OLG Naumburg: Anlassloses Gendern in Urteilen unzulässig – Klarheit und Respekt im Fokus

Urteil „Im Namen des Volkes“: Gerichtsurteile werden im Namen des Volkes verkündet und müssen klar, verständlich und respektvoll formuliert sein. Im Juni 2025 entschied das OLG Naumburg, dass anlassloses Gendern in Urteilen gegen diese Grundsätze verstößt.

Hintergrund des Beschlusses (OLG Naumburg, Beschl. v. 12.06.2025 – 1 ORbs 133/25)

Ein aktueller Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Naumburg vom 12. Juni 2025 sorgt für Diskussion in der juristischen Welt. In dem zugrundeliegenden Fall hatte das Amtsgericht Dessau-Roßlau einen Betroffenen wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit (Tempoverstoß) zu 480 € Bußgeld und einem Monat Fahrverbot verurteilt. Gegen dieses Urteil legte der Betroffene Rechtsbeschwerde ein. Das OLG Naumburg hob daraufhin das Urteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung zurück. Hauptgrund für die Aufhebung waren inhaltliche Mängel der Urteilsgründe – insbesondere fehlende klare Angaben zur Geschwindigkeitsmessung, zur Eichung des Messgeräts und zur Aussage des Messbeamten. Diese Lücken verletzten das Klarheitsgebot und machten das Urteil angreifbar.

Bemerkenswert an diesem Beschluss ist jedoch weniger der Verkehrsverstoß selbst als vielmehr eine stilistische Kritik, die das OLG Naumburg in seinen Gründen aufgriff. Erstmals hat sich damit ein Obergericht ausdrücklich zur Verwendung geschlechtsneutraler Sprache in Gerichtsurteilen geäußert. Das Amtsgericht hatte sein Urteil nämlich in ungewöhnlich genderneutraler Weise formuliert. Der übliche Sprachgebrauch – z.B. Bezeichnungen wie “Betroffener” (für einen männlichen Beteiligten) oder “Sachverständiger” – wurde vom Amtsrichter vermieden. Stattdessen wählte er neutrale Umschreibungen für die Verfahrensbeteiligten: So wurde der männliche Betroffene im Urteil durchgängig als “betroffene Person” bezeichnet, der angehörte Sachverständige als “sachverständige Person” und der Messbeamte als “messverantwortliche Person”. Nur der Richter selbst machte eine Ausnahme: In seinem eigenen Briefkopf nannte er sich klassisch “Richter” und nicht etwa “richtende Person”.

Dieses ungewöhnliche “Gendern” im Urteil stieß auf Kritik der Generalstaatsanwaltschaft (GenStA), welche die Rechtsbeschwerde unterstützte. In ihrer Zuschrift an das OLG bemängelte die GenStA eingangs, solche geschlechtsneutralen Formulierungen hätten in einem hoheitlichen Urteil nichts zu suchen, sofern sie ohne besonderen Anlass verwendet werden. Die obersten Richter:innen in Naumburg schlossen sich dieser Einschätzung an und nahmen die Stilfrage in ihren Beschluss auf. Damit ist der OLG-Beschluss nicht nur für den konkreten Fall relevant, sondern entfaltet Signalwirkung für die künftige Sprache in juristischen Entscheidungen.

Kritik an geschlechtsneutralen Bezeichnungen im Urteil

Worin genau liegt das Problem? Das OLG Naumburg – in Zustimmung zur Generalstaatsanwaltschaft – stellt klar, dass geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen in Urteilstexten in der Regel unangebracht sind, sofern die Beteiligten dies nicht ausdrücklich wünschen. Im Dessauer Urteil wurden identifizierbare Personen mit eindeutigem Geschlecht neutral als “Person” bezeichnet, ohne dass ein solcher Wunsch vorlag. Nach Auffassung des Gerichts wirkt dies unpersönlich und sogar despektierlich. Denn durch derartige Sprache würden Verfahrensbeteiligte gewissermaßen auf ein Neutrum reduziert – das natürliche Geschlecht als wesentliches Persönlichkeitsmerkmal werde ignoriert. Dies könne ihre persönliche Geschlechter-Ehre verletzen bzw. mindern. Mit anderen Worten: Wer ohne Anlass aus einem “Betroffenen” eine neutrale “betroffene Person” macht, riskiert, den Betroffenen in seiner Identität nicht ernst zu nehmen.

Die OLG-Richter heben hervor, dass solche Bezeichnungen nur dann angebracht seien, “wenn die betreffenden Verfahrensbeteiligten ausdrücklich um eine geschlechtsneutrale Bezeichnung nachsuchen”. Andernfalls solle im Urteilstext die typische Bezeichnung verwendet werden – also z.B. Betroffener/Betroffene, Sachverständiger/Sachverständige, Zeuge/Zeugin etc. für männliche bzw. weibliche Personen. Dadurch werde gewährleistet, dass niemand durch ungewohnte Sprachformen vor den Kopf gestoßen wird und dass das Urteil die Beteiligten respektvoll behandelt.

Ein weiterer Punkt der Kritik ist die Verständlichkeit und Klarheit juristischer Entscheidungen. Die GenStA zitierte in ihrer Stellungnahme die höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH) dahingehend, dass die Urteilsgründe “klar und bestimmt sein und alles Unwesentliche fortlassen” sollen. Ausgerechnet im Bemühen um Geschlechtsneutralität könne aber das Gegenteil erreicht werden: Wenn etwa ständig von “betroffener Person” oder “sachverständiger Person” die Rede ist, kann dies den Lesefluss stören und im schlimmsten Fall Verwirrung stiften. Das OLG nennt solche Formulierungen sogar “geschlechtslos oder -verwirrend”, weil unklar bleibt, wer oder was genau gemeint ist. Ein Urteil, in dem die Beteiligten derart ungewohnt betitelt werden, widerspricht laut OLG dem genannten Klarheitsgebot. Besonders deutlich zeigt sich das Problem bei hypothetischen Extremfällen: Die neutrale Umschreibung eines Täters als “tuende Person” oder gar “tat-tuende Person” anstelle von Täter/Täterin würde offensichtlich lächerlich klingen – hier wird klar, dass übertriebenes Gendern die Würde der Sprache (und der Beteiligten) untergräbt.

Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass das OLG Naumburg die Entscheidung des Amtsgerichts nicht allein wegen der Sprache aufgehoben hat. Die geschlechtsneutralen Formulierungen waren vielmehr ein stilistischer Nebenpunkt („B-Note“), während sachlich-rechtliche Mängel (etwa bei der Beweiswürdigung der Geschwindigkeitsmessung) den Hauptaufhebungsgrund darstellten. Gleichwohl hat das Gericht die Sprachthematik explizit angesprochen – ein Hinweis darauf, dass man auch in formeller Hinsicht Wert auf traditionelle Klarheit legt. Rein sprachliches “Gendern” alleine dürfte ein Urteil wohl nur in Ausnahmefällen zu Fall bringen; es kann aber in Verbindung mit inhaltlichen Unklarheiten das Bild eines insgesamt unsauberen, unverständlichen Urteils abrunden. Für die Praxis bedeutet das: Sprache ist kein bloßes Stilmittel, sondern Teil der Sorgfaltspflicht bei Urteilsabfassung.

Rechtspolitische Einordnung: Klarheit versus Inklusivität

Der Beschluss des OLG Naumburg berührt einen rechtspolitisch hochaktuellen Konflikt: Wie soll mit Gender-Sprache im juristischen Kontext umgegangen werden? Einerseits gibt es in Gesellschaft und Verwaltung einen Trend zu geschlechtergerechter Sprache, der Sichtbarkeit für alle Geschlechter schaffen will. Andererseits gelten im Rechtswesen besondere Anforderungen an Präzision, Formalität und Tradition. Die Entscheidung aus Naumburg signalisiert klar, dass im Gerichtswesen Klarheit und Respekt vor der Individualität Vorrang vor experimenteller Sprachgestaltung haben. Ausdrücklich sieht das Gericht die Gefahr einer “Degradierung zum Neutrum” und sogar einer Entmenschlichung, wenn eindeutig männliche oder weibliche Personen neutralisiert werden. Interessanterweise wird hier das Argument der Würde und Ehre ins Feld geführt: Das Bemühen um diskriminierungsfreie Sprache könnte ins Gegenteil umschlagen, nämlich als Geringschätzung der Person aufgefasst werden.

Nicht alle Jurist:innen stimmen jedoch vorbehaltlos zu. Einige rechtspolitische Stimmen – darunter Vertreter juristischer Fachverbände – plädieren dafür, Richter:innen mehr Freiraum in sprachlichen Fragen zu lassen. Sie argumentieren, dass die Sprache sich generell im Wandel befindet und Gerichte sich diesem Wandel nicht vollkommen verschließen sollten. Solange die Verständlichkeit nicht leidet, könne es z.B. im Ermessen des Gerichts liegen, moderne Formen zu nutzen. In der Praxis zeigt sich bereits ein Nebeneinander verschiedener Stile: Manche Urteile (wie hier vom AG Dessau) versuchen, komplett geschlechtsneutral zu formulieren; andere Gerichte verwenden weiterhin das generische Maskulinum oder Doppelformen (z.B. “der/ die Angeklagte”). Auch Gesetzgeber und Verwaltung experimentieren teils mit neutralen Begriffen (“Studierende” statt Studenten) oder mit Doppelnennungen. Einheitliche Vorgaben fehlen bisher – jede Behörde und jedes Gericht kann eigene Sprachregelungen haben. Doch für Gerichtsentscheidungen hat das OLG Naumburg nun ein deutliches Zeichen gesetzt: Ohne konkreten Anlass soll auf Gendersprache verzichtet werden. In Sachsen-Anhalt dürfte diese Linie ab sofort beachtet werden; es bleibt abzuwarten, ob andere Obergerichte oder der BGH sich dieser Auffassung anschließen. Insgesamt unterstreicht der Beschluss, dass Rechtssprache konservativer gehandhabt wird als die Alltagssprache – das Primat liegt auf Verständlichkeit, Tradition und der Wahrung persönlicher Achtung, nicht auf maximaler sprachlicher Inclusivität.

Stilistische Empfehlungen für juristische Texte

Was bedeutet dieser Beschluss nun für die Praxis – sowohl für Jurist:innen (Richter, Anwälte, Referendare) als auch für Mandant:innen? Nachfolgend einige Tipps, wie mit der Thematik der gendersensiblen Sprache im juristischen Kontext umgegangen werden kann:

  • Klarheit vor Kreativität: In formellen Texten (Urteilen, Schriftsätzen, Verträgen) sollte klare und allgemein verständliche Sprache oberste Priorität haben. Vermeiden Sie ungebräuchliche Wortschöpfungen oder konstruiert wirkende Formulierungen. Was nützt die fortschrittlichste Ausdrucksweise, wenn sie von Beteiligten oder Adressaten nicht sofort verstanden wird? Im Zweifel gilt das Motto: Schreibe so, dass es keine zwei Meinungen darüber geben kann, wer gemeint ist.
  • Übliche Bezeichnungen verwenden: Greifen Sie – soweit keine besonderen Wünsche vorliegen – auf die etablierten Personenbezeichnungen zurück. In Urteilen und offiziellen Dokumenten sind das typischerweise die maskulinen bzw. femininen Formen je nach Person (z.B. “der Beklagte” / “die Beklagte”, “Sachverständiger” / “Sachverständige”). Diese Termini sind rechtlich klar definiert und seit jeher üblich. Sie signalisieren zudem, dass die Person als Individuum mit ihrem Geschlecht wahrgenommen wird. Neutralisierungen wie “beteiligte Person” oder “Lehrkraft” (statt Lehrer/Lehrerin) sollten sparsam und nur gezielt eingesetzt werden, da sie sonst hölzern klingen und Personen ungewollt anonymisieren können.
  • Respekt vor individuellen Wünschen: Selbstverständlich gilt: Wenn eine Person ausdrücklich eine bestimmte Anrede oder Bezeichnung wünscht, sollte dem nach Möglichkeit entsprochen werden. Dies kann insbesondere bei nichtbinären, intersexuellen oder transgender Personen relevant sein, die sich weder als “Herr” noch “Frau” identifizieren. Hier kann eine neutrale Bezeichnung oder der Vorname angebracht sein. Für Mandant:innen heißt das: Scheuen Sie sich nicht, Ihrem Anwalt oder dem Gericht mitzuteilen, wenn Sie eine bestimmte Ansprache bevorzugen. Die Gerichte sind gehalten, solche Wünsche zu respektieren, solange sie den Rahmen des Sachlichen wahren.
  • Gendergerechte Sprache mit Augenmaß: Viele juristische Texte – besonders Gesetze oder öffentliche Bekanntmachungen – versuchen heute, alle Geschlechter anzusprechen. Üblich sind etwa Doppelformen (Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) oder Neutralbegriffe (Beschäftigte). Solche Lösungen können auch in anwaltlichen Schreiben oder Gutachten verwendet werden, sofern sie gängig und verständlich sind. Wichtig ist, auf Einheitlichkeit im Dokument zu achten und extreme Konstrukte zu vermeiden. Beispielsweise wird ein Schriftsatz lesbarer sein, wenn er statt durchgehend “Arbeitnehmende” lieber abwechselnd von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen spricht (oder eine Abkürzung wie “ArbN (m/w/d)” einführt). Sichtbarkeit verschiedener Gruppen ist willkommen – aber nicht um den Preis der Verständlichkeit.
  • Kein Automatismus beim Gendern: Der Beschluss aus Naumburg warnt vor anlasslosem Gendern. Das bedeutet: Gendern sollte kein Selbstzweck sein, der mechanisch überall durchgezogen wird, sondern bewusst und da eingesetzt werden, wo es sinnvoll erscheint. In einer Stellenanzeige oder einem Gleichstellungsbericht ist inklusive Sprache selbstverständlich angebracht. In einem Gerichtsurteil oder Vertragswerk hingegen steht die Präzision der Beschreibung im Vordergrund. Hier kann ein Zuviel an neutralen Begriffen eher Unsicherheit stiften. Jurist:innen sollten daher abwägen, an welchen Stellen gendergerechte Formulierungen inhaltlich Mehrwert bieten und wo sie entbehrlich sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Juristische Fachsprache darf sich behutsam weiterentwickeln, sollte dabei aber ihren Kern – Eindeutigkeit und Höflichkeit – nicht aufgeben. Der OLG-Beschluss aus Naumburg erteilt vorschnellen Experimenten eine Absage und erinnert daran, dass Sprache im Rechtsverkehr immer Mittel zum Zweck ist: dem Adressaten (Richter, Parteien, Öffentlichkeit) klar mitzuteilen, was gemeint ist, ohne Missverständnisse oder unnötige Ablenkungen. Für Mandantinnen und Mandanten bedeutet dies, dass sie in Gerichtsentscheidungen meist die hergebrachten Formulierungen antreffen werden – und darin keine Diskriminierung sehen sollten, sondern juristische Tradition und Genauigkeit. Zugleich können sie sicher sein, dass ihr korrekter Name und Status verwendet wird. Für die Kolleginnen und Kollegen in der Anwaltschaft und Justiz bietet der Fall einen Anlass, den eigenen Schreibstil zu reflektieren: Ein gut gesetzter Genderstern oder eine Paarform mag in manchen Textsorten zeitgemäß und richtig sein; im Gerichtsurteil jedoch ist weniger oft mehr.

Die Entscheidung OLG Naumburg, Beschl. v. 12.06.2025 – 1 ORbs 133/25, mahnt zu sprachlicher Mäßigung im Rechtswesen. Rechtspolitisch steht sie für die Priorität von Klarheit und persönlichem Respekt über ideologische Sprachneutralität. Stilistisch empfiehlt sie, Bewährtes nicht vorschnell über Bord zu werfen. Juristische Texte sollten verständlich, präzise und würdig formuliert sein – “Im Namen des Volkes” und im Sinne aller Beteiligten.