BGH-Urteil: Feststellungsinteresse trotz fiktiver Schadensabrechnung anerkannt

Mit einem neuen Urteil hat der Bundesgerichtshof (BGH) klargestellt, dass Unfallgeschädigte auch dann Ansprüche auf künftige materielle Schäden feststellen lassen können, wenn sie den Schaden zunächst fiktiv (auf Gutachtenbasis) abrechnen. Damit korrigiert der VI. Zivilsenat seine bisherige Rechtsprechung. Geschädigte erhalten durch diese Entscheidung mehr Planungssicherheit und können strategischer mit Verjährungsfristen umgehen. Im Folgenden erklären wir verständlich, was dieses Urteil bedeutet, welche praktischen Folgen es hat und worauf Unfallopfer nun achten sollten.

Hintergrund: Fiktive vs. konkrete Schadensabrechnung

Nach einem Verkehrsunfall können Geschädigte den Sachschaden am Fahrzeug auf zwei Arten abrechnen: fiktiv oder konkret. Bei der fiktiven Abrechnung fordert man auf Basis eines Sachverständigengutachtens einen Geldbetrag für die voraussichtlichen Reparaturkosten, ohne die Reparatur tatsächlich durchzuführen. Bei der konkreten Abrechnung hingegen lässt man das Fahrzeug reparieren (oder ersetzt es) und verlangt Ersatz der tatsächlich angefallenen Kosten – einschließlich Umsatzsteuer (Mehrwertsteuer) und ggf. Nutzungsausfallentschädigung (Entschädigung für den Fahrzeugausfall während der Reparatur). Beide Wege sind vom Schadensersatzrecht des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB gedeckt, und der Geschädigte hat die Wahlfreiheit, welchen Weg er zunächst einschlägt.

Die fiktive Abrechnung wird oft gewählt, wenn unklar ist, ob sich eine Reparatur lohnt (z.B. bei älteren Fahrzeugen nahe dem wirtschaftlichen Totalschaden) oder wenn der Geschädigte den Auszahlungsbetrag anderweitig verwenden will. Allerdings bekommt man bei fiktiver Abrechnung keine Mehrwertsteuer erstattet und normalerweise keine Nutzungsausfallentschädigung, da diese Kosten nur bei tatsächlicher Reparatur anfallen. Hier entsteht für viele Unfallopfer ein Dilemma: Was, wenn später doch noch Kosten entstehen – etwa weil man sich doch zur Reparatur entschließt oder versteckte Schäden auftreten? Genau an diesem Punkt setzt das neue BGH-Urteil an.

Feststellungsinteresse für zukünftige Schäden – warum wichtig?

In solchen Fällen können Geschädigte eine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO erheben, um feststellen zu lassen, dass der Schädiger (bzw. dessen Haftpflichtversicherung) für alle zukünftigen materiellen Schäden aus dem Unfall haften wird. Das setzt ein „Feststellungsinteresse“ voraus – ein rechtliches Interesse daran, die Ersatzpflicht zukünftiger Schäden jetzt schon klären zu lassen, obwohl die Schäden (noch) nicht beziffert sind. Ein solches Interesse besteht generell, wenn weitere Schäden möglich sind und eine Unsicherheit darüber droht. Klassisches Beispiel: Bei Verletzungen weiß man oft nicht, ob Spätfolgen auftreten – daher lässt man feststellen, dass der Schädiger auch für zukünftige Behandlungskosten aufkommen muss.

Im Fall der Fahrzeugschäden war das Feststellungsinteresse lange umstritten, wenn der Geschädigte freiwillig fiktiv abgerechnet hatte. Denn hier hängt das Entstehen weiterer Kosten (z.B. die Mehrwertsteuer oder Mietwagenkosten) davon ab, ob der Geschädigte später doch repariert. Einige Gerichte meinten: Solange die Reparatur nicht fest geplant ist, liegt die Entscheidung allein in der Hand des Geschädigten – daher fehle das rechtliche Interesse an einer Feststellung. So argumentierte z.B. das LG Landshut in unserem Fall und wies die Feststellungsklage ab. Für Geschädigte war das ein Problem, denn ohne Feststellungsurteil besteht die Gefahr, dass Verjährungsfristen ablaufen und spätere Ansprüche (z.B. auf Mehrwertsteuer) verloren gehen.

Bisherige Rechtsprechung des VI. Zivilsenats

Tatsächlich war die Rechtslage vor dem aktuellen Urteil uneinheitlich. Der VI. Zivilsenat des BGH hatte in der Vergangenheit Feststellungsinteresse bei fiktiver Abrechnung teils verneint, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für zukünftige Schäden vorlagen. So wurde argumentiert, der Geschädigte könne durch eigenes Verhalten (Reparatur ja/nein) das Entstehen weiterer Kosten steuern, weshalb kein schutzwürdiges Interesse an sofortiger Feststellung bestehe. Diese restriktive Sichtweise führte dazu, dass Feststellungsklagen nach fiktiver Abrechnung oft abgewiesen wurden, wenn keine konkreten Reparaturpläne bestanden.

Ein Beispiel: In einem Parallelfall entschied der BGH im März 2025 (Az. VI ZR 277/24), dass kein Feststellungsinteresse besteht, weil der Kläger das unfallbeschädigte Fahrzeug bereits während des Prozesses verkauft und nicht repariert hatte. Durch den Verkauf war klar, dass keine zukünftigen Reparaturkosten mehr anfallen würden – die Feststellungsklage wäre also rein „taktisch“ gewesen und wurde abgelehnt. Diese alte Rechtsprechung setzte Geschädigte unter Druck: Wer fiktiv abrechnete, lief Gefahr, auf späteren Kosten sitzen zu bleiben, falls er nicht rechtzeitig reparierte oder klagte.

Die Entscheidung des BGH vom 08.04.2025 (VI ZR 25/24)

Mit Urteil vom 08.04.2025 hat der BGH nun unmissverständlich klargestellt, dass bereits die Möglichkeit eines späteren Wechsels zur konkreten Abrechnung genügt, um ein Feststellungsinteresse zu begründen. Eine konkrete Reparaturabsicht muss nicht nachgewiesen werden. Entscheidend ist allein, dass eine Reparatur „bei verständiger Würdigung nicht ausgeschlossen erscheint“ – sprich: Solange es vernünftigerweise denkbar ist, dass das Fahrzeug doch repariert wird, darf der Geschädigte vorsorglich feststellen lassen, dass der Schädiger für eventuelle zusätzliche Kosten aufkommen muss.

BGH wörtlich: „Der Geschädigte muss nicht darlegen, dass er die Absicht hat, sein Fahrzeug zu reparieren. Vielmehr reicht die Darlegung, dass die Möglichkeit der Reparatur besteht, grundsätzlich aus.“ Erst wenn aus Sicht des Geschädigten gar kein Grund besteht, mit einer Reparatur wenigstens zu rechnen, fehlt es am Feststellungsinteresse.

Im entschiedenen Fall bedeutete das: Die Klägerin, deren Pkw 13 Jahre alt war und über 250.000 km gelaufen hatte, durfte dennoch auf Feststellung zukünftiger Schäden klagen – trotz fiktiver Abrechnung und obwohl sie zunächst nicht repariert hatte. Das hohe Fahrzeugalter allein schließt eine spätere Reparatur nicht aus. Somit hat die Geschädigte weiterhin die Option, zur konkreten Abrechnung überzugehen, inklusive der Geltendmachung von Mehrwertsteuer und Nutzungsausfall, sofern sie irgendwann repariert und die gesetzlichen Fristen einhält. Der BGH hob das dagegen stehende Urteil des LG auf und stellte das erstinstanzliche Urteil (zugunsten der Klägerin) wieder her.

Wichtig ist: Die Haftung dem Grunde nach war im Fall unstreitig – die Versicherung hatte also bereits anerkannt, grundsätzlich zu haften. Dennoch bejahte der BGH das Feststellungsinteresse. Er betonte ausdrücklich, dass das Interesse nicht dadurch entfällt, dass bereits Haftung anerkannt wurde oder noch nicht repariert ist. Gerade um Verjährung zu verhindern, soll der Geschädigte sich prozessual absichern dürfen. Die vom LG vertretene enge Sichtweise, die an konkrete Reparaturschritte anknüpft, wurde verworfen. Stattdessen stellt der BGH klar, dass prozessuale Hürden die materiell-rechtliche Wahlfreiheit des Geschädigten nicht unterlaufen dürfen. Der Gesetzgeber gibt dem Geschädigten die Möglichkeit, zwischen fiktiver und konkreter Abrechnung zu wählen – auch noch im Nachhinein – und diese Wahlmöglichkeit darf nicht durch starre Anforderungen im Prozess ausgehöhlt werden.

Tragweite und praktische Auswirkungen

Dieses Urteil hat erhebliche praktische Auswirkungen auf die Schadensregulierung nach Verkehrsunfällen. Geschädigte können nun ohne Risiko eines Rechtsverlusts zunächst fiktiv abrechnen und sich dennoch alle Türen offenhalten. Einige wichtige Konsequenzen der Entscheidung:

  • Mehr Sicherheit für Geschädigte: Unfallopfer müssen sich nicht mehr sofort festlegen. Selbst wenn sie vorerst das Gutachten auszahlen lassen, können sie später noch Ersatz zusätzlicher Kosten verlangen (z.B. Mehrwertsteuer, Nutzungsausfall), falls sie das Fahrzeug doch reparieren. Sie sollten daher regelmäßig ergänzend einen Feststellungsantrag stellen, um diese Ansprüche zu sichern.
  • Verjährungsschutz: Durch eine Feststellungsklage stoppt die Verjährung für künftige Ansprüche. Die regelmäßige Verjährungsfrist für Unfallforderungen beträgt 3 Jahre ab Ende des Unfalljahres. Ohne Feststellungsurteil könnten Ansprüche wie die Mehrwertsteuererstattung verjähren, wenn man erst nach Jahren repariert. Der BGH erlaubt nun ausdrücklich diese prozessuale Absicherung, um Verjährungsverluste zu vermeiden.
  • Ältere oder grenzwertige Fahrzeuge: Gerade bei älteren Autos oder wirtschaftlichen Grenzfällen (hohe Reparaturkosten im Verhältnis zum Fahrzeugwert) ist es oft unklar, ob repariert wird. Hier sorgt das Urteil für Klarheit: Auch in solchen Fällen kann der Geschädigte künftige Schäden feststellungsweise geltend machen, sofern eine realistische Möglichkeit zur Reparatur besteht. Das Alter oder die Laufleistung allein schließen die Reparaturmöglichkeit nicht aus.
  • Kein „taktischer“ Missbrauch: Natürlich schützt das Urteil nicht in Fällen, in denen offensichtlich keine zukünftigen Schäden auftreten können. Wenn z.B. das Fahrzeug verkauft oder endgültig verschrottet wurde, besteht kein Feststellungsinteresse – ein entsprechender Antrag wäre unzulässig. Maßgeblich ist laut BGH das Vorliegen einer realistischen Möglichkeit weiterer Vermögensschäden, nicht deren Wahrscheinlichkeit. Die Grenze bleibt also dort gezogen, wo ein Feststellungsantrag nur noch pro Forma gestellt würde, ohne echten Bezug zu möglichen künftigen Kosten.

Insgesamt stärkt diese Entscheidung die Position von Unfallgeschädigten. Sie können mit Versicherungen selbstbewusster verhandeln, da nun klar ist, dass eine fiktive Abrechnung nicht zum Verzicht auf spätere Ansprüche führt. Versicherer müssen sich darauf einstellen, dass Geschädigte häufiger vorsorgliche Feststellungsanträge stellen werden, und können solche nicht mehr mit dem Argument fehlenden Interesses abwehren, solange eine Reparatur nicht ausgeschlossen ist.

Tipps für Unfallgeschädigte zur Durchsetzung ihrer Ansprüche

Wenn Sie nach einem Unfall Ihren Schaden zunächst fiktiv abrechnen (also sich den geschätzten Betrag auszahlen lassen), sollten Sie Folgendes beachten, um Ihre Rechte voll zu wahren:

  • Feststellungsantrag stellen: Fordern Sie (ggf. gerichtlich) die Feststellung der Ersatzpflicht für alle künftigen materiellen Schäden aus dem Unfall. So sichern Sie sich ab, falls später doch noch Kosten entstehen. Insbesondere können Sie so Ansprüche auf Mehrwertsteuer oder Nutzungsausfall für den Fall einer zukünftigen Reparatur reservieren. Sprechen Sie Ihren Anwalt darauf an – erfahrene Unfallanwälte werden diesen Punkt nun regelmäßig berücksichtigen.
  • Fristen im Blick behalten: Achten Sie auf die Verjährungsfrist. In der Regel müssen Ansprüche innerhalb von 3 Jahren geltend gemacht oder rechtzeitig eine Klage/Feststellungsklage eingereicht werden, um die Verjährung zu hemmen. Durch einen rechtzeitig gestellten Feststellungsantrag verhindern Sie, dass Ihnen spätere Forderungen verloren gehen.
  • Reparaturmöglichkeit dokumentieren: Auch wenn Sie nicht sofort reparieren, halten Sie fest, dass das Fahrzeug noch repariert werden könnte. Zum Beispiel könnten Fotos oder Gutachten zeigen, dass der Wagen nicht vollständig zerstört ist. Sie müssen nicht verbindlich erklären, dass Sie reparieren werden – aber es sollte zumindest nachvollziehbar sein, dass eine Reparatur denkbar ist. Wie der BGH sagt: Die Möglichkeit genügt; eine feste Absicht ist nicht erforderlich.
  • Keine vorschnellen Verzichtserklärungen unterschreiben: Unterschreiben Sie keine Erklärungen gegenüber der Versicherung, in denen Sie auf zukünftige Ansprüche verzichten. Manche Versicherer könnten versucht sein, bei fiktiver Abrechnung einen „Abfindungsbeleg“ oder ähnliches vorzulegen. Lassen Sie so etwas im Zweifel von einem Anwalt prüfen. Nach der neuen Rechtsprechung haben Sie ein gutes Verhandlungsargument, solche Verzichtsklauseln abzulehnen.
  • Beratung einholen: Die Materie ist komplex. Ein auf Verkehrsrecht spezialisierter Anwalt (oder ein Fachanwalt für Verkehrsrecht) kann beurteilen, wie in Ihrem konkreten Fall vorzugehen ist. Er kann einschätzen, ob ein Feststellungsantrag Sinn ergibt und diesen für Sie formulieren. Die Kosten für anwaltliche Beratung und Vertretung muss bei klarer Haftung übrigens in der Regel die gegnerische Versicherung übernehmen.

Das BGH-Urteil vom 08.04.2025 (Az. VI ZR 25/24) ist eine grundlegende Entscheidung zugunsten von Unfallgeschädigten. Es stellt klar, dass die fiktive Schadensabrechnung nicht in eine Sackgasse führt. Geschädigte können ihr gutes Recht auf vollen Ersatz aller Unfallfolgen wahren, ohne sich durch prozessuale Fallstricke (wie drohende Verjährung) die Chance auf spätere Leistungen abschneiden zu lassen.

Unfallopfer sollten diese neue Rechtslage kennen und nutzen. Im Zweifel gilt: Lieber einmal mehr den Feststellungsanspruch geltend machen, um auf Nummer sicher zu gehen. So bleiben Sie finanziell abgesichert – selbst wenn die Zukunft noch ungewiss ist. Denn dank des aktuellen BGH-Urteils kann nun „die Möglichkeit“ genügt, um Ihr Recht auf Schadensersatz für alle Eventualitäten zu schützen.