zahlen sich langfristig aus – juristisch wie wirtschaftlich. Wer Vorsorge trifft, muss den Vorsatz nicht fürchten.