Schwerbehinderte in Versorgungswerken – frühere Rente nur mit Abschlägen möglich

Ein aktueller Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (OVG Lüneburg) vom 30.10.2025 (Az. 8 LA 96/24) stellt klar: Berufsständische Versorgungswerke müssen schwerbehinderten Mitgliedern keine vorgezogene Altersrente ohne Abschläge gewähren. Anders als in der gesetzlichen Rentenversicherung, wo schwerbehinderte Versicherte unter bestimmten Voraussetzungen vorzeitig in Rente gehen können, ohne dass Rentenkürzungen erfolgen, dürfen Versorgungswerke eigene Regeln festlegen. Diese unterschiedliche Behandlung verstößt laut dem OVG nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 GG). Im Folgenden erklären wir die Hintergründe dieser Entscheidung, die Unterschiede zwischen der gesetzlichen Rente und der berufsständischen Versorgung und was schwerbehinderte Versicherte in Versorgungswerken beachten sollten.

Gesetzliche Rentenversicherung vs. berufsständische Versorgungswerke

Zunächst lohnt ein Blick auf die Unterschiede zwischen der allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherung und den berufsständischen Versorgungswerken. In der gesetzlichen Rentenversicherung gibt es spezielle Nachteilsausgleiche für schwerbehinderte Menschen. So können Schwerbehinderte – je nach Geburtsjahrgang – mehrere Jahre früher in Rente gehen, ohne Abschläge bei der Rentenhöhe in Kauf nehmen zu müssen. Beispielsweise können Versicherte ab Jahrgang 1964 ihre Altersrente für Schwerbehinderte abschlagsfrei erst mit 65 Jahren erhalten und frühestens mit 62 Jahren (drei Jahre früher) in Anspruch nehmen – dann allerdings mit dem maximalen Abschlag von 10,8 %. Bei älteren Geburtsjahrgängen liegt die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Schwerbehindertenrente noch etwas niedriger (etwa 63 oder 64 Jahre) aufgrund einer stufenweisen Anhebung.

Berufsständische Versorgungswerke – etwa für Rechtsanwälte, Ärzte, Architekten oder Apotheker – funktionieren jedoch eigenständig neben der gesetzlichen Rentenversicherung. Wer Pflichtmitglied in einem Versorgungswerk ist, kann sich in der Regel von der gesetzlichen Rentenversicherung befreien lassen. Dafür müssen die Versorgungswerke ihren Mitgliedern grundsätzlich eine vergleichbare Alterssicherung bieten. Das heißt, sie gewähren Altersrenten, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten, sodass eine grundlegende Absicherung ähnlich der gesetzlichen Rente vorhanden ist. Allerdings müssen die Leistungen nicht identisch mit denen der Deutschen Rentenversicherung sein. Jedes Versorgungswerk hat eine eigene Satzung und Regelungskompetenz, um Leistungen und Voraussetzungen festzulegen.

Ein wichtiger Unterschied: Versorgungswerke kennen keine Sonderregelung für eine vorzeitige Altersrente ohne Abschläge speziell für Schwerbehinderte. Zwar ermöglichen viele Versorgungswerke ebenfalls eine vorzeitige Altersrente, jedoch immer mit Abschlägen bei der Rentenhöhe. So erlaubt zum Beispiel das Rechtsanwaltsversorgungswerk Niedersachsen eine vorgezogene Altersrente bis zu fünf Jahre vor der regulären Altersgrenze – jedoch nur in geminderter Höhe, d.h. mit einem Abschlag gemäß Satzung. Eine Schwerbehinderung führt dort nicht zu einem Wegfall der Abschläge; sie ist für die Altersrente schlicht unerheblich. Stattdessen sichern Versorgungswerke schwerbehinderte Mitglieder auf andere Weise ab: Wenn die Behinderung so gravierend ist, dass die Berufsausübung nicht mehr möglich ist, kann eine Berufsunfähigkeitsrente beantragt werden. Diese entspricht typischerweise der Erwerbsminderungsrente in der gesetzlichen Versicherung und erfüllt die gesetzliche Vorgabe, Leistungen bei verminderter Erwerbsfähigkeit anzubieten. Eine spezielle altersbedingte Rente nur wegen Schwerbehinderung – wie es sie in der gesetzlichen Rente (§ 236a SGB VI) gibt – ist in den Versorgungswerken jedoch nicht vorgesehen.

Finanziert werden die Versorgungswerke im Unterschied zur gesetzlichen Rente ausschließlich durch die Beiträge ihrer Mitglieder. Es handelt sich um berufsständische Solidargemeinschaften, die keine direkten Bundeszuschüsse erhalten. Die Deutsche Rentenversicherung dagegen wird im Umlageverfahren finanziert und im Zweifel durch Bundesmittel gestützt, um ein bestimmtes Rentenniveau zu halten. Das hat praktische Konsequenzen: Wenn ein Versorgungswerk einzelnen Gruppen eine finanzielle Privilegierung gewährt (z.B. abschlagsfreie Frührente nur für Schwerbehinderte), müssten die übrigen Mitglieder dies durch niedrigere Leistungen oder höhere Beiträge ausgleichen. In der gesetzlichen Rentenversicherung werden politische Maßnahmen (wie die Schwerbehindertenrente oder „Rente mit 63“) dagegen von der Allgemeinheit bzw. durch Umlagen und Zuschüsse mitgetragen. Diese strukturellen Unterschiede erklären, warum Versorgungswerke ihre Leistungen eigenständig ausgestalten und dabei andere Prioritäten setzen können als die gesetzliche Rentenversicherung.

Gleichbehandlungsgrundsatz: warum die Ungleichbehandlung zulässig ist

Die Entscheidung des OVG Lüneburg drehte sich um den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz und das Diskriminierungsverbot wegen Behinderung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Grundsätzlich verlangt Art. 3 GG, Wesentlich Gleiches gleich zu behandeln – das heißt, niemand darf willkürlich benachteiligt oder bevorzugt werden. Schwerbehinderte dürfen zudem aufgrund ihrer Behinderung nicht benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 GG). Auf den ersten Blick könnte man daher fragen, ob es nicht eine Ungleichbehandlung darstellt, wenn schwerbehinderte Rentenversicherte im gesetzlichen System besser gestellt sind als schwerbehinderte Mitglieder eines Versorgungswerks.

Das OVG Lüneburg hat hierzu jedoch deutlich gemacht, dass unterschiedliche Rentensysteme auch unterschiedliche Regeln haben dürfen. Der Gleichheitssatz bindet immer nur den jeweiligen Gesetz- oder Satzungsgeber in seinem Zuständigkeitsbereich[4]. Das bedeutet: Der Träger eines Versorgungswerks (bzw. der Gesetzgeber, der ihm die Befugnis gibt, eine Satzung zu erlassen) muss innerhalb dieses Systems Gleichheit wahren, ist aber nicht verpflichtet, die Regelungen eines anderen Systems (hier der gesetzlichen Rentenversicherung) zu übernehmen. Das Versorgungswerk darf eigene Kriterien und Berechnungen festlegen, solange diese innerhalb des Versorgungswerks nicht willkürlich diskriminieren.

Im konkreten Fall stellte das Gericht fest, dass die Satzung der Rechtsanwaltsversorgung Niedersachsen weder direkt noch indirekt gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt. Direkte Benachteiligung liegt nicht vor, denn die Versorgungswerksatzung macht keine Unterscheidung nach Behinderung: Alle Mitglieder – ob mit oder ohne Schwerbehinderung – erhalten die Altersrente zu den gleichen Bedingungen. Schwerbehinderte werden also nicht schlechter gestellt als nicht behinderte Mitglieder; sie haben lediglich keinen Sondervorteil. Auch eine mittelbare (indirekte) Benachteiligung von Schwerbehinderten verneint das OVG. Eine solche läge vor, wenn neutral formulierte Regeln in der Praxis überwiegend Schwerbehinderte schlechter stellen würden. Das sah das Gericht hier nicht gegeben: Der klagende schwerbehinderte Anwalt konnte nicht aufzeigen, dass ihn die Versorgungswerks-Regelung objektiv benachteiligt. Im Gegenteil, er begehrte eine Privilegierung gegenüber seinen nichtbehinderten Kollegen – nämlich eine abschlagsfreie Rente, die anderen nicht zusteht. Eine derartige Besserstellung muss ein Versorgungswerk aber nicht zwingend vorsehen, so das OVG. Es ist verfassungsrechtlich vertretbar, wenn die Satzung auf solche Sonderregeln verzichtet.

Zusammengefasst schützt Art. 3 GG Schwerbehinderte vor Diskriminierung, garantiert aber keinen Anspruch, dass unterschiedliche Versorgungssysteme identische Leistungen bieten. Solange das Versorgungswerk seine Mitglieder intern gleichbehandelt und sachlich gerechtfertigte Regeln hat, ist eine Abweichung von der gesetzlichen Rentenversicherung zulässig. Die eigenständige Regelungskompetenz der Versorgungswerke – im Rahmen der geltenden Gesetze – erlaubt es ihnen, die Rentenbedingungen ihren finanziellen Gegebenheiten und dem Solidargedanken der jeweiligen Berufsgruppe anzupassen, ohne damit automatisch den Verfassungsgrundsatz der Gleichbehandlung zu verletzen.

Hinweise für schwerbehinderte Versicherte im Versorgungswerk

Für schwerbehinderte Mitglieder eines Versorgungswerks ergeben sich aus dieser Rechtslage folgende praktische Tipps:

  • Satzung genau lesen: Informieren Sie sich über die Satzungsregelungen Ihres Versorgungswerks, besonders zu Altersrenten und vorzeitigem Renteneintritt. In der Regel ist dort festgelegt, ab welchem Alter eine vorgezogene Altersrente möglich ist und welche Abschläge pro Monat/Jahr vorzeitiger Rentennahme gelten. Da Versorgungswerke keine speziellen Vorteile für Schwerbehinderte vorsehen, gelten diese Abschläge für alle Mitglieder gleichermaßen.
  • Frühestens mögliches Rentenalter kennen: Im Unterschied zur gesetzlichen Rente, die (je nach Geburtsjahr) schwerbehinderten Menschen einen früheren abschlagsfreien Rentenbeginn ermöglicht (z.B. mit 63 oder 64 statt 65+ Jahren), bieten Versorgungswerke häufig lediglich den generellen Vorruhestand mit Abschlägen an. Planen Sie also mit dem regulären Rentenalter Ihres Versorgungswerks. Wenn Sie dennoch früher ausscheiden möchten, kalkulieren Sie die dauerhaften Rentenminderungen in Ihre Finanzplanung ein.
  • Berufsunfähigkeitsrente vs. Altersrente abwägen: Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen, die eine Berufsausübung unmöglich machen, kommt im Versorgungswerk statt der vorgezogenen Altersrente eher eine Berufsunfähigkeitsrente in Betracht. Diese kann oft schon vor dem 60. Lebensjahr gewährt werden, setzt aber den Nachweis voraus, dass Sie Ihren Beruf gar nicht mehr ausüben können. Prüfen Sie die Voraussetzungen und beantragen Sie gegebenenfalls diese Leistung, wenn eine Weiterarbeit bis zur Altersrente objektiv nicht möglich ist. Beachten Sie aber: Wer eine Berufsunfähigkeitsrente bezieht, kann meist nicht parallel eine Altersrente vorzeitig in Anspruch nehmen – oft schließt die eine Leistung die andere aus (hierzu die genauen Bestimmungen Ihres Versorgungswerks beachten).
  • Kein automatischer Vorteil durch Schwerbehindertenausweis: Seien Sie sich bewusst, dass ein anerkannter Schwerbehindertenausweis zwar in vielen Bereichen Vergünstigungen bringt, im Versorgungswerk jedoch keine frühere abschlagsfreie Rente garantiert. Verlassen Sie sich also nicht darauf, vor der satzungsmäßigen Altersgrenze ohne finanzielle Einbußen in Rente gehen zu können, nur weil dies in der gesetzlichen Rentenversicherung so vorgesehen ist. Eventuell vorhandene Vertrauensschutzregelungen (wie sie im gesetzlichen System für bestimmte Jahrgänge gelten) gibt es in Versorgungswerken in der Regel nicht.
  • Beratung in Anspruch nehmen: Lassen Sie sich bei Bedarf individuell beraten – sowohl vom Versorgungswerk selbst (das Auskünfte zu Ihren Ansprüchen geben kann) als auch von einem Fachanwalt für Sozialrecht oder einem Interessenverband. Eine rechtzeitige Beratung kann helfen, die optimalen Schritte zu planen – sei es Weiterarbeit, Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente oder vorgezogene Altersrente mit den verbundenen Abschlägen. So vermeiden Sie finanzielle Nachteile und wissen, welche Ansprüche Sie realistisch geltend machen können.

Schwerbehinderte sollten bei der Altersvorsorge unbedingt zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischer Versorgung differenzieren. Die Entscheidung des OVG Lüneburg bestätigt, dass Versorgungswerke innerhalb ihres eigenen Systems abweichende Regeln treffen dürfen, ohne den Gleichheitsgrundsatz zu verletzen. Für Betroffene heißt das: Ein Schwerbehindertenausweis allein verschafft im Versorgungswerk keine vorzeitige volle Rente. Wer in einem Versorgungswerk versichert ist, muss sich an den dortigen Altersgrenzen und Bedingungen orientieren – und gegebenenfalls mit Abschlägen planen, sofern man vorzeitig in den Ruhestand gehen möchte. Gleichwohl bieten die Versorgungswerke eine solide Absicherung und im Falle echter Erwerbsunfähigkeit auch Schutz durch eine Berufsunfähigkeitsrente. Wichtig ist, die eigene Versorgungssituation frühzeitig zu prüfen und sich beraten zu lassen, um die richtigen Entscheidungen für den Ruhestand zu treffen. So vermeiden schwerbehinderte Versicherte böse Überraschungen und nutzen die tatsächlich vorhandenen Leistungen ihres Versorgungswerks bestmöglich aus.