Zwangsräumung und Suizidgefahr

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Januar 2024 zum Aktenzeichen2 BvR 26/24 entschieden, dass dann, wenn der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend macht, sich die Tatsacheninstanzen − beim Fehlen eigener Sachkunde − zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen haben, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist.

Die Vollstreckungsgerichte haben den Einfluss und die Wertentscheidungen der Grundrechte auch bei der Handhabung des Verfahrensrechts zu beachten. Dies schließt es aus, bei der Beurteilung der Frage „kleinlich“ zu verfahren, ob sich eine Sachlage so geändert hat, dass eine Aufhebung oder Änderung der im vorangegangenen Vollstreckungsschutzverfahren getroffenen Entscheidung geboten ist. Mit Rücksicht auf die Pflicht des Staates, Verfassungsverletzungen, insbesondere schwerwiegende Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen tunlichst auszuschließen, ist eine solche Änderung der Sachlage etwa auch dann anzunehmen, wenn der Schuldner zwar ein und dieselbe Krankheit als Vollstreckungshindernis bezeichnet, diese jedoch einen Verlauf genommen hat, welcher bei der vorangegangenen Antragstellung und seiner Bescheidung nicht hat vorhergesehen werden können.

In Anbetracht dieser Grundsätze erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass die angegriffenen Entscheidungen dem Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht gerecht geworden sind, indem sie sich maßgeblich darauf gestützt haben, dass eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen sei, dass beim Krankheitsverlauf der Beschwerdeführerin keine Änderung der Sachlage eingetreten sei und dass die bloße Formulierung in den vorgelegten Attesten, dass eine Suizidgefahr im Fall der Räumung „nicht ausgeschlossen werden könne“, das Gericht von einer weiteren Sachaufklärung entbinde.

Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre nicht auszuschließen, dass aufgrund der Durchführung des Räumungstermins möglicherweise nicht rückgängig zu machende Folgen für Leib und Leben der Beschwerdeführerin einträten. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die der Beschwerdeführerin drohenden Nachteile.