Lieferando streicht 2.000 Fahrer: Rechte und Handlungstipps für Beschäftigte

18. Juli 2025 -

Der Essenslieferdienst Lieferando hat angekündigt, bis Ende 2025 bundesweit rund 2.000 Fahrerinnen und Fahrer (etwa 20 % der Belegschaft) zu entlassen. Besonders betroffen ist Hamburg. Als Begründung nennt das Unternehmen die Umstellung auf externe Logistikpartner: Künftig soll ein großer Teil der Auslieferungen über Subunternehmer abgewickelt werden. Nach Medienberichten wurde der Gesamtbetriebsrat bereits informiert – die Verhandlungen für einen Sozialplan sollen „schnell“ beginnen. In einem Sozialplan können Abfindungen, Überbrückungszahlungen oder Weiterbeschäftigungsangebote festgelegt werden.

Kündigungsschutzklage: Frist und Vorgehen

Erhält ein Fahrer eine Kündigung, ist schnelles Handeln entscheidend. Laut Kündigungsschutzgesetz (KSchG) müssen Sie innerhalb von drei Wochen nach Erhalt der Kündigung eine Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht einreichen. Verpassen Sie diese Frist, gilt die Kündigung als wirksam. Folgendes sollten Sie beachten:

  • Beschäftigungsverhältnis prüfen: Sie haben vollen Kündigungsschutz nach dem KSchG, wenn Sie länger als sechs Monate im Unternehmen sind und der Betrieb regelmäßig mehr als zehn Mitarbeiter beschäftigt. Ist das der Fall, benötigen alle Kündigungen einen sozialen Rechtfertigungsgrund (z.B. dringende betriebliche Notwendigkeit).
  • Fristen einhalten: Legen Sie unverzüglich (am besten schriftlich) Widerspruch gegen die Kündigung ein und reichen Sie Klage ein. Ein Fachanwalt für Arbeitsrecht kann Sie dabei unterstützen.
  • Kündigungsgründe prüfen: Fordern Sie vom Arbeitgeber eine schriftliche Begründung an. Betriebliche Kündigungen müssen eine Sozialauswahl berücksichtigen (wer am meisten schutzbedürftig ist). Oft versuchen Arbeitgeber, Kündigungen als „betriebsbedingt“ zu begründen. Das Gericht wird prüfen, ob dies tatsächlich vorliegt oder ob Alternativen bestanden hätten (z.B. andere Stellen).
  • Dokumentation sammeln: Bewahren Sie alle Unterlagen gut auf – Arbeitsvertrag, Lohnabrechnungen, Einsatzpläne, Hinweise auf geplante Umstrukturierungen. Notieren Sie, welche Kollegen bereits gehen müssen oder bei welchen Subunternehmen Essen ausgeliefert wird. Diese Beweise helfen im Klageverfahren.

Vermeiden Sie überstürzte Unterschriften: Lassen Sie sich nicht ohne Rücksprache auf einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag ein. Solche Verträge beenden Ihr Arbeitsverhältnis oft ohne Anrechnung beim Arbeitslosengeld und gegen den Verzicht auf Kündigungsschutz. Nehmen Sie im Zweifel rechtlichen Rat in Anspruch, bevor Sie etwas unterschreiben.

Sozialplan und Abfindung

Bei einem Massenentlassungsfall (z. B. 2.000 Kündigungen) greift das Betriebsverfassungsgesetz. Liegt ein gültiger Betriebsrat vor, muss der Arbeitgeber einen Sozialplan mit dem Betriebsrat aushandeln. Darin werden Ausgleichszahlungen (Abfindungen) und Hilfen (z.B. Qualifizierungsangebote) geregelt. Typischerweise werden im Sozialplan Abfindungen kalkuliert, oft nach der Faustformel „0,5 Monatslohn pro Beschäftigungsjahr“ (je nach Verhandlung kann es mehr oder weniger sein).

  • Sozialplanteilnahme: Erkundigen Sie sich bei Ihrem Betriebsrat, ob Verhandlungen laufen. Ein Sozialplan wird meist mit jedem betroffenen Mitarbeiter abgeschlossen. Prüfen Sie, ob Sie in die Zielgruppe des Plans fallen. Nach aktueller Rechtsprechung muss im Streitfall der Arbeitnehmer nachweisen, dass sein Fall unter den Sozialplan fällt. Bewahren Sie Kopien des Sozialplans und aller Kündigungsschreiben auf.
  • Abfindungsforderung: Haben Sie eine Kündigung erhalten, können Sie bei Abschluss des Sozialplans oder in Verhandlungen meist eine Abfindung aushandeln. Ist ein Sozialplan noch in Arbeit, kann der Betriebsrat höhere Abfindungen fordern. Sollte es doch keinen Sozialplan geben, kann eine Abfindung auch im Rahmen einer einvernehmlichen Lösung (Aufhebungsvertrag) vereinbart werden. Generell gilt aber: Ein gesetzlicher Anspruch auf Abfindung besteht nur nach § 1a KSchG, wenn Sie die Kündigung nicht anfechten (siehe unten). Ansonsten müssen Abfindungen verhandelt oder im Sozialplan festgeschrieben werden.

Betriebsrat und Mitbestimmung

Der Betriebsrat hat ein Recht auf umfangreiche Beteiligung bei Massenentlassungen. Als betroffene Fahrer sollten Sie ihn informieren und einbeziehen:

  • Betriebsrat kontaktieren: In größeren Städten wie Hamburg oder Berlin gibt es bereits Lieferando-Betriebsräte. In Berlin wählten im August 2022 rund 200 Fahrer einen Betriebsrat mit 17 Mitgliedern. Fragen Sie Ihren Betriebsrat, ob er zu einem Sozialplan beiträgt oder die Entlassungspläne verhindert. Er kann prüfen, ob die Kündigungen überhaupt zulässig sind und sozial gerecht sind.
  • Betriebsratsgründung: Wenn es noch keinen Betriebsrat gibt, erwägen Sie die Gründung. Schon fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer in einem Betrieb können einen Wahlvorstand für eine Betriebsratswahl bilden. Beachten Sie: Der Gesetzgeber schützt Betriebsratsgründer und -mitglieder besonders. Nach § 15 KSchG ist eine ordentliche Kündigung während der Amtszeit eines Betriebsratsmitglieds unzulässig; eine Kündigung wäre nur bei schwerwiegenden Gründen zulässig. Lassen Sie sich also nicht einschüchtern, wenn Aktivitäten für einen Betriebsrat unterstützt oder begonnen werden.
  • Zusammenarbeit: Betriebsratsmitglieder können Sonderkündigungsschutz genießen und haben ein Mitspracherecht. Sie verhandeln mit der Geschäftsführung und können z.B. Abfindungshöhen im Sozialplan durchsetzen. Es hilft, sich gemeinsam mit Gewerkschaftlern (z.B. der NGG) abzusprechen. Die NGG veranstaltet bereits Warnstreiks und Aktionen, um Druck aufzubauen. Ein kollektives Vorgehen verbessert Ihre Position gegenüber dem Unternehmen.

Werkverträge und Subunternehmer

Lieferando kündigt an, zukünftig stärker mit externen Logistikunternehmen zu arbeiten. In der Praxis heißt das oft, dass Arbeitsplätze ins Subunternehmen verlagert oder in Form von Werkverträgen umgewandelt werden. Achten Sie auf Folgendes:

  • Scheinselbstständigkeit prüfen: Wenn Sie künftig „ohne festen Arbeitsvertrag“ als vermeintlich Selbstständige weiterfahren sollen, prüfen Sie, ob tatsächlich Selbstständigkeit vorliegt. Merkmale wie feste Arbeitszeiten, vorgeschriebene Kleidung, bindende Tourenpläne oder fehlendes Unternehmerrisiko sprechen gegen echte Selbstständigkeit. Scheinselbstständige haben dieselben Rechte wie Arbeitnehmer (z.B. Mindestlohn, Sozialversicherung). Bei Zweifeln können Sie sich an einen Anwalt oder die Deutsche Rentenversicherung wenden, um Ihren Status klären zu lassen.
  • Neue Bedingungen kritisch hinterfragen: In ersten Testläufen (u.a. in Berlin/Spandau) berichten Fahrer, dass Subunternehmen pro Lieferung nur noch Vermittlungsgebühren zahlen. Das bedeutet: Statt eines garantierten Stundenlohns oder Mindestlohns gibt es nur noch Geld pro erledigte Bestellung. Festangestellte Lieferando-Fahrer erhielten zuvor garantiert den gesetzlichen Mindestlohn, unabhängig von der Anzahl der Aufträge. Bei einem reinen Stücklohn-Modell drohen deutliche Einkommenseinbußen.
  • Arbeitsvertrag genau prüfen: Lassen Sie sich schriftlich erklären, ob Sie weiterhin Angestellte einer Lieferando-Tochter sind oder ob Sie künftig über ein Subunternehmen arbeiten. Achten Sie auf Kündigungsfristen und Probezeit. Subunternehmen nutzen oft kürzere Kündigungsfristen und befristete Verträge. Gegebenenfalls können Abfindungsansprüche entfallen, wenn Sie von Lieferando gekündigt und sofort bei einem neuen Dienstleister unter Vertrag genommen werden – prüfen Sie solche Kettenverträge genau.
  • Lohn– und Sozialleistungen: Stellen Sie sicher, dass auch ein Dienstvertrag rechtlich zulässig ist. Bei echten Werkverträgen muss das Unternehmen tatsächlich einen selbstständigen Unternehmer beauftragen, der weitere Helfer und Fahrzeuge selbst stellt. Kommt es nur zur Arbeitsvermittlung, könnte es sich um einen verdeckten Arbeitnehmerüberlassungsvertrag handeln. Lassen Sie sich hier keinesfalls Rechte vorenthalten: Arbeitnehmerüberlassung (Zeitarbeit) erfordert eine behördliche Erlaubnis und tarifvertragliche Gleichstellung mit Stammbelegschaft.

Tarifbindung und Gewerkschaften

Lieferando hat derzeit keinen tarifvertraglich geregelten Lohn und Urlaub für Fahrer. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fordert seit Jahren einen Tarifvertrag für alle Lieferando-Beschäftigten (rund 6.000 bundesweit), doch die Konzernzentrale lehnt dies ab. Für Sie bedeutet das:

  • Mindestlohn sicher: Gesetzlich muss Lieferando den aktuellen Mindestlohn zahlen. Nach eigenen Angaben liegt der durchschnittliche Stundenlohn der Fahrer bei etwa 14 €. Derzeitige Sonderzahlungen („Order-Boni“ für viele Kilometer) werden abgeschafft (Ende 2025 wegfallend), was nach Gewerkschaftsangaben zu deutlichen Gehaltseinbußen führen kann. Prüfen Sie Ihre Lohnabrechnung: Liegt sie über dem Mindestlohn, sind Zuschläge und Urlaubsansprüche korrekt berechnet?
  • Gewerkschaftsanbindung: Auch ohne Tarifvertrag können Sie sich gewerkschaftlich organisieren. Eine Mitgliedschaft bei der NGG (oder Verdi) schafft Informationsvorteile. Gewerkschaften können unqualifizierte Klagen unterstützen und Druck (Streiks, Öffentlichkeitsarbeit) organisieren. Tarifforderungen könnten in Zukunft allgemeinverbindlich werden, das liegt aber nicht in Ihrer Hand. Nutzen Sie also Tarifverhandlungen (bzw. die Debatte darum) nicht nur am Rande, sondern beziehen Sie klar Stellung: Ein Tarifvertrag würde einheitliche Standards für alle Fahrer sichern.

Konkrete Handlungsempfehlungen

  • Fristen einhalten: Erheben Sie sofort Klage, wenn Sie (ordentlich) gekündigt wurden. Alle Ansprüche aus einer betriebsbedingten Kündigung sind verloren, wenn Sie diese Frist versäumen.
  • Betriebsrat informieren: Sprechen Sie Ihren Betriebsrat an und holen Sie Rat ein. Beteiligen Sie sich an Betriebsrats-Treffen. Ein starker Betriebsrat kann hohe Abfindungen und alternative Stellen sichern.
  • Gewerkschaft suchen: Informieren Sie sich bei der NGG oder einer anderen Gewerkschaft. Dort bekommen Sie Unterstützung bei Fragen zu Tarifvertrag und Vertragstypen. Falls Sie selbst aktiv werden wollen, können Sie sich für Listen zur Betriebsratswahl aufstellen lassen.
  • Verträge prüfen: Lesen Sie Ihre Kündigungsschreiben und neuen Verträge sorgfältig. Überlegen Sie genau, ob Sie einem neuen Vertrag (z.B. als freier Dienstnehmer) zustimmen. Vergleichen Sie die Konditionen (Lohn, Urlaub, Versicherung) mit Ihrem alten Status.
  • Belege sammeln: Legen Sie alle Lohn– und Stundennachweise zurecht. Rechnen Sie nach, ob (und wie) sich Ihr Nettolohn durch die Umstellung ändert. Solche Nachweise helfen im Streit um Scheinselbstständigkeit oder Lohnforderungen.
  • Rechtsberatung nutzen: Scheuen Sie sich nicht, frühzeitig einen Fachanwalt einzuschalten. Kündigungsschutzklagen sind für Laien schwer zu überblicken. Ein Fachanwalt für Arbeitsrecht kann auch prüfen, ob im konkreten Fall eine Scheinselbstständigkeit vorliegt oder ob Ihr Vertrag unwirksam ist.

Auch wenn die Lage angespannt ist: Als Arbeitnehmer haben Sie starke Rechte. Nutzen Sie alle rechtlichen Mittel und lassen Sie sich beraten, um beste Ergebnisse zu erzielen.