Schutz der Unabhängigkeit polnischer Richter: Kommission verklagt Polen vor EuGH

01. April 2021 -

Die Europäische Kommission hat am 31.03.2021 entschieden, Polen wegen seines Justizgesetzes vom 20.12.2019 vor dem EuGH zu verklagen.

Aus EU-Aktuell vom 31.03.2021 ergibt sich:

Die Kommission ersucht den Gerichtshof außerdem, einstweilige Maßnahmen anzuordnen, bis ein endgültiges Urteil in der Sache fällt. Nach Auffassung der Kommission verstößt Polen gegen EU-Recht, weil das Land zulässt, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet ist – weiter Entscheidungen trifft, die unmittelbare Auswirkungen auf die Richter und die Art und Weise haben, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen. Dies ist bereits das vierte Vertragsverletzungsverfahren im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, bei dem die Kommission Polen vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt.

Nach Auffassung der Kommission gefährdet das polnische Justiz-Gesetz die richterliche Unabhängigkeit der polnischen Richter und ist mit dem Vorrang des EU-Rechts unvereinbar. Darüber hinaus hindert das neue Gesetz die polnischen Gerichte daran, bestimmte Bestimmungen des EU-Rechts zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit unmittelbar anzuwenden und dem Gerichtshof entsprechende Fragen zu Vorabentscheidung vorzulegen.

Außerdem verstößt Polen gegen EU-Recht, weil das Land zulässt, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet ist – weiter Entscheidungen trifft, die unmittelbare Auswirkungen auf die Richter und die Art und Weise haben, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen. Hierzu gehören unter anderem die Aufhebung der Immunität von Richtern im Hinblick auf ihre strafrechtliche Verfolgung und die damit verbundene vorübergehende Suspendierung vom Dienst und Kürzung der Bezüge. Allein die Möglichkeit eines Verfahrens vor einem Gremium, dessen Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist, hat einen Einschüchterungseffekt auf Richter und kann ihre eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen.

Obwohl die Kommission im Laufe des Vertragsverletzungsverfahrens Polen eine mit Gründen versehene Stellungnahme und eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme übermittelt hat, werden die beanstandeten Bestimmungen des polnischen Justiz-Gesetzes weiterhin angewandt.

Neben der Verweisung der Rechtssache an den Gerichtshof hat die Kommission den Gerichtshof deswegen heute auch ersucht, einstweilige Maßnahmen anzuordnen, um eine Verschlimmerung des schweren und nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsordnung der EU zu verhindern.

In ihrem Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung wird die Kommission den Gerichtshof um Folgendes ersuchen:
• die Bestimmungen auszusetzen, die die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts ermächtigen, über Anträge auf Aufhebung der richterlichen Immunität sowie über Fragen der Beschäftigung, der sozialen Sicherheit und der Pensionierung von Richtern des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden,
• die Auswirkungen der bereits von der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts getroffenen Entscheidungen über die Aufhebung der richterlichen Immunität auszusetzen, und
• die Bestimmungen auszusetzen, die polnische Richter daran hindern, bestimmte Vorschriften des EU-Rechts zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit unmittelbar anzuwenden und dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen zu solchen Fragen vorzulegen, sowie die Bestimmungen, die diesbezügliche Maßnahmen von Richtern als Disziplinarvergehen qualifizieren.

Hintergrund

Die Rechtsstaatlichkeit gehört zu den gemeinsamen Grundsätzen und Werten, auf die sich die Europäische Union gründet. Sie ist in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankert. Die Rechtsstaatlichkeit ist auch für das Funktionieren der EU als Ganzes von wesentlicher Bedeutung, beispielsweise für den Binnenmarkt und die Zusammenarbeit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der auf gegenseitiger Zusammenarbeit und Anerkennung beruht. Sie stellt zudem sicher, dass nationale Richter, die auch „EU-Richter“ sind, ihre Rolle bei der Gewährleistung der Anwendung des EU-Rechts wahrnehmen und im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren ordnungsgemäß mit dem Gerichtshof interagieren können. Den EU-Verträgen zufolge ist die Europäische Kommission zusammen mit den anderen Organen und den Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Rechtsstaatlichkeit als Grundwert der Union zu garantieren und für die Achtung des Rechts, der Werte und der Grundsätze der EU zu sorgen.

Am 20. Dezember 2017 setzte die Kommission erstmals das Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 in Gang und legte einen begründeten Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen vor. Im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ gab es bereits mehrere Aussprachen und drei Anhörungen zur Rechtsstaatlichkeit in Polen.

Am 29. Juli 2017 leitete die Kommission wegen des polnischen Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, insbesondere wegen seiner Bestimmungen über die Pensionierung und ihrer Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz, ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 20. Dezember 2017 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof der EU. Am 5. November 2019 erging ein endgültiges Urteil des Gerichtshofs, in dem der Standpunkt der Kommission in vollem Umfang bestätigt wurde.

Des Weiteren leitete die Kommission am 2. Juli 2018 wegen des polnischen Gesetzes über das Oberste Gericht, insbesondere wegen seiner Bestimmungen über die Pensionierung und ihrer Auswirkungen auf die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts, ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 24. September 2018 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof der EU. Am 17. Dezember 2018 erließ der Gerichtshof eine rechtskräftige einstweilige Anordnung, um die Umsetzung des polnischen Gesetzes über das Oberste Gericht zu unterbinden. Am 24. Juni 2019 erging ein endgültiges Urteil des Gerichtshofs, in dem der Standpunkt der Kommission in vollem Umfang bestätigt wurde.

Am 3. April 2019 leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren mit der Begründung ein, dass die neue Disziplinarregelung die richterliche Unabhängigkeit der polnischen Richter beeinträchtigt und nicht die vom Gerichtshof der Europäischen Union geforderten notwendigen Garantien für den Schutz der Richter vor politischer Kontrolle bietet. Am 10. Oktober 2019 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof der EU. Am 14. Januar 2020 beantragte die Kommission beim Gerichtshof eine einstweilige Anordnung gegen Polen mit der Maßgabe, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts ihre Tätigkeit aussetzen muss. Am 8. April 2020 entschied der Gerichtshof, dass Polen die Anwendung der nationalen Bestimmungen über die Befugnisse der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts im Hinblick auf Disziplinarangelegenheiten, die Richter betreffen, unverzüglich aussetzen muss, und bestätigte vollumfänglich den Standpunkt der Kommission. Dieser Beschluss gilt, bis der Gerichtshof sein endgültiges Urteil im Vertragsverletzungsverfahren gesprochen hat.

Das Gesetz vom 20. Dezember 2019, mit dem eine Reihe von Rechtsakten, die die Funktionsweise des polnischen Justizsystems regeln, geändert wird, ist am 14. Februar 2020 in Kraft getreten. Am 29. April 2020 übermittelte die Kommission Polen ein Aufforderungsschreiben zu diesem Justizgesetz. Am 30. Oktober 2020 setzte die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren mit der Übermittlung einer mit Gründen versehenen Stellungnahme fort. Am 27. Januar übermittelte die Kommission Polen eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme. Polen antwortete darauf am 26. Februar 2021.