Arbeitgeber, die schwerbehinderte oder gleichgestellte Mitarbeiter beschäftigen (oder dies planen), müssen zahlreiche Sonderregelungen beachten. Vom rechtlichen Status der Behinderung über Pflichten wie Beschäftigungsquote und Prävention bis zu Zusatzurlaub und Kündigungsschutz – die Vorschriften sollen die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben sichern. Dieser praxisorientierte Rechtstipp erklärt verständlich, wer als schwerbehindert gilt, welche Rechte diese Arbeitnehmer haben und wie Arbeitgeber ihre gesetzlichen Pflichten korrekt umsetzen. Außerdem geben wir Handlungsempfehlungen und beleuchten aktuelle Urteile (z. B. des BAG) und ihre Bedeutung für die betriebliche Praxis.
Definition: Schwerbehinderung und Gleichstellung
Wer gilt als schwerbehindert? Als schwerbehinderter Mensch im Sinne des Gesetzes (SGB IX) gilt, wessen Grad der Behinderung (GdB) mindestens 50 beträgt. Die Feststellung erfolgt durch die zuständige Behörde (Versorgungsamt) und wird meist durch einen Schwerbehindertenausweis nachgewiesen. Gleichgestellte Personen sind Menschen mit einem GdB unter 50 aber mindestens 30, die aufgrund ihrer Behinderung ohne weitere Hilfe keinen geeigneten Arbeitsplatz finden oder halten können. Auf Antrag stellt die Agentur für Arbeit diese Personen Schwerbehinderten gleich (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Wichtig: Gleichgestellte genießen weitgehend dieselben arbeitsrechtlichen Rechte wie Schwerbehinderte – mit Ausnahme einiger Nachteilsausgleiche wie z.B. des Zusatzurlaubs.
Rechtliche Grundlagen: Zentral ist das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX), das die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen regelt. Dort sind Begriffsdefinitionen und besondere Schutzvorschriften (Kündigungsschutz, Zusatzurlaub, Pflichten des Arbeitgebers usw.) festgeschrieben. Daneben verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierung wegen Behinderung in Beschäftigung und Beruf. Arbeitgeber müssen also sicherstellen, dass behinderte Bewerber und Arbeitnehmer nicht benachteiligt werden (§ 7 AGG). Auch aus dem Grundgesetz (Art. 3 Abs. 3 GG: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“) ergibt sich ein allgemeines Benachteiligungsverbot. Diese Vorschriften bilden den Rahmen, innerhalb dessen Arbeitgeber Inklusion im Arbeitsleben fördern sollen.
Besondere Rechte und Pflichten für Arbeitgeber
Arbeitgeber, die Schwerbehinderte beschäftigen, müssen einige Sonderregelungen beachten. Hier die wichtigsten Rechte der Betroffenen und Pflichten der Arbeitgeber im Überblick:
- Beschäftigungspflicht (§ 154 SGB IX): Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind verpflichtet, auf mindestens 5 % der Plätze schwerbehinderte oder gleichgestellte Menschen zu beschäftigen. Kleinere Betriebe haben gestaffelte Quoten – z.B. bei 20–39 Arbeitsplätzen mindestens 1 Schwerbehinderter, bei 40–59 mindestens 2 Schwerbehinderte, ab 60 Beschäftigten gilt die 5 %-Quote. Hinweis: Bei mehreren Betriebsstätten zählt der gesamte Arbeitgeber zusammen. Auszubildende werden bei der Berechnung nicht mitgezählt. Gleichgestellte zählen bei der Erfüllung der Quote voll mit. Erfüllt ein Arbeitgeber die Quote nicht, hat dies finanzielle Folgen (siehe Ausgleichsabgabe). Die Grafik verdeutlicht die gesetzliche Pflichtquote je nach Betriebsgröße.
- Anzeige- und Ausgleichsabgabe (§ 160 SGB IX): Arbeitgeber müssen jährlich der Bundesagentur für Arbeit bis 31. März melden, wie viele Schwerbehinderte sie im Vorjahr beschäftigt haben. Wird die Quote nicht erfüllt, fällt eine Ausgleichsabgabe an. Pro unbesetztem Pflichtplatz ist monatlich ein bestimmter Betrag zu zahlen. Zum Jahr 2025 wurde die Abgabe deutlich erhöht – je nach Erfüllungsquote und Betriebsgröße sind es nun zwischen 155 € und 815 € pro Monat für jeden fehlenden Schwerbehinderten. (Beispiel: Bei 0 % Erfüllung in größeren Betrieben 815 €; bei knapp verfehlter Quote geringere Sätze.) Die Abgabe soll einen Anreiz bieten, mehr schwerbehinderte Menschen einzustellen. Wichtig: Die Abgabe befreit nicht von der Beschäftigungspflicht. Die Einnahmen werden für spezielle Leistungen der Integrationsämter und Arbeitsagenturen verwendet (z.B. Zuschüsse für behindertengerechte Arbeitsplätze). Praxis-Tipp: Arbeitgeber können die Abgabe reduzieren, indem sie Aufträge an anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen vergeben – ein Teil der Auftragssumme wird angerechnet.
- Kündigungsschutz – Zustimmung des Integrationsamts (§ 168 SGB IX): Schwerbehinderte und gleichgestellte Arbeitnehmer genießen einen besonderen Kündigungsschutz. Eine Kündigung ist nur wirksam, wenn vorher das Integrationsamt (auch „Inklusionsamt“ genannt) zugestimmt hat. Der Arbeitgeber muss vor Ausspruch der Kündigung einen Antrag mit Begründung dort stellen. Das Integrationsamt holt Stellungnahmen von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung ein und prüft, ob die Kündigung vermieden werden kann (etwa durch Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz). Ohne Zustimmung ist die Kündigung unwirksam – selbst wenn dem Arbeitgeber die Behinderung zunächst nicht bekannt war. Allerdings gibt es Ausnahmen: Der Sonderkündigungsschutz greift nicht in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses (Wartezeit). In dieser Probezeit ist keine Integrationsamts-Zustimmung nötig (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Außerdem entfällt der Schutz, wenn der Arbeitnehmer beim Kündigungszugang noch nicht als schwerbehindert anerkannt oder gleichgestellt war und keinen Antrag mindestens 3 Wochen vorher gestellt hatte. Nach einer Kündigung hat ein ungekündigt behinderter Arbeitnehmer ansonsten bis zu 3 Wochen Zeit, seinen Status dem Arbeitgeber mitzuteilen, um den Kündigungsschutz nachträglich geltend zu machen. Arbeitgeber sollten deshalb frühzeitig klären, ob ein Mitarbeiter schwerbehindert (oder Antragssteller) ist. Wichtig: Wird die Zustimmung erteilt, muss der Arbeitgeber die Kündigung innerhalb eines Monat aussprechen, sonst verfällt sie (§ 171 Abs. 3 SGB IX). Für außerordentliche (fristlose) Kündigungen gelten verkürzte Fristen (Antrag binnen 2 Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes, Entscheidung des Amtes ebenfalls binnen 2 Wochen – sonst gilt Zustimmung als erteilt).
- Zusatzurlaub (§ 208 SGB IX): Gesetzlich anerkannt schwerbehinderte Arbeitnehmer haben Anspruch auf fünf Arbeitstage Zusatzurlaub pro Jahr (bei einer 5-Tage-Woche). Bei abweichender Verteilung der Wochenarbeitstage erhöht oder vermindert sich dieser Anspruch entsprechend (d.h. im Grunde ein zusätzlicher Urlaub von einer Woche pro Jahr). Beginnt oder endet die Schwerbehinderteneigenschaft im Laufe des Jahres, besteht ein anteiliger Anspruch (ein Zwölftel pro vollem Monat). Gleichgestellte Mitarbeiter haben keinen gesetzlichen Anspruch auf diesen Zusatzurlaub. Der Zusatzurlaub soll behinderungsbedingte Erholungsbedürfnisse ausgleichen. Hinweis: Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen können ggf. mehr Zusatzurlaub vorsehen; diese Regelungen bleiben unberührt.
- Anspruch auf behinderungsgerechte Arbeitsplatzgestaltung (§ 164 SGB IX): Arbeitgeber sind verpflichtet, Behinderte möglichst entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen und das Arbeitsumfeld leidensgerecht zu gestalten. Dazu gehört insbesondere, den Arbeitsplatz barrierefrei und mit den erforderlichen technischen Hilfsmitteln auszustatten. Gegebenenfalls ist auch eine Anpassung der Arbeitsorganisation oder Arbeitszeit vorzunehmen, um dem Beschäftigten die Ausübung seiner Tätigkeit zu ermöglichen. So haben schwerbehinderte Mitarbeiter z.B. das Recht, eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit zu verlangen, wenn dies behinderungsbedingt notwendig ist (§ 164 Abs. 5 SGB IX). Beispiel: Einrichtung eines Teilzeitarbeitsplatzes oder spezielle Pausenregelungen zur Schonung. Viele dieser Maßnahmen lassen sich mit Unterstützung der Rehabilitationsträger umsetzen – Integrationsämter oder die Agentur für Arbeit bieten Beratung und finanzielle Hilfen (Zuschüsse für technische Arbeitsmittel, Umbauten etc.) an. Arbeitgeber müssen im Rahmen des Zumutbaren alles tun, um einem schwerbehinderten Menschen die vollwertige Teilhabe am Arbeitsplatz zu ermöglichen. Verstöße gegen diese Pflichten können nicht nur Diskriminierungsansprüche auslösen, sondern auch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden (Bußgeld bis zu 10.000 € bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Missachtung wichtiger Pflichten).
Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung und des Betriebsrats
In Betrieben mit mindestens 5 dauerhaft beschäftigten Schwerbehinderten muss eine Schwerbehindertenvertretung (SBV) – oft „Vertrauensperson der Schwerbehinderten“ genannt – gewählt werden (§ 177 SGB IX). Diese Interessenvertretung hat eine zentrale Schutzfunktion. Arbeitgeber müssen die SBV über alle Vorgänge informieren und anhören, die einzelne schwerbehinderte Mitarbeiter oder die Schwerbehinderten im Betrieb als Gruppe betreffen. Insbesondere bei Personalentscheidungen wie Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen oder Kündigungen schwerbehinderter Menschen ist die SBV rechtzeitig zu beteiligen. Unterbleibt die Anhörung der SBV z.B. vor Ausspruch einer Kündigung, ist die Kündigung unwirksam. Die SBV soll so früh wie möglich eingebunden werden, um die Interessen Schwerbehinderter zu wahren und ggf. Alternativen aufzuzeigen.
Die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat ist ebenfalls wichtig. Bei Arbeitgebern mit Betriebsrat hat die SBV das Recht, an allen Betriebsratssitzungen beratend teilzunehmen, soweit Angelegenheiten schwerbehinderter Beschäftigter berührt sind. Beide Gremien – SBV und Betriebsrat – sollen eng kooperieren, um Benachteiligungen zu verhindern und die Integration Schwerbehinderter im Betrieb zu fördern. Tatsächlich räumt das Gesetz der SBV sogar Einblick in Bewerbungsunterlagen (auch der nicht behinderten Bewerber) und Teilnahme an Vorstellungsgesprächen ein. So kann die SBV überwachen, dass ein Auswahlverfahren fair und ohne Diskriminierung abläuft. Arbeitgeber sind gut beraten, die Expertise der SBV zu nutzen – sie kennt oft Fördermöglichkeiten und praktische Lösungen für eine erfolgreiche Inklusion.
Zusätzlich können Arbeitgeber und SBV eine Inklusionsvereinbarung schließen (§ 166 SGB IX). Darin werden betriebliche Maßnahmen zur Förderung Schwerbehinderter festgehalten (z.B. zur Arbeitsplatzgestaltung, Barrierefreiheit, Personalplanung). In Betrieben ohne SBV kann auf Wunsch des Betriebsrats ebenfalls eine solche Vereinbarung getroffen werden. Dies ist freiwillig, zeigt aber, dass der Arbeitgeber die Belange schwerbehinderter Beschäftigter proaktiv angeht.
Hinweis: Arbeitgeber ab 20 Arbeitsplätzen müssen einen internen Beauftragten (Inklusionsbeauftragten) bestellen, der sich um die Belange schwerbehinderter Mitarbeiter kümmert und als Ansprechpartner dient (§ 181 SGB IX). Auch müssen sie ein Verzeichnis aller schwerbehinderten Beschäftigten führen und auf Verlangen den Behörden vorlegen – das erleichtert die Überprüfung der Quote und Pflichten.
Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
Um die gesetzlichen Vorgaben rechtssicher umzusetzen, sollten Arbeitgeber folgende praktische Tipps beachten:
- Offenbarung der Behinderung: Gehen Sie sensibel mit Informationen über Behinderungen um. Arbeitnehmer sind nicht verpflichtet, dem Arbeitgeber ihre (Schwer-)Behinderung mitzuteilen, sofern die Leistungserbringung nicht konkret beeinträchtigt ist. Üben Sie daher keinen Druck zur „Offenlegung“ aus. Stellenbewerber müssen eine Behinderung im Bewerbungsverfahren nur dann von sich aus offenbaren, wenn feststeht, dass sie die vorgesehene Tätigkeit wegen der Behinderung objektiv nicht ausüben können. Als Arbeitgeber sollten Sie eine Vertrauenskultur schaffen, in der sich Mitarbeiter ohne Angst offenbaren können – denn nur wenn Sie von einer Schwerbehinderung wissen, können Sie Pflichten wie Zusatzurlaub, Ausstattung oder Kündigungsschutz korrekt gewähren. Wird Ihnen eine Behinderung mitgeteilt, behandeln Sie diese Information vertraulich und nutzen Sie sie ausschließlich, um nötige Unterstützungen einzuleiten (z.B. technischen Hilfsmittel, Arbeitszeitanpassung).
- Bewerbungsverfahren diskriminierungsfrei gestalten (AGG): Bereits in der Stellenausschreibung und im Vorstellungsgespräch ist Vorsicht geboten. Benachteiligungen wegen Behinderung sind verboten. Vermeiden Sie Formulierungen, die bestimmte Gruppen ausschließen (z.B. „körperlich kerngesund“ o. ä., sofern nicht absolut erforderlich für die Stelle). Fragen nach einer Behinderung oder Schwerbehinderung im Bewerbungsgespräch sind grundsätzlich unzulässig – es sei denn, die Einschränkung betrifft eine wesentliche Anforderung der konkreten Stelle (enge Ausnahmefälle). Wird dennoch unzulässig gefragt, dürfen Bewerber lügen; eine falsche Antwort kann der Arbeitgeber später nicht als arglistige Täuschung werten. Um Diskriminierungsvorwürfe zu vermeiden, sollten Sie standardisiert und an objektiven Kriterien orientiert auswählen. Öffentliche Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, schwerbehinderte Bewerber bei entsprechender Eignung zum Vorstellungsgespräch einzuladen (§ 165 S.3 SGB IX). Private Arbeitgeber sollten ebenfalls fair prüfen, ob ein Kandidat mit Behinderung mindestens gleich geeignet ist – und im Zweifel einladen. Eine schriftliche Absage sollte neutral formuliert und sachlich begründet sein. Dokumentieren Sie den Auswahlprozess (z.B. Bewertungsbögen), um im Streitfall belegen zu können, dass die Entscheidung nicht wegen der Behinderung fiel. Denn abgelehnte Bewerber können binnen 2 Monaten Ansprüche auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG geltend machen, wenn Indizien für eine Benachteiligung vorliegen. Schon die Nicht-Einladung eines objektiv geeigneten Schwerbehinderten zum Gespräch kann vor Gericht die Vermutung einer Diskriminierung begründen – als Arbeitgeber müssten Sie dann beweisen, dass die Behinderung nicht der Grund für die Nicht-Einstellung war.
- Dokumentation und Meldepflichten: Führen Sie ordentlich Buch über Ihre Pflichterfüllung. Zahlenmäßige Nachweise zur Schwerbehindertenquote sind jährlich Pflicht – nutzen Sie die Software „IW-Elan“ oder ähnliche Tools, um die Meldeformulare für die Bundesagentur für Arbeit fristgerecht (bis 31. März) zu erstellen. Intern sollten Sie eine Liste schwerbehinderter Mitarbeiter führen. Zudem empfiehlt es sich, sämtliche Maßnahmen im Zusammenhang mit schwerbehinderten Beschäftigten zu dokumentieren: z.B. Schreiben über angebotene präventive Gespräche, Ergebnisse des betrieblichen Eingliederungsmanagements, Anpassungen des Arbeitsplatzes oder Kommunikation mit dem Integrationsamt. Diese Dokumentation hilft im Ernstfall nachzuweisen, dass Sie Ihren Pflichten nachgekommen sind. Tipp: Halten Sie auch den Kontakt zur Agentur für Arbeit – diese kann Ihnen geeignete schwerbehinderte Bewerber vorschlagen und berät zu Fördermitteln. Bei Nicht-Beschäftigung Schwerbehinderter sollten Sie eventuelle Aufforderungen der Agentur zur Anzeige der Beschäftigungsdaten nicht ignorieren (sonst droht ein Bußgeld). Insgesamt gilt: Transparenz und ordentliche Nachweise schützen Sie im Konfliktfall vor ungerechtfertigten Ansprüchen.
- Prävention und betriebliches Eingliederungsmanagement (§ 167 SGB IX): Warten Sie nicht, bis es „knallt“. Bei einem schwerbehinderten Mitarbeiter, der Probleme am Arbeitsplatz hat – seien es häufige Fehlzeiten, Leistungsabfall oder Konflikte – schreibt § 167 Abs. 1 SGB IX ein sog. Präventionsverfahren vor. Das heißt, der Arbeitgeber soll frühzeitig das Gespräch suchen, die SBV und ggf. das Integrationsamt einschalten und gemeinsam mit allen Beteiligten nach Lösungen suchen. Ziel ist, eine Kündigung möglichst zu vermeiden (etwa durch Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Schulungen, Einsatz technischer Hilfen oder Umsetzung auf einen passenderen Posten). Kommt es zu längeren Krankheitszeiten (über 6 Wochen innerhalb eines Jahres), muss allen Arbeitnehmern – also auch Schwerbehinderten – ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) angeboten werden (§ 167 Abs. 2 SGB IX). Nehmen Sie diese Verpflichtungen ernst: Die ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts betont, dass eine Kündigung ohne vorheriges BEM oder Präventionsbemühungen sozialwidrig sein kann. Das BAG verlangt vom Arbeitgeber dann den nahezu unerfüllbaren Beweis, dass ein BEM selbst im Erfolgsfall nichts an der Kündigungsnotwendigkeit geändert hätte. In der Praxis scheitern Arbeitgeber vor Gericht regelmäßig, wenn sie kein BEM durchgeführt haben, obwohl es geboten war – die Kündigung wird als unverhältnismäßig und unwirksam eingestuft. Unsere Empfehlung: Bieten Sie einem von längerer Krankheit betroffenen (schwerbehinderten) Mitarbeiter das BEM schriftlich an und dokumentieren Sie die Durchführung oder eine etwaige Ablehnung durch den Mitarbeiter. Ebenso sollten Sie bei Konflikten mit schwerbehinderten Mitarbeitern früh das Integrationsamt kontaktieren. Die Behörden unterstützen oft moderierend und mit Know-how. Durch ein aktives Präventionsmanagement zeigen Sie auch, dass Sie Ihrer Fürsorgepflicht nachkommen – was im Zweifel Ihre Position stärkt, sollte es trotzdem zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen.
Aktuelle Rechtsprechung – was Arbeitgeber wissen sollten
Die Gerichte haben in den letzten Jahren wichtige Urteile gefällt, welche die Rechte schwerbehinderter Arbeitnehmer weiter präzisieren. Einige Beispiele und ihre Bedeutung für die Praxis:
- BAG zur Einladungspflicht (Urteil vom 23.01.2020 – 8 AZR 484/18): In diesem Fall hatte ein öffentlicher Arbeitgeber einen gleichgestellten Bewerber trotz geeigneter Qualifikation nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Das BAG bestätigte, dass öffentliche Arbeitgeber verpflichtet sind, schwerbehinderte Bewerber einzuladen, solange sie nicht offensichtlich ungeeignet sind. Verstößt ein öffentlicher Arbeitgeber dagegen, verstößt er gegen § 165 SGB IX (früher § 82 SGB IX a.F.), was die Vermutung einer Diskriminierung nach dem AGG begründet. Im konkreten Fall sprach das BAG dem Bewerber eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu. Praxis-Fazit: Öffentliche Arbeitgeber müssen geeignete schwerbehinderte Bewerber einladen. Private Arbeitgeber sollten – um AGG-Risiken zu vermeiden – ebenfalls transparent und fair vorgehen, sonst drohen Entschädigungen von regelmäßig etwa 1–3 Monatsgehältern.
- BAG zur 3-Wochen-Frist beim Kündigungsschutz (Urteil vom 22.09.2016 – 2 AZR 700/15): Das BAG stellte klar, dass der besondere Kündigungsschutz „drei Wochen vor – drei Wochen nach“ beachtet werden muss. Konkret: Der Schwerbehindertenschutz greift bereits, wenn die Anerkennung oder Gleichstellung mindestens 3 Wochen vor Zugang der Kündigung beantragt wurde. Andererseits muss ein bereits anerkannter (oder kurz zuvor beantragter) Status dem Arbeitgeber spätestens innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt werden, damit der Sonderkündigungsschutz nicht verwirkt. In einem früheren Fall hatte das BAG sogar gelten lassen, dass die Information noch im Rahmen der rechtzeitig erhobenen Kündigungsschutzklage erfolgen kann. Doch 2016 engte das Gericht dies zugunsten der Arbeitgeber ein: Im Regelfall muss der Arbeitnehmer sich innerhalb von drei Wochen entscheiden und den Arbeitgeber informieren. Verspätete Offenbarungen können den Kündigungsschutz kosten. Für Arbeitgeber heißt das: Auch wenn Ihnen die Behinderung zunächst nicht bekannt war, kann eine Kündigung nachträglich unwirksam sein – es sei denn, der Mitarbeiter hat die Fristen versäumt. Zur Sicherheit sollten Sie also bei Kündigungen stets prüfen (z.B. durch Nachfrage beim Mitarbeiter oder Abfrage beim Versorgungsamt mit Zustimmung), ob möglicherweise ein Antrag auf Schwerbehindertenausweis gestellt wurde.
- BAG zum BEM als Voraussetzung (Urteil vom 15.12.2022 – 2 AZR 162/22): In diesem grundlegenden Urteil betonte das BAG erneut die immense Bedeutung des betrieblichen Eingliederungsmanagements vor einer Kündigung wegen Krankheit – gerade bei schwerbehinderten Mitarbeitern. Das Gericht stellte klar, dass die Zustimmung des Integrationsamts ein fehlendes BEM nicht ersetzt. Eine Kündigung ist ohne ordnungsgemäßes BEM zwar theoretisch nicht automatisch unwirksam, aber „faktisch nahezu immer unwirksam“, weil der Arbeitgeber vor Gericht detailliert darlegen und beweisen muss, warum selbst ein BEM die Kündigung nicht hätte verhindern können. Im konkret entschiedenen Fall hatte der Arbeitgeber das BEM unterlassen, weil der Mitarbeiter die datenschutzrechtliche Einwilligung nicht unterschreiben wollte – das BAG hielt die Kündigung für unwirksam. Merke: Arbeitgeber sollten das BEM-Verfahren nicht bürokratisch überfrachten (z.B. unnötige Formalitäten verlangen) und jeden ernsthaften Durchführungsversuch dokumentieren. Andernfalls laufen sie Gefahr, im Kündigungsschutzprozess zu verlieren.
- BVerwG zu Diskriminierung im Auswahlverfahren (Urteil vom 03.03.2011 – 5 C 16.10): Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte über die Nichteinladung eines Schwerbehinderten zu entscheiden – hier im Kontext einer öffentlichen Stellenausschreibung. Es bestätigte, dass ein fachlich geeigneter schwerbehinderter Bewerber durch die fehlende Einladung zum Vorstellungsgespräch benachteiligt im Sinne des AGG ist. Dieses Urteil untermauert, dass die Vorgaben zur Einladungspflicht nicht bloß Formalien sind, sondern essentieller Teil des Diskriminierungsschutzes. Öffentliche Arbeitgeber müssen sich an die Regeln halten, sonst machen sie sich schadensersatzpflichtig. Für private Arbeitgeber sind die Grundsätze übertragbar: Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung im Auswahlprozess kann eine unmittelbare Benachteiligung wegen Behinderung darstellen, gegen die der Bewerber vorgehen kann.
Diese Rechtsprechung zeigt: Gerichte achten strikt auf die Einhaltung der Schutzvorschriften. Arbeitgeber sollten deshalb ihre Prozesse – von der Einstellung bis zur Kündigung – im Lichte dieser Entscheidungen überprüfen. Im Zweifel gilt: Lieber einmal mehr die SBV beteiligen, das Integrationsamt einschalten oder ein BEM anbieten, als später vor Gericht eine Niederlage zu riskieren. Die praktische Erfahrung zeigt, dass eine frühzeitige Beratung durch das Integrationsamt oder einen Fachanwalt helfen kann, Fallstricke zu vermeiden. Mit dem nötigen Know-how und Sorgfalt profitieren beide Seiten – Arbeitgeber wie Arbeitnehmer – von einem inklusiven, rechtssicheren Arbeitsumfeld.