Verstoß gegen verfassungsmäßige Abgeordnetenrechte durch polizeiliches Betreten von Abgeordnetenbüros

Das Bundesverfassungsgericht hat am 09.06.2020 zum Aktenzeichen 2 BvE 2/19 entschieden, dass der Präsident des Deutschen Bundestages einen Abgeordneten in seinem verfassungsrechtlich geschützten Abgeordnetenstatus dadurch verletzt hat, dass die Polizei beim Deutschen Bundestag seine Abgeordnetenräume betreten hat, um die anlässlich eines Staatsbesuchs des türkischen Staatspräsidenten am Fenster angebrachten Plakatierungen mit Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG zu entfernen.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 53/2020 vom 30.06.2020 ergibt sich:

Der Antragsteller gehört als Mitglied der Fraktion Die Linke dem Deutschen Bundestag an. Am Samstag, dem 29.09.2018, hielt sich der türkische Staatspräsident in Berlin auf. Anlässlich dieses Staatsbesuchs wurden Straßensperrungen im Regierungsviertel vorgenommen, wobei sich innerhalb des gesperrten Gebiets auch das Gebäude mit den Abgeordnetenräumen des Antragstellers befand. Im Bereich der Fenster dieser Räume, die zum abgesperrten Straßenbereich gerichtet sind, hingen auf Papier gedruckte Abbildungen von Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Syrien, jeweils im Format DIN A4. Beamte der Polizei beim Deutschen Bundestag stellten diese Plakatierungen anlässlich eines Kontrollgangs fest, als die Straßensperrungen im Bereich des Gebäudes bereits wieder aufgehoben waren. Der Antragsteller hielt sich zu diesem Zeitpunkt nicht in seinen Abgeordnetenräumen auf. Versuche, ihn telefonisch oder auf anderem Wege zu erreichen, unternahm die Polizei beim Deutschen Bundestag nicht. Die Beamten betraten die Abgeordnetenräume und nahmen die Plakatierungen ab. Der Antragsteller begehrt die Feststellung, dass er durch das Betreten und das Durchsuchen seiner Abgeordnetenräume in seinen verfassungsmäßigen Rechten als Abgeordneter verletzt worden sei.

Das BVerfG hat festgestellt, dass der Antragsteller in seinem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dadurch verletzt ist, dass die Polizei beim Deutschen Bundestag die Abgeordnetenräume des Antragstellers betreten hat.

Nach Auffassung des BVerfG stellt das Handeln der Polizei beim Deutschen Bundestag einen Eingriff in den verfassungsrechtlich geschützten Abgeordnetenstatus dar. Dieser Eingriff ist nicht gerechtfertigt, weil das Vorgehen jedenfalls nicht verhältnismäßig im engeren Sinne war. Im konkreten Fall waren die Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage nur schwach ausgeprägt. Zudem war nicht ersichtlich, dass die Plakatierungen überhaupt von Passanten wahrgenommen worden oder zum Anlass von Angriffen auf das Parlamentsgebäude oder die Mitarbeiter genommen worden wären.

Wesentliche Erwägungen des BVerfG:

  1. Den Abgeordneten des Deutschen Bundestages steht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das Recht zu, die ihnen zugewiesenen Räumlichkeiten ohne Beeinträchtigungen durch Dritte nutzen zu können. Die effektive Wahrnehmung des Mandats setzt in materieller Hinsicht voraus, dass die Abgeordneten eine gewisse Infrastruktur nutzen können, ohne eine unberechtigte Wahrnehmung ihrer Arbeit durch Dritte befürchten zu müssen. Andernfalls bestünde von vornherein die latente Gefahr, dass Arbeitsentwürfe und Kommunikationsmaterial im Zuge entsprechender Maßnahmen wahrgenommen werden und nach außen dringen. Die Freiheit des Mandats erfordert es jedoch, dass der Abgeordnete über Art, Zeitpunkt und Umfang der Veröffentlichung seiner Arbeitsinhalte selbst entscheidet. Ein Eingriff in den durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geschützten Abgeordnetenstatus ist zulässig, wenn und soweit andere Rechtsgüter von Verfassungsrang ihn rechtfertigen. Die Repräsentationsund die Funktionsfähigkeit des Parlaments sind als solche Rechtsgüter von Verfassungsrang anerkannt.
  2. Die streitgegenständliche Maßnahme genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Eingriff in das freie Mandat des Antragstellers nicht.
  3. Dabei kann offenbleiben, ob Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG selbst eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für ein polizeiliches Handeln des Antragsgegners darstellt oder ob es insoweit eines formellen Gesetzes bedurft hätte. Jedenfalls genügt die streitgegenständliche Maßnahme nicht den Anforderungen von Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG. Selbst dann, wenn Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG als eine taugliche Ermächtigungsgrundlage angesehen würde, müsste das polizeiliche Handeln den Anforderungen der Dienstanweisung für den Polizeivollzugsdienst der Polizei beim Deutschen Bundestag (DA-PVD) genügen, die eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift ist. Das ist hier nicht der Fall.
  4. Die Zulässigkeit des Betretens von Abgeordnetenräumen bestimmt sich nach § 23 DA-PVD, der der Polizei beim Deutschen Bundestag das Betreten eines Raums zur Abwehr einer Gefahr gestattet. Zwar mögen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sein. Jedenfalls genügt die streitgegenständliche Maßnahme aber nicht den allgemeinen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit, die auch für ein polizeiliches Handeln des Bundestagspräsidenten gegenüber einem Abgeordneten gelten.
    Hier fehlt es an der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im engeren Sinne. Der Eingriff wiegt schwer. Auf Seiten des Antragstellers sind dessen Statusrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG betroffen, die ein hochrangiges Rechtsgut darstellen. Das freie Mandat sichert gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die freie Willensbildung der Abgeordneten und damit eine von staatlicher Beeinflussung freie Kommunikationsbeziehung zwischen den Abgeordneten und den Wählerinnen und Wählern. Es dient auch dazu, die Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages insgesamt zu gewährleisten. Die Absicht, die Funktionsfähigkeit des Deutschen Bundestages durch die Abwehr äußerer Gefahren zu sichern, wiegt nicht schwerer als die Sicherung der Funktionsfähigkeit durch die Gewährleistung der Integrität der Abgeordnetenbüros. Darüber hinaus waren die Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage nur schwach ausgeprägt. Zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme war nicht ersichtlich, dass Passanten die Plakatierungen bereits wahrgenommen hatten. Die Polizei beim Deutschen Bundestag hatte keinen ersichtlichen Anhaltspunkt anzunehmen, dass jemand bereits im Begriff war, Handlungen zum Nachteil des Parlamentsgebäudes oder der Parlamentsmitarbeiter vorzunehmen. Unabhängig davon war das Provokationspotential gering, denn die Plakatierungen waren nur eingeschränkt wahrnehmbar. Sie waren in einem Format gehalten, das sich bezogen auf die Außenfassade eines Bürokomplexes als äußerst kleinformatig darstellt. Außerdem bestand eine gewisse räumliche Distanz zu den Passanten.