Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung infolge unvollständiger Umsetzung einer anwaltlichen Einzelweisung zur Notierung von Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfrist im Fristenkalender durch Kanzleipersonal

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 15.02.2022 zum Aktenzeichen VI ZB 37/20 entschieden, dass zu den Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung infolge unvollständiger Umsetzung einer anwaltlichen Einzelweisung zur Notierung von Rechtsmittel- und Rechtsmittelbegründungsfrist im Fristenkalender durch Kanzleipersonal Stellung genommen.

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist dem Kläger am 6. Januar 2020 zugestellt worden. Mit am 6. Februar 2020 beim Landgericht eingegangenem Schriftsatz hat der Kläger Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist am 28. März 2020 eingegangen. Mit der Berufungsbegründung hat der Kläger hinsichtlich der versäumten Frist zur Begründung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat der Kläger unter Vorlage einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten R. seiner Prozessbevollmächtigten im Wesentlichen ausgeführt, die Fristversäumnis beruhe allein auf dem Versehen von R. Das amtsgerichtliche Urteil sei seiner Prozessbevollmächtigten am 6. Januar 2020 zur Kenntnis gelangt. Diese habe dies in dem ihr mit dem Urteil übersandten Empfangsbekenntnis vermerkt und Urteil und Empfangsbekenntnis sodann ihrer Angestellten R. mit der konkreten Arbeitsanweisung übergeben, sowohl die einmonatige Notfrist zur Einlegung der Berufung als auch die zweimonatige Frist zur Berufungsbegründung zu notieren. R. habe aus Unachtsamkeit heraus die genannten Fristabläufe dann aber nicht vollständig in den Fristenkalender notiert, sondern allein die Berufungsfrist, nicht hingegen die Frist zur Berufungsbegründung. Erst durch eine routinemäßige Wiedervorlage der Akte am 16. März 2020 sei dieses Versäumnis bemerkt worden. R. sei seit 14 Jahren als Rechtsanwaltsfachangestellte tätig, habe sich in den fünfeinhalb Jahren der Zusammenarbeit mit der Prozessbevollmächtigten des Klägers stets als zuverlässig erwiesen und deren mündliche Anweisungen stets befolgt.

Das Berufungsgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, der Wiedereinsetzungsantrag des Klägers sei zwar zulässig, aber unbegründet. Denn der Kläger habe keine hinreichenden Tatsachen dafür vorgetragen, dass er ohne sein Verschulden an der Wahrung der Frist gehindert gewesen sei. Sein Vortrag schließe eigenes organisatorisches Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten, das er sich gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen habe, nicht aus. Denn ein Rechtsanwalt müsse in den Fällen, in denen er die Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft überlasse, durch eine entsprechende Organisation des Fristenwesens in seiner Anwaltskanzlei sicherstellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert würden. Insbesondere habe er Vorkehrungen für Situationen zu treffen, in denen mögliche Unregelmäßigkeiten und Zwischenfälle einträten, also etwa Fristen entgegen ausdrücklicher Weisung versehentlich nicht im Fristenkalender eingetragen würden. Das Fehlen jeder Sicherung bedeute einen schweren Organisationsmangel, erst Recht wenn die Anweisung nur mündlich erteilt werde. Nach dem Vortrag des Klägers könne im Streitfall nicht davon ausgegangen werden, dass die Büroorganisation seiner Prozessbevollmächtigten diesen Anforderungen an Sicherheitsvorkehrungen genügt habe. So seien organisatorische Sicherungsmaßnahmen für Fälle, in denen mündliche Einzelanweisungen zur Fristenkontrolle ausnahmsweise in Vergessenheit gerieten, nicht dargetan.

Schließlich sei die Berufungskammer nicht gemäß § 139 ZPO verpflichtet gewesen, den Kläger auf die Anforderungen an den Klägervortrag zum fehlenden Organisationsverschulden hinzuweisen. Vielmehr habe es dem Kläger oblegen, innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist vollständig zu den Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung, mithin auch zu einer ausreichenden Büroorganisation, vorzutragen. Das Fehlen solchen Vortrags erlaube den Schluss, dass es an den notwendigen Vorkehrungen gefehlt habe.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung stand.

Nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. März 2012 – XII ZB 277/11, NJW-RR 2012, 743 Rn. 11 f.; vom 25. März 2009 – XII ZB 150/08, FamRZ 2009, 1132 Rn. 19 ff.), die die Rechtsbeschwerde nicht in Frage stellt, hat der Rechtsanwalt, der einem Angestellten eine Begründungsfrist zur Eintragung in den Fristenkalender – wie hier – lediglich mündlich mitteilt, organisatorische Vorkehrungen dahingehend zu treffen, dass die Eintragung entweder sofort erfolgt oder die mündliche Einzelanweisung nicht in Vergessenheit gerät und die Fristeneintragung unterbleibt. Solche Sicherheitsvorkehrungen hat der Kläger mit seinem Wiedereinsetzungsgesuch – wie vom Berufungsgericht zutreffend ausgeführt – weder dargelegt noch glaubhaft gemacht.

Die mit der Rechtsbeschwerde nachgeholten Angaben zu in der Kanzlei der vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers bestehenden Anweisungen sind nicht mehr zu berücksichtigen. Nach § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO muss der Antrag auf Wiedereinsetzung die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen enthalten. Beruht das Versäumnis – wie im Streitfall – auf dem Versehen eines Büroangestellten, so hat die Partei alle Umstände darzulegen, die ein Organisations- oder sonstiges Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten ausschließen (BGH, Beschluss vom 25. März 2009 – XII ZB 150/88, FamRZ 2009, 1132 Rn. 23). Nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist ergänztes Vorbringen ist dabei grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen (vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 13. Juli 2017 – IX ZB 110/16, NJW-RR 2017, 1142 Rn. 14; vom 7. März 2012 – XII ZB 277/11, NJW-RR 2012, 743 Rn. 12; MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 236 Rn. 14).

Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass es das Berufungsgericht unterlassen hätte, einen gemäß § 139 ZPO gebotenen Hinweis zu erteilen. Zwar können im Wiedereinsetzungsverfahren erkennbar unklare oder ungenaue Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, über die Frist nach § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 ZPO hinaus erläutert und vervollständigt werden (vgl. nur Senatsbeschluss vom 16. Oktober 2018 – VI ZB 68/16, NJW-RR 2019, 502 Rn. 7; BGH, Beschlüsse 7. März 2012 – XII ZB 277/11, NJW-RR 2012, 743 Rn. 12; vom 25. März 2009 – XII ZB 150/08, FamRZ 2009, 1132 Rn. 24). Die Ausführungen des Klägers im Wiedereinsetzungsantrag zu etwaigen Sicherheitsvorkehrungen sind im Streitfall aber nicht unklar oder ungenau; vielmehr fehlt insoweit jeglicher Vortrag. Da die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Organisation des Fristenwesens und deren Darlegung im Rahmen eines Wiedereinsetzungsantrags stellt, bekannt sind und einem Anwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein müssen, erlaubt insoweit fehlender Vortrag den Schluss darauf, dass entsprechende Sicherungsvorkehrungen gefehlt haben (vgl. Senatsbeschlüsse vom 25. April 2017 – VI ZB 45/16, NJW-RR 2017, 956 Rn. 9; vom 15. Dezember 2015 – VI ZB 15/15, NJW 2016, 873 Rn. 13; BGH, Beschluss vom 21. Mai 2019 – II ZB 4/18 Rn. 15, juris). Ob die nun von der Rechtsbeschwerde vorgetragenen Sicherungsmaßnahmen – wie die Rechtsbeschwerde meint – Teil einer „routinemäßigen Kanzleiorganisation“ darstellen, was „jeder ausgebildeten Kanzleifachangestellten […] schon in der Schule eingebläut“ wird, ist insoweit ohne Bedeutung. Eine zur Nachfrage verpflichtende Vermutung dahingehend, dass ein tatsächlich eingetretenes Versäumnis nicht auf einer grundsätzlich fehlerhaften Organisation des Fristenwesens, sondern allein auf einem individuellen Fehler eines Angestellten beruht, gibt es nicht.

Da das Berufungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers zu Recht zurückgewiesen hat, ist auch die Verwerfung der Berufung des Klägers als unzulässig wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht zu beanstanden.