Unzulässige Verfassungsbeschwerden gegen Lockerungen und gegen Verlängerungen der Eindämmungsmaßnahmen zur Covid-19 Pandemie

14. Mai 2020 -

Das Bundesverfassungsgericht hat am 13.05.2020 zu den Aktenzeichen 1 BvR 1021/20 und 1 BvR 1027/20 zwei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen Lockerungen und gegen Verlängerungen der Eindämmungsmaßnahmen zur Covid-19 Pandemie richteten.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 36/2020 vom 14.05.2020 ergibt sich:

Die Verfassungsbeschwerde des demnächst 65-jährigen Beschwerdeführers im Verfahren vor der 3. Kammer zielte darauf, Bund und Länder zu verpflichten, Lockerungen staatlicher „Corona-Maßnahmen“ zurückzunehmen. Die Verfassungsbeschwerde eines jüngeren Mannes im Verfahren vor der 1. Kammer zielte umgekehrt darauf, Einschränkungen durch die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung für unter 60 Jahre alte Menschen weiter zu lockern.

Der Beschwerdeführer, der sich aufgrund seines Lebensalters einer Risikogruppe zurechnet, machte geltend, die Lockerungen kämen auch nach Ansicht wissenschaftlicher Studien zu früh und bedrohten sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Lockerungsmaßnahmen seien daher im Wege einstweiliger Anordnung auszusetzen und die Öffnung der Grundschulen einstweilen zu untersagen.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Nach Auffassung des BVerfG war die Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend substantiiert. Sie habe insbesondere nicht den Gestaltungsspielraum berücksichtigt, der dem Staat zustehe, um grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen, und den lediglich prognostischen Gehalt wissenschaftlicher Stellungnahmen. Zwar umfasse das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit die staatliche Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen sowie vor Beeinträchtigungen der Gesundheit zu schützen. Doch komme dem Gesetzgeber dabei ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Daher könne das BVerfG die Verletzung einer Schutzpflicht nur feststellen, wenn überhaupt nichts getan werde, wenn Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben. Das sei hier nicht ersichtlich. Zwar könne mit dem Beschwerdeführer angenommen werden, dass die vollständige soziale Isolation der gesamten Bevölkerung den besten Schutz gegen eine Infektion biete. Doch verletze der Staat grundrechtliche Schutzpflichten nicht, wenn er soziale Kontakte unter bestimmten Bedingungen zulasse. So trage er anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung; zudem könne er die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und sich auch für ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes entscheiden. Daran ändere die fachwissenschaftlichen Stellungnahmen, auf die sich der Beschwerdeführer stütze, nichts, denn sie präsentieren ausdrücklich nicht eine bestimmte Maßnahme, sondern unterschiedliche prognostische Szenarien.

Der jüngere Beschwerdeführer im Verfahren vor der 1. Kammer machte umgekehrt geltend, die fortbestehenden Freiheitsbeschränkungen durch die Dritte und Vierte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung verletzten die Nicht-Risikogruppen der Bevölkerung in ihren Grundrechten.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Soweit der Beschwerdeführer sinngemäß behauptete, die Einschränkungen für die Gruppe derer, die jünger als 60 Jahre sind, seien generell unverhältnismäßig, weil die Gefährdung durch das Coronavirus für sie nicht größer sei als die Gefährdung durch die jährlich auftretenden Influenzaviren und weil niemand zu einem Verhalten gezwungen werden könne, das nur seine eigene körperliche Unversehrtheit schütze, stellte der Beschwerdeführer nicht in Rechnung, dass die Beschränkungen seiner Freiheit auch den Schutz Dritter bezwecken, die stärker gefährdet sind. Zu deren Schutz sei der Staat aber nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich berechtigt und verpflichtet ist.

Soweit der Beschwerdeführer hingegen geltend machte, dass die Freiheit jüngerer Personen nicht zum Schutz von Risikogruppen beschränkt werden dürfe, sondern allein diesen gefährdeten Personengruppen selbst „Quarantänemaßnahmen“ auferlegt werden müssten, führt das – unabhängig davon, ob eine solche Strategie überhaupt praktisch realisierbar wäre – nicht zum Erfolg. Nach dem Grundgesetz sei der Staat nicht darauf beschränkt, den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Begrenzungen deren eigener Freiheit zu bewerkstelligen. Vielmehr dürfe der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch den stärker gefährdeten Menschen ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden könne und sie sich nicht über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssen. Dabei lassen die Grundrechte einen Spielraum für den Ausgleich der widerstreitenden Grundrechte. Dieser Spielraum könne mit der Zeit geringer werden -– etwa bei besonders schweren Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Fachkenntnis über Risiken und anderweitige Eindämmungsmöglichkeiten. Dem trage der Verordnunggeber hier dadurch Rechnung, dass die Freiheitsbeschränkungen von vornherein befristet sind und durch wiederholte Änderungen der Verordnung stetig gelockert werden. Vor diesem Hintergrund hätte der Beschwerdeführer konkreter darlegen müssen, warum er die Grundrechtseingriffe gleichwohl für verfassungswidrig hält.