Ein aktuelles Urteil des Arbeitsgerichts Hamm vom 08.08.2025 (Az.: 2 Ca 182/25) sorgt für Aufsehen: Nach der Fusion eines evangelischen Krankenhauses mit einem katholischen Träger wurde dem Chefarzt der Gynäkologie untersagt, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen – sowohl im Klinikum selbst als auch in seiner eigenen Privatpraxis. Der erfahrene Mediziner hatte 13 Jahre lang aus medizinischer Indikation solche Eingriffe durchgeführt. Mit der Übernahme durch den katholischen Träger änderte sich jedoch die Lage drastisch: Auf Weisung des neuen Arbeitgebers musste er diese Behandlungen einstellen. Seine Klage gegen diese Dienstanweisungen wurde nun abgewiesen. Das Gericht befand, der Arbeitgeber sei “kraft seines Direktionsrechts zu beiden Maßnahmen berechtigt”. Dieses Urteil berührt zentrale Fragen des Arbeitsrechts – vom Direktionsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO) über Sonderregeln im kirchlichen Arbeitsrecht bis hin zu den Grenzen bei einem Betriebsübergang (§ 613a BGB). Ebenso beleuchtet der Fall, inwieweit Dienstanweisungen in den Kernbereich ärztlicher Entscheidungen eingreifen dürfen und wie weit ein Arbeitgeber die Nebentätigkeiten seiner Arbeitnehmer regulieren kann.
Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer blicken gespannt auf die Begründung dieser Entscheidung. Arbeitgeber erhoffen sich Klarheit darüber, wie weit sie Weisungen im Spannungsfeld von Unternehmensfreiheit und Mitarbeiterrechten erteilen dürfen. Arbeitnehmer – insbesondere im Gesundheitswesen oder in kirchlich geprägten Einrichtungen – fragen sich, welche Rechte sie haben, wenn neue ethisch-religiöse Vorgaben ihre berufliche Praxis einschränken. Im Folgenden wird der Fall detailliert vorgestellt, die juristische Einordnung vorgenommen und praktische Empfehlungen für beide Seiten gegeben. Dabei wird der Stil eines Fachanwalts für Arbeitsrecht gewahrt und juristisch präzise argumentiert – unter Einbeziehung der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und Rechtsprechung.
Sachverhalt und Prozessgeschichte
Der Kläger, Professor Joachim V., ist seit vielen Jahren Chefarzt der Gynäkologie am Klinikum Lippstadt. In dieser Funktion führte er in seltenen Ausnahmefällen auch medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche durch – etwa bei schweren Fehlbildungen des Fötus oder vergleichbaren Indikationen. Dies geschah im Rahmen seiner ärztlichen Verantwortung und in Absprache mit den Patientinnen und Familien. Bis Anfang 2025 war das Klinikum Lippstadt in evangelischer Trägerschaft, welche derartige Eingriffe in besonderen Fällen zuließ.
Fusion mit katholischem Träger: Im Jahr 2025 fusionierte das evangelische Klinikum jedoch mit einem benachbarten katholischen Krankenhaus. Die katholische Seite machte zur Bedingung für den Zusammenschluss, dass in der fusionierten Klinik keine Schwangerschaftsabbrüche mehr vorgenommen werden. Dieses strikte Verbot spiegelt die katholische Glaubenslehre wider, nach der “Schwangerschaftsabbruch nach wie vor Mord” sei. Entsprechend der kirchlichen Grundordnung der katholischen Kirche gilt die “Propagierung der Abtreibung” dort als “kirchenfeindliche Betätigung”. Vor diesem Hintergrund wurde bereits im Fusionsvertrag festgeschrieben, dass in der neuen Einheit – einer gGmbH namens “Klinikum Lippstadt – Christliches Krankenhaus” – keine Schwangerschaftsabbrüche (außer in Lebensgefahr) mehr durchgeführt werden dürfen.
Dienstanweisungen an den Chefarzt: Unmittelbar nach der Fusion, im Januar 2025, erließ die Klinikleitung zwei schriftliche Weisungen an Professor V.: Zum einen wurde ihm untersagt, in der Abteilung Gynäkologie des Klinikums Lippstadt Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen; zum anderen wurde ihm verboten, solche Eingriffe in seiner privaten Praxis in Bielefeld (ca. 50 km entfernt) durchzuführen. Diese zweite Weisung betrifft eine Nebentätigkeit, denn V. betreibt seit 2020 mit Genehmigung seines Arbeitgebers eine Privatpraxis für Reproduktionsmedizin. Die neue Geschäftsführung bestätigte zwar schriftlich die Nebentätigkeitserlaubnis für diese Praxis, koppelte sie jedoch an die Auflage, dort keine Schwangerschaftsabbrüche mehr vorzunehmen.
Die Dienstanweisungen sehen nur eng begrenzte Ausnahmen vor: Sollte das Leib oder Leben der Schwangeren (oder des ungeborenen Kindes) akut gefährdet sein und keine andere medizinische Maßnahme möglich sein, darf der Chefarzt nach Rücksprache mit der Klinikgeschäftsführung und der Ethikkommission einen Abbruch durchführen. Eine “bloße” medizinische Indikation – etwa die Feststellung einer schweren Fehlbildung, die zwar das ungeborene Kind schwer beeinträchtigt, ohne aber das Leben der Mutter unmittelbar zu bedrohen – reicht hingegen nicht aus, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Praktisch bedeutete dies für Prof. V., dass er auch in tragischen Fällen (z. B. ein Fötus ohne Schädeldecke oder andere letale Anomalien) den Eltern keinen Abbruch mehr anbieten durfte.
Klage vor dem Arbeitsgericht: Professor V. empfand diese Weisungen als unzulässig und mit seinem ärztlichen Ethos unvereinbar. Er fügte sich zwar zunächst den Anordnungen, wollte diese aber rechtlich nicht hinnehmen. Im Frühjahr 2025 fand eine Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht Hamm (Gerichtstag Lippstadt) statt, die jedoch scheiterte. V. blieb somit bei seiner Klage, mit der er die Aufhebung beider Weisungen erreichen wollte.
Der Fall erregte überregionale Aufmerksamkeit: Am Morgen des Hauptverhandlungstags versammelten sich rund 2.000 Demonstrierende in Lippstadt, um ihre Unterstützung für den Chefarzt und das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in Notlagen kundzutun. Parolen wie “Mein Körper ist kein Kirchengut” und “Hilfe kann keine Sünde sein” brachten die Kritik auf den Punkt. Zahlreiche Politikerinnen, Parteien und Verbände (u. a. Ver.di) solidarisierten sich öffentlich mit dem Anliegen. Professor V. selbst hatte eine Petition “Ich bin Arzt – meine Hilfe ist keine Sünde!” gestartet, die bis zum Verhandlungstag über 230.000 Unterschriften erhielt.
Die mündliche Verhandlung am 08.08.2025 war emotional aufgeladen, endete jedoch unspektakulär nüchtern. Der Vorsitzende Richter Klaus Griese verkündete kurz und knapp, dass die Klage abgewiesen wird. Auf Nachfrage erläuterte er lediglich, der Arbeitgeber sei “im Rahmen des zustehenden Direktionsrechts” befugt gewesen, diese Vorgaben zu machen. Eine ausführliche Urteilsbegründung wurde in Aussicht gestellt, lag aber zum Zeitpunkt der Presseberichte noch nicht schriftlich vor. In einer Pressemitteilung bestätigte das Gericht lediglich, dass die Klinik im Rahmen ihres Weisungsrechts gehandelt habe.
Reaktionen und weiterer Verlauf: Professor V. zeigte sich enttäuscht, betonte aber, dass er “fast sicher” in Berufung gehen werde. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses komme für ihn nicht in Frage – er wolle weiterhin um sein Recht kämpfen, “medizinisch gebotene” Hilfe leisten zu dürfen. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass ihm aufgrund seines Alters (67 Jahre) nur noch ein begrenztes Zeitfenster bis zur Rente bleibt. Er kündigte an, notfalls durch alle Instanzen zu gehen, soweit ihm die Zeit bleibe. Der Fall dürfte daher vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm weiterverhandelt werden und hat das Potenzial, Grundsatzfragen bis vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) oder sogar das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen.
Zentrale Entscheidungsgründe des ArbG Hamm
Obwohl die schriftliche Urteilsbegründung noch aussteht, lassen sich aus der Verhandlung und den Presseinformationen die Kernargumente der Kammer herausarbeiten. Das Arbeitsgericht Hamm stützte die Rechtmäßigkeit der beiden Weisungen maßgeblich auf das Direktionsrecht des Arbeitgebers gemäß § 106 Gewerbeordnung (GewO). Dieses gesetzliche Weisungsrecht erlaube es dem Arbeitgeber grundsätzlich, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach “billigem Ermessen” näher zu bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder Gesetz festgelegt sind. Mit anderen Worten: Wo vertragliche oder gesetzliche Regelungen schweigen, darf der Arbeitgeber einseitig Anordnungen treffen, solange sie billigem Ermessen entsprechen. Im konkreten Fall war im Arbeitsvertrag von Prof. V. zwar festgehalten, dass er bei Diagnose und Therapie frei sei. Allerdings sah das Gericht hierin offenbar keine uneingeschränkte Zusicherung bestimmter Behandlungsmethoden. Vielmehr wurde betont, dass letztlich der Arbeitgeber vorgibt, welche Leistungen im Krankenhaus erbracht werden – insbesondere wenn es um grundlegende unternehmerische Entscheidungen zur Art der angebotenen Behandlungen geht.
Richter Griese stellte klar, dass der Arbeitgeber “kraft seines Direktionsrechts zu beiden Maßnahmen berechtigt” war, nämlich sowohl zur Untersagung von Abbrüchen in der Klinik als auch zum Verbot in der Privatpraxis. Damit billigte das Gericht dem Klinikum die Befugnis zu, selbst zu bestimmen, welche medizinischen Leistungen in seinem Haus (und durch sein leitendes Personal) angeboten bzw. unterlassen werden. Der Geschäftsführer des Klinikums brachte dies während des Prozesses auf den Punkt: “Ein Arbeitgeber darf bestimmen, was in seinem Unternehmen gemacht wird und was nicht. Das ist unternehmerische Freiheit.”
Bemerkenswert ist, dass das ArbG Hamm die Situation nicht als absolutes Abwägungsdrama zwischen Frauenwürde und religiöser Moral behandelte, sondern als im Kern arbeitsrechtliche Vertragsfrage. Die Demonstranten draußen diskutierten über Selbstbestimmung der Frau, der Richter hingegen fokussierte auf die formale Frage, ob die Weisungen vom Weisungsrecht gedeckt sind. Das Gericht betonte zudem, dass im Klinikum medizinisch indizierte Abbrüche nicht völlig kategorisch verboten seien, sondern in eng umrissenen Notfällen weiterhin zulässig blieben. Dies zeigt, dass die Kammer die getroffenen Vorgaben als eine unternehmerische Entscheidung innerhalb des rechtlichen Rahmens betrachtete, nicht als Verstoß gegen höherrangiges Recht. Insbesondere liegt in den Weisungen kein Rechtsbruch, da § 218a StGB (der bestimmte Schwangerschaftsabbrüche straffrei stellt) lediglich einen staatlichen Rechtsrahmen definiert, aber keine Pflicht eines jeden Krankenhauses begründet, solche Eingriffe vorzunehmen. Wie der Klinik-Anwalt ausführte, “setzt die gesetzliche Norm nur einen Rahmen, den muss man nicht ausfüllen”.
Argumente der Parteien: Die Entscheidung spiegelt wider, dass das Gericht den Argumenten der Beklagtenseite folgte. Die Klinik berief sich auf ihr Hausrecht und die Wahrung ihrer konfessionellen Identität. Sie machte geltend, ein gesellschaftspolitischer Konsens über Schwangerschaftsabbrüche könne nicht die internen Vorgaben der Klinik diktieren. Der Kläger hingegen argumentierte, derartige Dienstanweisungen dürften “den ärztlichen Bereich – also Diagnostik und Therapie – nicht umfassen”. Prof. V. rügte, das Abbruchverbot ignoriere “das ärztliche Urteil, den Willen der Patientin und das Gesetz”, das solche Eingriffe in bestimmten Fällen ausdrücklich erlaube. Er verwies darauf, dass ein Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen nach Beratung straffrei ist und auch später bei medizinischer Indikation (z. B. bei Gefahr für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren, bei schweren Fehlbildungen oder nach Vergewaltigung) gesetzlich zulässig sei. Sein Standpunkt: Es sei unethisch und unverantwortlich, Frauen zu zwingen, eine ungewollte oder gefährliche Schwangerschaft auszutragen, nur weil der neue konfessionelle Träger dies so vorschreibe. Außerdem betonte er, er habe über Jahre in Zusammenarbeit mit dem früheren Geschäftsführer eine Praxis etabliert, in der er allein im Einvernehmen mit den Patientinnen entscheiden durfte, wann ein Abbruch medizinisch angezeigt ist. Diese (auch vertraglich verankerte) Therapiefreiheit sah er durch die neuen Weisungen ausgehöhlt. Das Gericht indes maß dieser früheren Absprache kein entscheidendes Gewicht bei – es erließ hierzu nicht einmal einen Beweisbeschluss. Dies deutet darauf hin, dass nach Auffassung der Kammer selbst eine solche individuelle Vereinbarung von den nachfolgenden betrieblichen Änderungen überlagert wird, sofern das Weisungsrecht formell korrekt ausgeübt wurde.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das ArbG Hamm die Weisungen als wirksame Ausübung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts ansah und keinen höherrangigen Verstoß erkennen wollte. Die grundsätzliche Rechtsfrage, ob ein neuer konfessioneller Arbeitgeber durch Weisung die bisherige erlaubte Tätigkeit seines Arbeitnehmers derart beschneiden darf, wurde von der ersten Instanz pro Arbeitgeber entschieden. Diese Entscheidung wirft jedoch zahlreiche arbeitsrechtliche und verfassungsrechtliche Fragen auf, die im folgenden Abschnitt eingeordnet werden.
Arbeitsrechtliche Einordnung des Urteils
Der Fall vereint mehrere komplexe Rechtsbereiche: das allgemeine Weisungsrecht aus § 106 GewO, die Sonderregeln des kirchlichen Arbeitsrechts, den Kündigungs- und Änderungsschutz bei Betriebsübergängen nach § 613a BGB sowie Fragen zur Reichweite von Dienstanweisungen und Nebentätigkeitsverboten. Im Folgenden werden diese Punkte systematisch beleuchtet, um die Entscheidung des ArbG einzuordnen.
Direktionsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO)
Das Direktionsrecht (Weisungsrecht) erlaubt es Arbeitgebern, die im Arbeitsvertrag häufig nur allgemein umschriebenen Pflichten der Arbeitnehmer im Einzelnen näher zu bestimmen. Gesetzlich verankert ist dies in § 106 Satz 1 GewO: “Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.”. Einfach gesagt bedeutet das: Was, wo und wann gearbeitet wird, kann der Chef einseitig anordnen, solange keine entgegenstehenden Regelungen vorhanden sind. Dieses Gestaltungsrecht ist für die betriebliche Praxis essentiell, da Arbeitsverträge nicht jede Einzelheit vorwegnehmen können. Gleichzeitig unterliegt das Weisungsrecht wichtigen Schranken: Die Anordnungen müssen “nach billigem Ermessen” erfolgen, dürfen also nicht willkürlich sein, sondern müssen die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers in die Abwägung einbeziehen. Außerdem haben arbeitsvertragliche Vereinbarungen, Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und zwingende Gesetze stets Vorrang vor einer Weisung. Eine Weisung, die gegen den Arbeitsvertrag oder gegen gesetzliche Verbote verstößt, ist unwirksam und braucht vom Arbeitnehmer nicht befolgt zu werden.
Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage: Durfte die Klinikleitung per Weisung festlegen, dass Prof. V. keine bestimmten medizinischen Tätigkeiten mehr ausübt? Auf den ersten Blick fällt dies in den Inhalt der Arbeitsleistung – also was gearbeitet werden soll und was nicht. Der Arbeitgeber kann einem Arbeitnehmer grundsätzlich Aufgaben zuweisen oder auch entziehen, sofern dies nicht die Hauptleistungspflicht aushöhlt (z. B. darf niemand einseitig auf eine geringerwertige Tätigkeit herabgestuft werden). Hier blieb Prof. V. Chefarzt mit allen Aufgaben, lediglich die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde aus seinem Aufgabenportfolio entfernt. Das ArbG Hamm hat offenbar darin keine vertragswidrige Degradierung gesehen, sondern eine zulässige Neubestimmung des Leistungsspektrums innerhalb seiner Stellung. Schließlich wird seine Vergütung fortgezahlt und seine Stellung als Chefarzt nicht angetastet – lediglich eine bestimmte Behandlungsmethode ist ausgeschlossen. Diese Sichtweise stimmt mit der Rechtsprechung überein, die anerkennt, dass der Arbeitgeber die “Art der Leistungen” bestimmen und auch einzelne Aufgaben entziehen darf, solange das Direktionsrecht nicht missbraucht wird.
Allerdings war hier im Arbeitsvertrag des Chefarztes festgehalten, dass er “in der Diagnose und in der Therapie frei” sei. Eine solche Klausel soll Ärzten üblicherweise eine fachliche Autonomie zusichern – also die Freiheit, im konkreten Behandlungsfall nach eigenem medizinischen Wissen und Gewissen zu entscheiden. Prof. V. berief sich auf diese Vertragsbestimmung, um zu argumentieren, der Arbeitgeber dürfe ihm keine Vorgaben zur Durchführung bestimmter Therapien machen. Rein juristisch handelt es sich hierbei um die Kollision zwischen vertraglich garantierter Therapiefreiheit und dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Nach § 106 GewO gilt, dass vertragliche Regelungen Vorrang haben. Hätte der Arbeitsvertrag explizit das Recht enthalten, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, dürfte eine entgegenstehende Weisung nicht ergehen. Im Vertrag war dies jedoch nicht ausdrücklich geregelt, sondern nur allgemein die Diagnose- und Therapiehoheit erwähnt. Das ArbG hat diese Klausel offenbar eng ausgelegt: Die Freiheit der Therapieentscheidung gilt im Rahmen des medizinisch Zulässigen und des betrieblich Vorgegebenen, schützt den Arzt also davor, von betriebsfremden Personen in Einzelfällen überstimmt zu werden, nicht aber vor generellen Grundsatzentscheidungen des Krankenhausträgers. Anders ausgedrückt: Die Therapiefreiheit des Arztes findet dort ihre Grenze, wo der Arbeitgeber legitime Vorgaben zum Leistungsspektrum des Betriebs macht. So argumentierte es auch Prof. Gregor Thüsing (Arbeitsrechtler), der den Punkt für unproblematisch hält: “Der Arbeitgeber sagt, welche Arbeit zu tun ist, nicht der Arbeitnehmer.”. Nach dieser Auffassung durfte der neue Arbeitgeber also bestimmen, dass die Leistung “Schwangerschaftsabbruch (außer bei Lebensgefahr)” künftig nicht zum Angebot der Klinik gehört – und entsprechend dem Chefarzt per Weisung untersagen, solche Eingriffe vorzunehmen.
Selbstverständlich entbindet das Direktionsrecht den Arbeitgeber nicht davon, billiges Ermessen walten zu lassen und die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Ob dies hier ausreichend geschah, wird Gegenstand der weiteren gerichtlichen Prüfung in der Berufung sein. Prof. V. kann geltend machen, dass seine eigenen Grundrechte (z. B. seine Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und eventuell Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG) berührt sind, wenn ihm die fachgerechte Behandlung von Patientinnen aus moralischen Gründen untersagt wird. Die Arbeitsgerichte müssen bei der Kontrolle von Weisungen auch die Grundrechte des Arbeitnehmers einbeziehen. Das ArbG Hamm scheint die Weisungen jedoch als interessengerecht bewertet zu haben – wohl mit der Begründung, dass die Klinik ein sehr gewichtiges Interesse (Schutz des katholischen Ethos und Einhaltung des Fusionsvertrages) vorgebracht hat. Immerhin wurde eine Kompromisslinie gezogen, indem lebensrettende Abbrüche weiterhin erlaubt blieben. In der Gesamtschau bewegten sich die Weisungen nach Ansicht der Kammer noch im Rahmen des billigen Ermessens, trotz der einschneidenden Wirkung für den Kläger. Ob diese Abwägung angemessen war, dürfte in der nächsten Instanz erneut und vertieft geprüft werden.
Kirchliches Arbeitsrecht – Selbstbestimmungsrecht der Kirche vs. staatliches Recht
Der Fall ist prototypisch für Konflikte im kirchlichen Arbeitsrecht. Kirchliche Einrichtungen – seien es Krankenhäuser, Kindergärten oder Schulen – genießen in Deutschland ein besonderes Selbstbestimmungsrecht, verankert in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Weimarer Reichsverfassung. Danach dürfen Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten selbst regeln, was auch umfasst, “was ihre Arbeitsbedingungen angeht”. Lange Zeit galt daher, dass Kirchen und ihre Caritas-/Diakonie-Einrichtungen eigene Loyalitätsobliegenheiten aufstellen konnten, die von staatlichen Gerichten nur eingeschränkt überprüft wurden. So konnten katholische Arbeitgeber z. B. von leitenden Mitarbeitern verlangen, der katholischen Kirche anzugehören, ein bestimmtes Familienleben zu führen (Stichwort: keine Wiederverheiratung nach Scheidung) oder eben die Glaubensgrundsätze im Dienst strikt zu beachten. Verstöße galten als loyalitätswidrig und konnten arbeitsrechtliche Konsequenzen bis zur Kündigung haben.
Im vorliegenden Fall ist der katholische Standpunkt eindeutig: Kein Mitarbeiter in leitender Position darf aktiv an einem Schwangerschaftsabbruch mitwirken, denn dies widerspricht fundamental der katholischen Glaubenslehre vom Schutz ungeborenen Lebens. Die katholische Kirche hat diese Haltung in ihrer Grundordnung des kirchlichen Dienstes festgeschrieben. In Art. 7 der Grundordnung (2015) wird die “Propagierung der Abtreibung” ausdrücklich als schwerwiegender Loyalitätsverstoß bezeichnet. Zwar handelt es sich bei einer rein medizinisch indizierten Durchführung eines Abbruchs nicht um “Propagierung” im Sinne aktiver Werbung, doch macht das Zitat klar, wie stark das Thema moralisch aufgeladen ist. Ein katholischer Arbeitgeber sieht sich hier in einem Gewissenskonflikt: Würde er solche Eingriffe durch sein Personal zulassen, käme das aus seiner Sicht einer Duldung von Tötung ungeborenen Lebens gleich – für die Kirche ein absolutes No-Go.
Die arbeitsrechtliche Frage lautet: Wie weit reicht dieses kirchliche Selbstbestimmungsrecht, wenn es mit den Rechten der Arbeitnehmer kollidiert? In den letzten Jahren haben sowohl deutsche Gerichte als auch der Europäische Gerichtshof zunehmend Grenzen aufgezeigt. So hat das BAG im Jahr 2018 im vielbeachteten “Chefarzt-Fall” entschieden, dass die Kündigung eines katholischen Chefarztes wegen Wiederverheiratung unwirksam war – eine Entscheidung, die das BVerfG 2019 gebilligt hat, nachdem zuvor der EuGH Vorgaben zur Gleichbehandlung gemacht hatte. Ebenso wurde im Fall Egenberger durch den EuGH (2018) klargestellt, dass die Konfessionszugehörigkeit nur dann als Einstellungsvoraussetzung verlangt werden darf, wenn sie für die Tätigkeit objektiv geboten ist. Der kirchliche Spielraum ist also nicht schrankenlos; staatliche Gerichte überprüfen, ob die Kirchenregeln mit höherrangigem Recht (insb. dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz – AGG und EU-Recht) vereinbar sind. Aktuell ist z. B. ein Verfahren anhängig, in dem eine Kündigung wegen Kirchenaustritts auf dem Prüfstand steht – die Generalanwältin am EuGH hat jüngst empfohlen, diese Praxis als diskriminierend einzustufen.
Im Fall von Prof. V. liegen allerdings besondere Umstände vor: Er selbst ist aus der katholischen Kirche ausgetreten, war also schon vorher kein Katholik mehr. Dennoch unterfiel er bis zur Fusion dem evangelischen Arbeitsrecht und nun den katholischen Vorgaben, da er sich dem neuen konfessionellen Arbeitgeber nicht widersetzt hat. Die katholische Grundordnung unterscheidet in ihren Loyalitätsanforderungen durchaus zwischen katholischen und andersgläubigen Mitarbeitern. Oft werden von Nicht-Katholiken weniger strenge Maßstäbe verlangt, solange sie die Grundwerte respektieren. Allerdings gelten für leitende Positionen (etwa Chefärzte) traditionell die höchsten Loyalitätspflichten, da man argumentiert, sie repräsentierten die Einrichtung nach außen. Der neue Arbeitgeber hat Prof. V. offenbar als solchen Repräsentanten betrachtet, dem man die katholischen Normen abverlangen kann – trotz seiner persönlichen anderen Überzeugung. Hier stellt sich ein antidiskriminierungsrechtliches Problem: Wird Prof. V. letztlich ungleich behandelt, weil er eine bestimmte (liberalere) Weltanschauung hat? Ein katholischer Arzt, der ohnehin Abbrüche als Sünde betrachtet, gerät gar nicht erst in Konflikt; der konfessionslose Arzt hingegen wird durch das Abbruchverbot in seiner Berufsausübung eingeschränkt. Indirekt könnte man dies als Benachteiligung wegen Religion/Weltanschauung werten – ein Aspekt, den in Zukunft höhere Gerichte im Lichte von § 9 AGG (Sonderregelung für Kirchen) und EU-Recht prüfen könnten.
Für die arbeitsrechtliche Einordnung ist festzuhalten: Das ArbG Hamm hat den kirchlichen Standpunkt weitgehend akzeptiert. Es sah die Weisungen als Ausfluss der unternehmerischen Freiheit an, die hier durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht geprägt ist. Solange die Klinik nicht gegen zwingende staatliche Gesetze verstößt (was sie mit dem eingeschränkten Abbruchverbot nicht tat, da es kein Gesetz gibt, das Krankenhäuser zur Durchführung aller erlaubten Abbrüche verpflichtet), durfte sie ihren strengen Moralkodex intern durchsetzen. Die Autonomie der Kirche in der Festlegung von Arbeitsbedingungen wurde also hoch gewichtet. Allerdings geschah dies implizit: Das Urteil spricht nicht ausführlich über Art. 140 GG, doch de facto hat es dem kirchlichen Anliegen Vorrang vor der individuellen Therapiefreiheit des Arztes eingeräumt.
Es ist möglich, dass in der Berufung eine differenziertere Betrachtung erfolgt. Denn die Gerichte müssen seit den genannten EuGH-Urteilen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen, ob eine bestimmte Loyalitätspflicht im konkreten Job wesentlich und gerechtfertigt ist. Im Jobprofil eines Chefarztes für Gynäkologie könnte man fragen: Ist es wirklich erforderlich, dass er auch außerhalb der Dienststelle keine (gesetzlich erlaubten) Abbrüche vornimmt, um die kirchliche Prägung des Hauses glaubwürdig zu erhalten? Oder würde es genügen, dass im Krankenhaus selbst diese Leistung nicht angeboten wird? Diese Abwägung zwischen der Glaubwürdigkeit der kirchlichen Einrichtung einerseits und der Berufs- und Gewissensfreiheit des Arztes andererseits ist heikel. Sie berührt auch die Interessen Dritter – nämlich der Patientinnen, denen ggf. wohnortnah keine Hilfe mehr angeboten wird. Prof. V. argumentierte, es entstehe ein Versorgungsengpass für Frauen in der Region, wenn katholische Träger per Fusion ganze Landstriche “abtreibungsfrei” machten. Rein rechtlich hat das ArbG diese öffentlichen Interessen mit dem Hinweis abgetan, das sei kein individualrechtlicher Anspruch des Arbeitnehmers, sondern allenfalls einer der Allgemeinheit. Das zeigt: Die erste Instanz hat streng innerhalb der klassischen arbeitsvertraglichen Beziehung argumentiert und die gesellschaftlichen Dimensionen ausgeblendet. Doch höhere Instanzen könnten geneigt sein, das kirchliche Sonderrecht enger auszulegen, um Grundrechte der Arbeitnehmer und Interessen der Allgemeinheit stärker zu schützen.
Kurzum: Nach derzeitiger Rechtslage dürfen kirchliche Arbeitgeber zwar ihre Werte durchsetzen, aber diese Befugnis ist durch EU-Vorgaben und Grundrechte begrenzt. Das Spannungsfeld ist deutlich: Hier das verfassungsverbürgte Recht der Kirchen, ihre Moralvorstellungen im Betrieb zur Geltung zu bringen; dort die berechtigten Ansprüche von Arbeitnehmern auf Gleichbehandlung und berufliche Entfaltung. Das Urteil des ArbG Hamm schlägt sich klar auf die Seite des kirchlichen Arbeitgebers. Ob dies im Lichte der neueren Rechtsprechung so haltbar ist, bleibt abzuwarten.
Grenzen bei Betriebsübergang (§ 613a BGB)
Eine weitere wesentliche Dimension ist der Betriebsübergang. Durch die Fusion kam es zu einem Übergang des Betriebs (bzw. Betriebsteils) vom evangelischen Träger auf die neue Betreibergesellschaft unter katholischer Mehrheit. § 613a Abs. 1 BGB bestimmt, dass in einem solchen Fall der neue Inhaber “in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen eintritt”. Für Prof. V. bedeutete dies: Sein Arbeitsvertrag blieb zunächst inhaltlich unverändert bestehen, nur eben mit neuem Arbeitgeber (der Christliches Krankenhaus gGmbH). Arbeitnehmer sollen durch einen Betriebsübergang weder ihren Job verlieren noch schlechter gestellt werden – so ist es der Schutzzweck des § 613a. Änderungen der Arbeitsbedingungen sind wegen des Übergangs unwirksam, sofern sie innerhalb des ersten Jahres nach Übergang zum Nachteil des Arbeitnehmers erfolgen (§ 613a Abs. 1 S. 2 BGB). Selbst nach Ablauf eines Jahres dürfen Verschlechterungen nicht “wegen des Betriebsübergangs” erfolgen, sondern nur aus anderen legitimen Gründen, etwa im Rahmen betriebsüblicher Maßnahmen. Kündigungen wegen des Übergangs sind gemäß § 613a Abs. 4 BGB sogar absolut verboten.
Im vorliegenden Fall hat Prof. V. dem Betriebsübergang nicht widersprochen und ist somit Arbeitnehmer des neuen kirchlichen Trägers geworden. Die Kernfrage lautet nun: Stellt das nachträgliche Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eine Vertragsänderung zum Nachteil des Arbeitnehmers dar, die nach § 613a BGB unzulässig wäre? Schließlich durfte er vor dem Übergang diese Tätigkeit ausüben (und hat dies auch regelmäßig getan), nach dem Übergang nicht mehr. Sein Tätigkeitsumfang wurde also de facto eingeschränkt – und für ihn persönlich bedeutet es eine gravierende Änderung, weil er einen wichtigen Teil seiner ärztlichen Tätigkeit und Überzeugung nicht mehr einbringen darf. Man könnte argumentieren, dass der neue Arbeitgeber hier etwas verlangt (Unterlassung von bestimmten Behandlungen), was vorher nicht Vertragsbestandteil war, und dass dies nur wegen des Wechsels des Inhabers eingeführt wurde. Insofern liegt der Verdacht nahe, dass hier § 613a unterlaufen wurde.
Allerdings ist die juristische Bewertung kompliziert: Der neue Arbeitgeber könnte entgegnen, dass er keine Vertragsänderung im technischen Sinne vorgenommen hat. Prof. V.’s schriftlicher Arbeitsvertrag wurde nicht geändert oder gekündigt, sein Gehalt nicht gekürzt, seine Position nicht herabgestuft. Die Weisungen stellen formal einseitige Ausübungen des Direktionsrechts dar, keine Änderungskündigung oder Ähnliches. Nach einem Betriebsübergang sind solche Weisungen nicht per se verboten, solange sie sich innerhalb des durch den Arbeitsvertrag vorgegebenen Rahmens bewegen. Hier kommt es also darauf an, wie der Inhalt des bisherigen Arbeitsverhältnisses auszulegen ist: War es Bestandteil des Vertrags (explizit oder konkludent), dass Prof. V. Schwangerschaftsabbrüche durchführen darf/muss? Oder war dies nur eine faktische Übung unter dem alten Träger, die nicht zum unveränderlichen Vertragssoll gehörte? Das Gericht hat offenbar letzteres angenommen – eben dass der Arbeitgeber dank Direktionsrecht die angebotenen Leistungen neu definieren durfte, ohne den Vertrag zu brechen. Unterstützung findet diese Sicht in der Argumentation, es handle sich nicht um einen “Vertrag zu Lasten Dritter” (hier: des Arbeitnehmers), weil die belastende Wirkung nur mittelbar aus dem Fusionsvertrag resultiere. Sprich: Der Betriebsübergang selbst hat den Inhalt des Arbeitsvertrags nicht direkt geändert; die Gesellschaftervereinbarung bindet zwar die Geschäftsführer, aber begründet keine unmittelbare neue Pflicht des Arbeitnehmers. Die Pflichten des Arbeitnehmers ergeben sich weiterhin aus dem Arbeitsvertrag – und aus dem folgt: “Der Arbeitgeber sagt, welche Arbeit zu tun ist.”. Nach dieser Logik greift § 613a nicht ein, weil formal am Vertrag nichts geändert wurde – der neue Arbeitgeber übt nur ein bestehendes Recht (Weisungsrecht) aus.
Dennoch bleibt ein Geschmäckle: Für Prof. V. und seine Kollegen fühlte es sich selbstverständlich wie eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen an, plötzlich an katholische Grundsätze gebunden zu sein. Er hatte sich bei Einstellung auf die evangelischen Wertvorstellungen eingelassen und “darauf vertraut”. Nun gelten andere Regeln, die seinem bisherigen ärztlichen Selbstverständnis widersprechen. Im Grunde zeigt sich hier ein Strukturproblem des § 613a BGB: Die Norm schützt primär vor offensichtlichen Nachteilen (wie Kündigung oder Lohnsenkung) beim Inhaberwechsel, greift aber schlechter bei qualitativen Verschlechterungen der Arbeitsumstände, besonders wenn sie unter dem Deckmantel zulässiger Organisationsentscheidungen daherkommen. Die Untersagung, gewisse medizinische Tätigkeiten auszuführen, lässt sich als unternehmerische Entscheidung (Leistungskatalog ändern) framen – was es schwieriger macht, sie als verbotene Maßnahme “wegen des Übergangs” zu brandmarken.
Nichtsdestotrotz könnte ein Gericht höherer Instanz durchaus kritisch fragen, ob diese Weisungen ohne den Betriebsübergang ergangen wären. Die Antwort ist klar: Nein – ein evangelisches Krankenhaus hätte sie nie erlassen. Sie sind also kausal auf den Übergang zurückzuführen. Damit liegt der Verdacht einer unzulässigen Umgehung des § 613a nahe: Der Arbeitgeber hat de facto etwas durchgesetzt, was er bei sofortiger vertraglicher Änderung nicht hätte dürfen. Ein kreativer Ansatz wäre zu prüfen, ob die Weisungen unzumutbar und damit unwirksam sind, weil sie allein durch den Übergang motiviert sind und den Mitarbeiter einseitig schlechter stellen. Hier könnte die Rechtsprechung zu unbilligen Weisungen (§ 106 GewO i. V. m. § 315 BGB) anknüpfen: Eine Weisung, die den Arbeitnehmer unverhältnismäßig benachteiligt, ist unwirksam. Man könnte argumentieren, dass Prof. V.‘s Interesse, seine bisherige Tätigkeit auszuüben und Patientinnen zu helfen, das Interesse des neuen Inhabers überwiegt – zumindest was die außerdienstliche Praxis angeht.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das ArbG Hamm die Hürde des § 613a BGB offensichtlich nicht als überschritten ansah. Es bewertete die neuen Weisungen als innerhalb des bestehenden Vertragsrechts liegend. Ob diese Sicht vor dem LAG Bestand hat, bleibt abzuwarten. Möglich ist, dass das LAG Hamm den Fall auch unter dem Aspekt des § 613a prüft und etwa feststellt, dass die besonderen Umstände (Fusion, Übernahme neuer religiöser Regeln) ein betriebsübergangsbedingtes Motiv tragen. Sollte es zu einer solchen Wertung kommen, müssten die Weisungen möglicherweise aufgehoben oder abgemildert werden, da sie sonst den Schutzzweck des § 613a unterlaufen würden. Dieser Aspekt verdeutlicht Arbeitgebern, dass Betriebsübergänge kein Freibrief sind, unliebsame Vertragsinhalte “durch die Hintertür” zu ändern – zumindest nicht ohne rechtliches Risiko.
Auslegung von Dienstanweisungen – Ärztliche Entscheidungsfreiheit vs. unternehmerische Leitlinien
Dienstanweisungen sind konkrete Handlungsanweisungen des Arbeitgebers an den Arbeitnehmer. Im Allgemeinen gilt: Der Arbeitgeber kann mittels Dienstanweisung Arbeitsabläufe regeln, darf aber nicht den arbeitsschutzrechtlichen oder berufsrechtlichen Verpflichtungen des Arbeitnehmers zuwiderhandeln. Im Gesundheitsbereich kollidiert dies bisweilen mit der ärztlichen Therapiefreiheit und dem Ethos des Heilberufs. Ärzte sind durch Berufsordnung und Strafgesetz (§ 203 StGB Schweigepflicht, § 323c StGB Garantenpflicht etc.) an eigenverantwortliche Entscheidungen gebunden, vor allem dem Patientenwohl verpflichtet. Insofern besteht ein gewisser Schutzraum fachlicher Unabhängigkeit. Der Anwalt des Klägers machte genau dies geltend: Eine Klinikleitung könne zwar Dienstanweisungen zu organisatorischen Fragen erteilen, “diese umfassen aber nicht den ärztlichen Bereich – also Diagnostik und Therapie”.
Im konkreten Fall lautet die Dienstanweisung sinngemäß: “Führe bestimmte medizinische Eingriffe nicht durch – auch nicht, wenn Du sie für medizinisch indiziert hältst.” Das ist ein starker Eingriff in die ärztliche Entscheidungsfreiheit. Der Chefarzt ist ja gerade aufgrund seiner Expertise eingestellt, um Patienten in komplizierten Fällen zu behandeln. Indem man ihm verbietet, bei bestimmten Diagnosen die aus seiner Sicht angezeigte Therapie (hier Schwangerschaftsabbruch bei schwersten Befunden) zu leisten, wird seine professionelle Autonomie beschnitten. Aus seiner Perspektive kollidiert dies mit dem ethischen Gebot des Arztes, Schaden von der Patientin abzuwenden. Es entsteht ein moralisches Dilemma: Der Arzt sieht eine Notlage, darf aber aufgrund einer Dienstanweisung nicht helfen. Prof. V. brachte drastische Beispiele, etwa den vorzeitigen Blasensprung vor der 20. Woche, der das Ungeborene nahezu ohne Überlebenschance lässt – hier hielte er einen Abbruch zum Schutz der Frau und zur Vermeidung von Leiden für geboten, dürfte ihn aber nach Weisung nicht vornehmen. Er meinte, es sei die Entscheidung der betroffenen Eltern, nicht die eines katholischen Trägers, wie mit solch einem Schicksal umzugehen ist.
Rein rechtlich ist die Spannbreite der zulässigen Dienstanweisungen an Ärzte jedoch nicht unbegrenzt erforscht. Allgemein kann der Arbeitgeber z. B. Behandlungsleitlinien oder Standards vorgeben, solange diese medizinisch vertretbar sind. Kein Arzt darf angewiesen werden, etwas medizinisch Falsches oder Unethisches zu tun – solche Weisungen wären nichtig (Verstoß gegen Gesetze oder gute Sitten, § 134, § 138 BGB). Ebenso kann ein Arbeitgeber keine Anweisung erteilen, die gegen die Strafgesetze verstößt (z. B. jemanden zu einer rechtswidrigen Handlung anstiften). Im vorliegenden Fall ist es eher umgekehrt: Der Arbeitgeber untersagt etwas, was an sich erlaubt wäre. Darf er das? Ja, grundsätzlich schon: Ein Krankenhaus kann entscheiden, bestimmte Therapien oder Eingriffe nicht anzubieten – das ist Teil seiner unternehmerischen Freiheit und fällt in die Organisationshoheit. Manche Kliniken führen z. B. aus Kapazitätsgründen keine Organtransplantationen durch oder verzichten auf bestimmte riskante Eingriffe. Solche Entscheidungen sind legitim, solange sie nicht gegen Versorgungspflichten verstoßen. Bei Schwangerschaftsabbrüchen ist die Rechtslage so, dass niemand (weder Arzt noch Krankenhaus) gesetzlich gezwungen werden kann, einen nicht notfallmäßigen Abbruch vorzunehmen. Es besteht ein ethisch-politischer Konsens, die Entscheidung darüber letztlich den jeweiligen Ärzten/Trägern zu überlassen (Stichwort Gewissensfreiheit, siehe § 12 Schwangerschaftskonfliktgesetz, der ein individuelles Ablehnungsrecht normiert). Entsprechend konnte der katholische Träger hier argumentieren, er mache von seinem Recht Gebrauch, diese Leistung schlicht nicht anzubieten – und dies seinen Ärzten verbindlich vorzugeben.
Gleichwohl wirft die Konstellation Fragen auf: Hätte der Chefarzt im Extremfall zivil- oder strafrechtliche Konsequenzen fürchten müssen, wenn er entgegen der Weisung aus einer medizinischen Indikation einen Abbruch durchgeführt hätte? Wahrscheinlich nicht strafrechtlich, da § 218a StGB den Abbruch bei medizinischer Indikation straffrei stellt. Zivilrechtlich hätte er aber eine vertragliche Gehorsamspflicht verletzt. Das Klinikum hätte ihn abmahnen und im Wiederholungsfall kündigen können. Juristisch gesehen befand sich Prof. V. daher in der Zwickmühle, entweder der Dienstanweisung zu folgen (und damit aus seiner Sicht Patientinnen im Stich zu lassen) oder dagegen zu verstoßen (und seinen Job zu riskieren). Er wählte den Mittelweg: Er befolgte die Weisung, aber “unter Protest”, nämlich begleitet von der Klage, um sie auf legalem Weg zu kippen. Dieses Vorgehen entspricht der Empfehlung der Rechtsprechung, nach der Arbeitnehmer unbillige Weisungen zwar nicht dauerhaft befolgen müssen, aber bis zur gerichtlichen Klärung im Zweifel schon, um Sanktionen zu vermeiden.
Letztlich zeigt sich hier ein Grenzbereich: Unternehmensleitlinien vs. ärztliche Therapieverantwortung. Das Urteil gibt – zumindest vorläufig – dem Unternehmen Recht. Für die Zukunft wäre denkbar, dass höhere Gerichte einen differenzierteren Maßstab entwickeln. Möglich wäre etwa festzustellen, dass Dienstanweisungen zwar das Leistungsangebot definieren dürfen (also z. B. “in unserem Haus keine Abbrüche”), aber nicht die persönliche Berufsausübung außerhalb des Hauses reglementieren dürfen (dazu im nächsten Abschnitt). Auch denkbar wäre, dass man wenigstens bei bestimmten Indikationen (etwa schwerste fetale Anomalien) eine ärztliche Ausnahmehoheit zulassen müsste, weil das objektiv Teil des ärztlichen Standards sein könnte – auch wenn es die katholische Sicht nicht teilt. Allerdings ist das schwieriges Terrain: Die Aussage “medizinisch indiziert” ist nicht absolut klar definiert und bietet Interpretationsspielraum. Hier prallen medizinische auf moraltheologische Bewertungen. Das ArbG hat bewusst erklärt, dass diese ethische Debatte nicht Gegenstand des Prozesses ist. Es konzentrierte sich auf die arbeitsvertragliche Zulässigkeit der Weisungen.
Zusammengefasst: Dienstanweisungen dürfen durchaus den Handlungsrahmen für Ärzte vorgeben, solange sie nicht gegen gesetzliche Vorgaben oder den Arbeitsvertrag verstoßen. Die Grenze ist dort erreicht, wo eine Weisung unvernünftig wird oder den Arzt zwingen würde, gegen sein Berufsethos oder Recht zu handeln. Diese Grenze sah das ArbG Hamm hier nicht überschritten, da der Arzt ja nicht zu etwas Unrechtmäßigem gezwungen wurde, sondern nur auf eine – aus Sicht des Gerichts – nicht zwingend erforderliche Tätigkeit verzichten muss. Für die betroffene Belegschaft mag das unbefriedigend sein, stellt aber (noch) keinen Rechtsverstoß dar. Es bleibt abzuwarten, ob künftige Urteilsgründe hierzu mehr Tiefenschärfe liefern, etwa zur Frage, wie weit ein Arbeitgeber medizinische Entscheidungen reglementieren kann, ohne das Berufsbild des Arztes auszuhöhlen.
Nebentätigkeitsregelungen – Loyalitätspflichten über die Arbeitszeit hinaus
Besonders interessant und bislang kaum gerichtlich entschieden ist die zweite Weisung, die sich auf die Privatpraxis von Prof. V. bezieht. Hier geht es um das Spannungsfeld von beruflicher Freiheit in der Freizeit und berechtigten Interessen des Arbeitgebers. Grundsätzlich gilt: Arbeitnehmer dürfen außerhalb ihrer vertraglichen Arbeitszeit einer Nebentätigkeit nachgehen. Ihre Arbeitskraft schulden sie dem Hauptarbeitgeber nur innerhalb der vereinbarten Arbeitszeit; darüber hinaus können sie frei über ihre Zeit verfügen – dieses Recht folgt aus der verfassungsrechtlich garantierten Berufsfreiheit (Art. 12 GG). Einschränkungen sind jedoch möglich, wenn die Nebentätigkeit gesetzliche Verbote verletzt oder berechtigte Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigt. Viele Arbeitsverträge – vor allem in verantwortungsvollen Positionen – enthalten Klauseln, die Nebentätigkeiten nur mit vorheriger Zustimmung des Arbeitgebers erlauben. Solche Erlaubnisvorbehalte sind zulässig, jedoch nur insofern wirksam, wie der Arbeitgeber die Zustimmung verweigern kann, wenn sachliche Gründe vorliegen. Eine Vertragsklausel, die dem Arbeitgeber ein völlig freies Ermessen gibt, Nebentätigkeiten ohne Grund zu verbieten, wäre unwirksam. Er muss also im Einzelfall prüfen, ob die Nebenbeschäftigung seine Interessen erheblich beeinträchtigt – nur dann darf er sie untersagen.
Im vorliegenden Fall hatte Prof. V. bereits unter dem alten Arbeitgeber die ausdrückliche Genehmigung, eine Privatpraxis in Bielefeld zu betreiben. Diese Praxis dient vorrangig der Reproduktionsmedizin (Kinderwunsch-Behandlungen). Dass er daneben wohl auch Schwangerschaftsabbrüche bei Indikationen durchgeführt hat, war entweder bekannt und geduldet oder nicht ausdrücklich geregelt. Der neue Arbeitgeber hat ihm die Nebentätigkeit insgesamt nicht verboten – er hat sogar schriftlich bestätigt, dass Prof. V. “selbstverständlich auch weiterhin die Genehmigung” für die Privatpraxis hat. Allerdings wurde nun (mündlich oder schriftlich) klargestellt, dass im Rahmen dieser Praxis keine Schwangerschaftsabbrüche mehr erfolgen dürfen. De facto ist das ein Teilentzug der Nebentätigkeitsgenehmigung: Die Praxis darf er betreiben, aber eine bestimmte ärztliche Handlung darin nicht ausüben. Für Prof. V. war das ein empfindlicher Schlag, denn die Privatpraxis wäre theoretisch ein Ausweichort gewesen, um seinen Patientinnen weiterhin helfen zu können, wenn es im Krankenhaus nicht geht. Diese Hintertür wurde ihm nun zugeschlagen.
Wie ist dies juristisch zu bewerten? Nach der oben genannten Doktrin muss ein Nebentätigkeitsverbot “zum Schutz berechtigter Interessen des Arbeitgebers notwendig” sein, um wirksam zu sein. Klassische berechtigte Interessen sind etwa: Konkurrenzschutz, Arbeitskraft und Ruf des Arbeitgebers. Beispielsweise darf ein Arbeitnehmer keinen Nebenjob beim direkten Wettbewerber annehmen (Wettbewerbsverbot), und er darf keine Nebentätigkeit ausüben, die so viel Zeit oder Kraft kostet, dass er am nächsten Tag seinem Hauptjob nicht mehr voll nachkommen kann. Auch darf er nicht gegen interne Geheimhaltungspflichten verstoßen oder den Arbeitgeber in der Öffentlichkeit in Misskredit bringen.
Im Fall von Prof. V. kann kein Konkurrenzargument vorliegen – er bietet ja in Bielefeld gerade Leistungen an (Schwangerschaftsabbrüche), die seine katholische Hauptklinik gar nicht anbietet. Er gräbt dem Klinikum also keine “Kundschaft” ab, im Gegenteil, er füllt eine Lücke. Die Arbeitszeitüberschreitung dürfte auch nicht das Kernproblem sein, da Chefärzte vertraglich oft Nebentätigkeiten begrenzt ausüben dürfen und er das offenbar gut vereinbart hatte. Bleibt der Ruf bzw. das öffentliche Erscheinungsbild des Arbeitgebers. Hier liegt vermutlich der entscheidende Punkt: Ein katholisches Krankenhaus könnte argumentieren, dass es seinen Ruf und seine Glaubwürdigkeit schädigt, wenn ausgerechnet der Chefarzt der Gynäkologie – eine leitende Führungsfigur – außerhalb des Hauses Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Die Öffentlichkeit (oder die Kirche selbst) würde dies als Doppelmoral ansehen: offiziell prangert man Abbrüche als Sünde an, aber der eigene Top-Mediziner macht sie hinter der Tür woanders. Die Klinik befürchtet also möglicherweise einen Imageschaden und innerkirchliche Konsequenzen, falls sie dies duldet. Diese Sorge kann unter berechtigte betriebliche Interessen fallen. Tatsächlich hat das BAG in einer Entscheidung (Urteil vom 19.12.2019 – 6 AZR 23/19) bestätigt, dass der Arbeitgeber einschreiten darf, wenn eine Nebentätigkeit “sich negativ auf die Wahrnehmung des Arbeitgebers in der Öffentlichkeit auswirkt”. Insbesondere bei hohen Repräsentanten ist dieses Kriterium wichtig: Ihre außerdienstlichen Tätigkeiten können auf das Ansehen des Unternehmens zurückstrahlen. Man denke an einen Bankvorstand, der privat in risikoreiche Spekulationsgeschäfte verwickelt ist – auch das könnte das Vertrauen in die Bank erschüttern und wäre wohl unzulässig. Im kirchlichen Kontext ist analog der Chefarzt ein “Aushängeschild” der Klinik. Die Klinik könnte argumentieren, dass allein die (mediale) Kenntnis, Prof. V. führe in Bielefeld Abbrüche durch, das kirchliche Profil des Hauses untergräbt. Und tatsächlich: Im Aufruf zur Demonstration nannte V. selbst die Sicht des katholischen Trägers, “somit wären mein Team und ich ‘Mörder’”, wenn man streng nach deren Dogma geht. Es erscheint nachvollziehbar, dass der Träger das nicht stehen lassen will.
Rechtlich ist zu fragen, ob dieses Interesse des Arbeitgebers im konkreten Fall überwiegt. Immerhin ist die Nebentätigkeit 50 km entfernt und außerhalb der Arbeitszeit. Prof. V. könnte anführen, dass sein Tun in Bielefeld primär seiner eigenen beruflichen Mission und dem Patientenwohl dient und keinen Bezug zur Klinik Lippstadt hat. Zudem hat er dort vermutlich in eigenem Namen gehandelt, nicht unter dem Logo des Klinikums. Die Entfernung und organisatorische Trennung schwächen die Identifikation zwischen seiner Nebenpraxis und dem katholischen Haus. Könnte man also sagen: “Was in Bielefeld geschieht, bleibt in Bielefeld”? Leider in Zeiten vernetzter Öffentlichkeit ist dem nicht so – örtliche Distanz schützt kaum vor Reputationsübertragung. Gerade weil der Fall medial bekannt wurde, weiß nun jeder, dass Prof. V. beides machen wollte. Der Loyalitätsdruck auf ihn ist daher groß. Juristisch betrachtet liegt hier ein Konflikt zweier Grundrechte: Seine Berufsfreiheit (Art. 12 GG) in der Ausübung einer Nebentätigkeit versus die unternehmerische bzw. durch Art. 140 GG geschützte Position des kirchlichen Arbeitgebers. In solchen Fällen verlangt das BAG eine “Einzelfallabwägung”. Alle Umstände – Stellung des Mitarbeiters, Art der Nebentätigkeit, konkrete Gefahr für Arbeitgeberinteressen – müssen betrachtet werden. Und: Es muss zumindest eine “objektiv nachvollziehbare Gefahr” einer Beeinträchtigung bestehen – theoretische Bedenken reichen nicht.
Wie hätte man hier abwägen können? Für Prof. V. spricht, dass er nur Gutes tun will im Rahmen geltenden Rechts; er gefährdet keine Betriebsgeheimnisse, verletzt keine Hauptarbeitspflichten und seine Leistung im Job wurde durch die Nebenpraxis nicht beeinträchtigt. Für den Arbeitgeber spricht, dass es um einen Kernwert der kirchlichen Identität geht und die Integrität des Hauses auf dem Spiel zu stehen scheint, wenn der Chefarzt fundamental anders handelt als die Einrichtung vorgibt. Die Kammer in Hamm hat offenbar zugunsten des Arbeitgebers entschieden, sonst hätte sie die zweite Weisung kassiert. Interessant wäre zu wissen, ob sie dabei speziell auf die leitende Funktion von V. abhob – denn je höher die Position, desto eher darf eine Loyalitätspflicht im Privatleben eingefordert werden. Ein einfacher Angestellter könnte in seiner Freizeit eher tun, was er will, solange es nicht den Arbeitgeber tangiert. Bei Führungskräften wird aber oft eine “ungeschriebene Wohlverhaltenspflicht” angenommen, die auch das außerdienstliche Verhalten umfasst. Prof. V. selber erkannte: “In meiner Leitungsfunktion als Chefarzt soll ich insbesondere diesen [katholischen] Normen verpflichtet sein, da ich angeblich die Klinik in der Öffentlichkeit repräsentiere.”. Genau hier liegt der Knackpunkt. Das Arbeitsgericht hat offenkundig bejaht, dass der Arbeitgeber von einem Chefarzt verlangen kann, sich auch außerhalb des Dienstes in Einklang mit den Grundsätzen des Hauses zu verhalten. Die 50 km Distanz ändern daran nichts – relevant ist weniger der Ort, sondern die öffentliche Wahrnehmbarkeit.
Rechtlich spannend ist, ob diese Nebenbeschäftigungs-Weisung überhaupt wirksam erteilt werden konnte. Immerhin war die Nebentätigkeit genehmigt. Eine einmal erteilte Nebentätigkeitsgenehmigung kann der Arbeitgeber zwar widerrufen, aber nur aus wichtigem Grund. Der hier geltend gemachte Grund ist der Wechsel der Wertebasis durch die Fusion – etwas, womit der Chefarzt bei Aufnahme der Nebentätigkeit nicht rechnen musste. Insofern hat er sich arguabel auf die fortbestehende Genehmigung verlassen dürfen. Es ist denkbar, dass ein Gericht die abrupt geänderte Haltung des Arbeitgebers als treuwidrig einstuft, nach dem Motto: “Erst erlaubt ihr mir etwas, und nun, nach Betriebsübergang, verbietet ihr es ohne dass ich etwas falsch gemacht hätte.” Andererseits war der Betriebsübergang ja bekannt; Prof. V. hätte ahnen können, dass der katholische Einfluss Folgen haben wird.
Summa summarum lässt sich sagen: Nebentätigkeitsverbote sind nur in Ausnahmefällen rechtens – nämlich wenn klare Interessenkollisionen bestehen. Hier wurde eine solche Kollision angenommen: die moralisch-religiöse Integrität des Arbeitgebers vs. die freie Arztpraxis des Arbeitnehmers. Aus Arbeitgebersicht wurde das Risiko einer öffentlichen Empörung oder innerkirchlichen Auseinandersetzung ins Feld geführt, falls man dem Chefarzt freie Hand ließe. Aus Arbeitnehmersicht hingegen bestand kein kommerzieller oder leistungsbezogener Konflikt, sondern “nur” ein Wertkonflikt. Die Entscheidung zugunsten des Arbeitgebers zeigt, dass Gerichte Wertkonflikte ernst nehmen und durchaus als berechtigtes Interesse werten können, vor allem bei kirchlichen Trägern.
Für die arbeitsrechtliche Praxis bedeutet dies eine Mahnung: Auch außerhalb der Kernarbeitszeit kann ein Arbeitnehmer in seiner Vertragsloyalität gefordert sein, wenn er in herausgehobener Position tätig ist und sein privates Tun geeignet ist, dem Arbeitgeber erheblichen Schaden zuzufügen (hier: Ruf und Selbstverständnis). Diese Grenzen dürfen aber nicht pauschal, sondern müssen individuell gezogen werden. Im Ergebnis hat das ArbG Hamm – zumindest vorläufig – entschieden, dass im konkreten Fall die Privatinteressen des Chefarztes hinter den Loyalitätspflichten gegenüber dem konfessionellen Arbeitgeber zurückstehen müssen. Ob diese Wertung einer höheren gerichtlichen Überprüfung standhält, bleibt abzuwarten. Denkbar ist, dass eine nächste Instanz die Unwirksamkeit der zweiten Weisung feststellt, z. B. mit der Begründung, der Arbeitgeber überschreite sein Weisungsrecht, wenn er an einem anderen Ort außerhalb des eigenen Betriebs in die Tätigkeit des Arbeitnehmers eingreift. Immerhin könnte man argumentieren, das Direktionsrecht beziehe sich laut Gesetzeswortlaut auf Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung im Rahmen des Arbeitsverhältnisses – die Bielefelder Praxis fällt aber eigentlich außerhalb dieses Rahmens. Dieser juristische Spitzfindigkeit hat sich das ArbG offenbar nicht angeschlossen, doch bleibt sie ein Ansatzpunkt für die Berufungsinstanz.
Konsequenzen und praktische Empfehlungen für Arbeitgeber
Das Urteil – so umstritten es sein mag – bietet Leitlinien für Arbeitgeber, insbesondere im Gesundheitswesen und im konfessionellen Bereich:
- Direktionsrecht bewusst und rechtssicher ausüben: Arbeitgeber haben das Recht, den Leistungskatalog ihres Betriebs festzulegen. Wenn bestimmte Tätigkeiten aus ethischen, wirtschaftlichen oder organisatorischen Gründen nicht (mehr) erbracht werden sollen, sollte dies klar und schriftlich per Dienstanweisung kommuniziert werden. Wichtig ist, dass dabei keine bestehenden vertraglichen Zusicherungen verletzt werden. Arbeitgeber sollten Arbeitsverträge genau prüfen, ob Klauseln enthalten sind, die einer solchen Weisung entgegenstehen könnten (wie hier die Therapiefreiheit). Ggf. ist eine Vertragsänderung mit Zustimmung des Mitarbeiters der sauberere Weg, als einseitig per Weisung vorzugehen. Letzteres birgt das Risiko, dass ein Gericht die Weisung als unbillig oder vertragswidrig einstuft.
- Werte und Regeln transparent machen: Insbesondere für konfessionelle Träger gilt: Ihre besonderen Werte und Verbote sollten von Anfang an Vertragsbestandteil sein. Die katholische Kirche z. B. lässt in aller Regel neue Arbeitsverträge eine Bezugnahmeklausel auf die Grundordnung des kirchlichen Dienstes enthalten. Arbeitgeber sollten dafür sorgen, dass Mitarbeitern die Loyalitätsobliegenheiten bekannt sind – und zwar vor einer Einstellung oder Fusion. Im Fusionsfall empfiehlt es sich, frühzeitig mit der Belegschaft zu kommunizieren, welche Änderungen in der Unternehmenskultur und den internen Regularien zu erwarten sind. Überraschende Verbote oder Moralklauseln führen nicht nur zu Rechtsstreitigkeiten, sondern auch zu Unruhe und Loyalitätsverlust bei den Mitarbeitern.
- Betriebsübergang sorgfältig planen: Bei Übernahmen oder Fusionen mit Wertedivergenz (z. B. säkular vs. kirchlich) sollte der neue Inhaber prüfen, inwieweit bestehende Arbeitsverträge Handlungsfreiheit lassen. Wichtige Frage: Müssen wir bestimmte Mitarbeiter anders einsetzen oder ihnen Angebote machen, weil sie mit den neuen Regeln nicht klarkommen? Mitunter kann es besser sein, einvernehmliche Lösungen zu finden, anstatt Weisungen “durchzudrücken”. Im vorliegenden Fall hätte man z. B. erwägen können, Prof. V. eine Abfindung anzubieten und ihn in den vorzeitigen Ruhestand zu verabschieden, wenn klar war, dass er die katholischen Vorgaben nicht mittragen will. Zwar soll § 613a BGB die Übernahme ohne Personalabbau ermöglichen – aber wenn ein wertbedingter Dauerkonflikt absehbar ist, kann eine Trennung im Guten für beide Seiten die stressfreiere Option sein.
- Interessenabwägung bei Nebentätigkeiten: Arbeitgeber sollten Nebentätigkeitsklauseln nutzen, um sich eine Kontrollmöglichkeit zu sichern. Eine zulässige Klausel könnte lauten: “Jede Nebentätigkeit ist dem Arbeitgeber anzuzeigen und bedarf seiner Zustimmung, die nur aus wichtigen betrieblichen Gründen versagt werden darf.” Pauschale Verbote ohne Prüfungsklausel sind unwirksam. Liegt eine Anzeige vor, sollte der Arbeitgeber zügig prüfen, ob die Tätigkeit seine berechtigten Interessen tangiert. Kriterien sind insbesondere:
- Arbeitszeitliche Belastung: Wird der Mitarbeiter durch den Nebenjob übermüdet oder anderweitig beeinträchtigt zur Arbeit erscheinen? (Beispiel: Vollzeitpflege eines Angehörigen nachts könnte tagsüber die Leistung mindern.)
- Wettbewerb/Interessenkonflikt: Arbeitet der Mitarbeiter für einen Konkurrenten oder in einem Bereich, der dem Arbeitgeber schadet (z. B. Insiderwissen ausnutzen, Kunden abwerben)?
- Ruf und Loyalität: Agiert der Mitarbeiter in einer Weise, die dem Image des Unternehmens abträglich ist? (Beispiel: Ein Manager eines Bio-Lebensmittelunternehmens, der nebenbei in der Lobbyarbeit für Pestizide aktiv wäre, könnte das Vertrauen erschüttern.) In kirchlichen Einrichtungen zählen hierzu Tätigkeiten, die den Kernwerten widersprechen (z. B. Mitarbeit in einer Organisation, die gezielt gegen Kirchenpositionen arbeitet).
Werden solche Gründe festgestellt, sollte der Arbeitgeber schriftlich dokumentieren, warum er die Nebentätigkeit (ganz oder teilweise) untersagt. So kann im Streitfall nachvollzogen werden, dass keine Willkür vorlag, sondern eine Abwägung.
- Maßvoll und konsistent handeln: Gerade bei wertbasierten Eingriffen ins Privatleben der Mitarbeiter ist Fingerspitzengefühl gefragt. Die Maßstäbe müssen für alle vergleichbar gelten (Gleichbehandlungsgrundsatz). Würde man z. B. nur einem bestimmten Arzt Nebentätigkeiten untersagen, anderen aber nicht, braucht es dafür sachliche Gründe. Zudem sollte man – wenn möglich – Alternativen ausloten. Im Beispiel von Prof. V. hätte man erwägen können, ob er zumindest in einer externen Einrichtung (außerhalb der Öffentlichkeitswirkung der Klinik) auf eigene Rechnung weiterhelfen darf, solange er nicht damit an die Öffentlichkeit geht. Offenbar war dies aber wegen der hohen Bekanntheit und des Grundsatzcharakters des Falls keine Option für die Klinik. Grundsätzlich kann es aber Konstellationen geben, in denen ein kompromisshafter “modus vivendi” besser ist, als strikte Verbote.
- Worst-Case bedenken: Wenn ein Arbeitnehmer – wie hier – gegen eine Weisung klagt und trotzdem gehorcht, bleibt das Arbeitsverhältnis formal bestehen, die Fronten sind aber verhärtet. Arbeitgeber sollten sich auf den Fall einstellen, dass im Prozess die Weisung kassiert wird. Dann muss u. U. eine andere Lösung gefunden werden (etwa Versetzung des Mitarbeiters in einen Bereich, wo der Konflikt nicht auftritt, oder doch eine Trennung). Auch die Möglichkeit, dass ein Gericht die Weisung als rechtmäßig bestätigt, aber das Vertrauensverhältnis mittlerweile zerrüttet ist, muss man einkalkulieren. Mediation oder Gespräche parallel zum Prozess können helfen, einen für beide gangbaren Weg zu suchen – bevor die Situation eskaliert (z. B. durch fristlose Kündigung wegen Befehlsverweigerung o. Ä.).
Insgesamt zeigt der Fall, dass Arbeitgeber – insbesondere konfessionelle – zwar ihre Linie durch Weisungen wahren dürfen, dabei aber juristisches Feingefühl brauchen. Die Grenzen des Erlaubten sind teilweise fließend, und ein scheinbarer Sieg in erster Instanz kann in zweiter Instanz kippen. Zudem ist der Imageschaden durch öffentlichen Streit nicht zu unterschätzen: Die katholische Klinik in Lippstadt sah sich heftiger Kritik und Protesten ausgesetzt. Hier sollte abgewogen werden, was für das Unternehmen – auch langfristig – das geringere Übel ist: ein etwas flexiblerer Umgang mit einem verdienten Mitarbeiter oder das unerbittliche Festhalten an Prinzipien um jeden Preis.
Rechte und Hinweise für Arbeitnehmer in vergleichbaren Konstellationen
Für Arbeitnehmer, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden, lassen sich aus dem Geschehen wichtige Lehren ziehen:
- Kenntnis der Vertragslage: Prüfen Sie Ihren Arbeitsvertrag und ggf. anwendbare Tarifverträge oder Dienstvereinbarungen. Welche Pflichten und Rechte sind dort konkret geregelt? Gibt es Klauseln zu Nebentätigkeiten, Ethikrichtlinien, Versetzungen, etc.? Im Fall von Prof. V. war z. B. die Therapiefreiheit erwähnt – das wurde zu einem Ansatzpunkt für seinen Widerstand. Wenn Ihr Vertrag bestimmte Zusicherungen enthält, können Sie sich darauf berufen, falls der Arbeitgeber etwas Gegenteiliges anordnet.
- Betriebsübergang: Widerspruchsrecht nutzen oder nicht? Bei einem angekündigten Betriebsübergang (§ 613a BGB) müssen Mitarbeiter schriftlich informiert werden und haben das Recht, innerhalb eines Monats dem Übergang zu widersprechen. Ein Widerspruch bedeutet, dass das Arbeitsverhältnis nicht auf den neuen Inhaber übergeht. Allerdings ist Vorsicht geboten: In der Praxis führt ein Widerspruch meist dazu, dass der alte Arbeitgeber (der sein Unternehmen ja abgibt) das Arbeitsverhältnis mangels Weiterbeschäftigungsmöglichkeit beendet – man riskiert also den Verlust des Arbeitsplatzes. Dieses Recht ist sinnvoll, wenn man absolut nicht unter dem neuen Regime arbeiten will/kann und ggf. einen Abfindungsvergleich anstrebt. Prof. V. hat nicht widersprochen, weil er wohl seine Klinik und Patienten nicht im Stich lassen wollte. Hätte er widersprochen, wäre er möglicherweise aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden und hätte seine Sache – die Fortführung der Hilfe für Patientinnen – auch nicht weiter betreiben können. Arbeitnehmer sollten also genau abwägen: Widerspruch kommt in Betracht, wenn die Perspektive beim neuen Arbeitgeber völlig unzumutbar erscheint und man ggf. bereit ist, sich neu zu orientieren. Ansonsten kann es strategisch klüger sein, erst mit dem neuen Arbeitgeber zu verhandeln oder notfalls zu klagen, anstatt vorschnell auf den Job zu verzichten.
- Weisungen: Erst gehorchen, dann wehren (wenn zumutbar): Im Umgang mit Weisungen, die man für unzulässig hält, empfiehlt es sich, eine differenzierte Strategie zu fahren. Grundsätzlich sind Arbeitnehmer verpflichtet, einer Weisung zunächst Folge zu leisten, es sei denn sie ist offensichtlich rechtswidrig oder unzumutbar. Wenn man eine Weisung einfach ignoriert, riskiert man Abmahnungen oder Kündigung wegen Gehorsamsverweigerung. Daher ist es meist ratsam, unter Vorbehalt zu gehorchen und parallel rechtliche Schritte einzuleiten. Genau das tat Prof. V.: Er hat keine eigenmächtige “Dienst nach Vorschrift”-Verweigerung begangen, sondern hat den Rechtsweg gesucht, um die Weisung aufheben zu lassen. Dieses Vorgehen schützt einen zunächst vor arbeitsrechtlichen Sanktionen. Sollte sich später herausstellen, dass die Weisung unbillig war, kann man ggf. auch etwaige Nachteile (z. B. entgangene Honorare aus der Nebentätigkeit) geltend machen. Allerdings: Ist eine Weisung so unzumutbar, dass man sie keinesfalls ausführen kann (etwa aus Gewissensgründen oder weil dadurch Rechte Dritter gefährdet würden), sollte man dies dem Arbeitgeber deutlich, am besten schriftlich, mitteilen und begründen. In solchen Fällen empfiehlt sich aber dringend rechtlicher Rat, da die Grenzen hier schwierig sind.
- Rechtsbeistand und Unterstützung suchen: Konstellationen wie diese sind rechtlich komplex und emotional belastend. Arbeitnehmer sollten frühzeitig eine/n Fachanwalt/Fachanwältin für Arbeitsrecht einschalten, um ihre Chancen und Risiken auszuloten. Prof. V. trat in der Güteverhandlung zunächst ohne Anwalt auf – erst für die Hauptverhandlung hatte er ein Team erfahrener Juristen an seiner Seite. Deren Expertise (inkl. Kirchenrechtler) war sicher hilfreich, um seine Position zu stärken. Darüber hinaus kann es – wie im Fall V. – sinnvoll sein, Öffentlichkeit herzustellen und sich Unterstützung zu organisieren, wenn es um Grundsatzfragen geht. Die breite Solidarität und mediale Aufmerksamkeit haben den Druck erhöht und dafür gesorgt, dass sein Anliegen gehört wurde. Natürlich eignet sich nicht jeder Fall dafür, aber bei Themen von allgemeiner Bedeutung (z. B. Diskriminierung, Ethik im Beruf) kann Öffentlichkeitsarbeit den eigenen Standpunkt moralisch legitimieren und sogar politische Prozesse anstoßen. Man sollte sich jedoch bewusst sein, dass damit auch die Fronten verhärten können – in V.’s Fall war der Konflikt öffentlich so aufgeladen, dass ein Vergleich wohl schwer wurde.
- Einhaltung der Loyalitätspflichten vs. eigene Gewissensentscheidung: Arbeitnehmer in kirchennahen Einrichtungen sollten sich der Loyalitätsobliegenheiten bewusst sein, die ihr Arbeitgeber erwartet. Diese können sich im Laufe der Zeit ändern (wie der Wechsel von evangelisch zu katholisch zeigte). Wer persönlich nicht damit leben kann, sollte die eigenen Optionen prüfen: Wechsel in eine nicht-kirchliche Einrichtung, innerbetrieblicher Wechsel in einen Bereich, der weniger im Fokus der Glaubensgrundsätze steht, oder – wie Prof. V. – der bewusste Konflikt mit dem Ziel, einen Wandel zu erwirken. Letzteres erfordert einen langen Atem, wie er selbst sagte: “Wenn es heute nun nicht sein sollte, dann haben wir einen langen Atem.”. Es besteht immer die Möglichkeit, dass höhere Gerichte zugunsten des Arbeitnehmers entscheiden und damit die Rechte aller Beschäftigten stärken. Allerdings kann das Jahre dauern und die eigene Lebensplanung erheblich beeinflussen (Prof. V. geht in 2 Jahren in Rente, was den Ausgang für ihn persönlich weniger relevant machen könnte). Daher sollte jeder für sich entscheiden, wie viel Kampfgeist und Risikobereitschaft er aufbringen kann oder will. Nicht selten führen solche Konflikte – trotz rechtlichen Erfolgs – am Ende doch zur Trennung, weil das Vertrauensverhältnis zerstört ist.
- Anspruch auf gleichbehandelnde Ausnahmen: Sollte der Arbeitgeber neue strenge Regeln einführen, lohnt ein Blick darauf, ob Ausnahmen vorgesehen oder gemacht werden. Im Fall der Lippstädter Klinik gab es zumindest die Ausnahme “Lebensgefahr der Mutter” bei Abbrüchen. Wenn solche Ausnahmen existieren, hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf gleichmäßige Anwendung. Wenn z. B. in einem anderen ähnlichen Fall doch eine Indikation anerkannt würde, könnte man das für sich reklamieren. Auch kann man – intern – vorschlagen, Kompromisslösungen zu finden: etwa dass ein bestimmter heikler Fall extern überwiesen wird, um weder Arzt noch Klinik in Konflikt zu bringen. Arbeitgeber, gerade kirchliche, sind manchmal zu Lösungen bereit, um öffentliche Eklats zu vermeiden (z. B. in manchen katholischen Häusern werden heikle Fälle diskret an städtische Kliniken weiterverwiesen). Diese Lösungen sind oft informell, aber es schadet nicht, sie aktiv anzusprechen.
- Dokumentation und Kommunikation: Wichtig ist, alle relevanten Vorgänge zu dokumentieren: Schriftliche Weisungen aufheben, E-Mails sichern, Gespräche protokollieren. So kann man im Streitfall genau belegen, was angewiesen wurde und wie man reagiert hat. Ferner sollte man dem Arbeitgeber immer klar kommunizieren, warum man mit einer Anweisung Probleme hat – sei es aus rechtlichen oder ethischen Gründen. Im besten Fall lässt sich intern eine Einigung erzielen. Im schlechtesten Fall hat man seine Position bereits “fürs Protokoll” deutlich gemacht, was vor Gericht helfen kann (z. B. um zu zeigen, dass man sich bemüht hat, eine Lösung zu finden, oder dass man aus Gewissensgründen nicht anders konnte).
Abschließend sei Arbeitnehmern geraten, sich bei Konflikten in kirchlichen Einrichtungen nicht zu scheuen, ihre Rechte geltend zu machen. Die Rechtsprechung entwickelt sich hier dynamisch zugunsten einer stärkeren Arbeitnehmerposition – man denke an die erwähnten EuGH-Entscheidungen. Wer berechtigte Anliegen hat (etwa nicht wegen privater Lebensführung benachteiligt zu werden), findet heute eher Gehör als noch vor 20 Jahren. Dennoch bleibt es ein steiniger Weg, da Traditionen und Emotionen in diesen Fällen stark mitspielen. Prof. V.’s Fall zeigt aber: selbst gegen große Institutionen kann ein einzelner Beschäftigter einiges in Bewegung bringen, wenn er hartnäckig bleibt und Unterstützung mobilisiert.
Bewertung der Entscheidung aus Sicht des Fachanwalts
Die Entscheidung des ArbG Hamm ist juristisch interessant und gesellschaftlich brisant. Aus Sicht eines Fachanwalts für Arbeitsrecht lässt sie sich wie folgt bewerten:
Stärken des Urteils: Die Kammer hat den Fall strikt aus einer arbeitsrechtlichen Perspektive betrachtet und damit Rechtssicherheit im Kleinen geschaffen. Sie bestätigte, dass ein Arbeitgeber – selbst in einem so emotionalen Bereich – seine unternehmerischen Entscheidungen durchsetzen kann, solange kein konkretes Recht verletzt wird. Insofern wahrt das Urteil die Vertragsautonomie des Arbeitgebers und das Recht der Kirche auf Selbstbestimmung. Diese Sichtweise ist konsequent mit Blick auf die Rechtslage: Weder gibt es ein Gesetz, das Krankenhäuser zur Durchführung bestimmter optionaler medizinischer Leistungen verpflichtet, noch wurde ein formelles Vertragsversprechen gebrochen (nach Ansicht des Gerichts). Das ArbG Hamm hält sich damit an den Grundsatz, dass Gerichte nicht über medizinethische oder politische Fragen entscheiden sollen, sondern über Rechtsfragen. Die Aussage des Richters, es gehe hier “nicht um die Würde der Frau, sondern nur um die zwei Weisungen”, mag kalt klingen, ist aber aus juristischer Sicht sachlich. Das Urteil ist außerdem auf Linie mit früherer Rechtsprechung, die dem Direktionsrecht einen breiten Raum lässt und Kirchenprivilegien respektiert, solange keine eindeutigen Grenzen überschritten sind. Insofern kann man die Entscheidung als rechtssystematisch nachvollziehbar bezeichnen: Der Arbeitgeber durfte eine Leistung streichen, und die Kirche durfte ihre Moral einbringen – beides ist grundsätzlich erlaubt.
Zudem schafft das Urteil zumindest vorläufig Klarheit für ähnliche Einrichtungen: Ein kirchlicher Arbeitgeber darf seine Mitarbeiter – insbesondere Führungskräfte – an seine Wertvorstellungen binden, und er darf nach einer Fusion Maßnahmen ergreifen, um eine einheitliche Linie durchzusetzen. Für katholische Träger, die in Zukunft vielleicht weitere Krankenhäuser übernehmen, ist das ein wichtiges Signal: Ihre unternehmerische Integrität wird von den Gerichten ernst genommen. Auch hervorzuheben: Das Gericht hat nicht – wie oft befürchtet – sofort mit der “großen Grundrechtskeule” gegen die Kirche geschwungen, sondern den Konflikt als immanente Vertragsfrage gelöst. Damit blieb es auf dem Boden der vorhandenen Gesetze, ohne Neuland zu betreten oder politische Wertungen vorzunehmen. Aus rechtsdogmatischer Sicht ist das eine gewisse Stärke, da es Rechtsklarheit mittels klassischer Normen (106 GewO, 613a BGB) sucht, statt über Verfassungsgrundsätze zu philosophieren.
Schwächen und Kritik: Trotz der formalen Stringenz wirft das Urteil einige kritische Fragen auf. Aus Arbeitnehmersicht erscheint es als Rückschritt: Die ohnehin durch EuGH/BAG zuletzt eingeschränkte Sonderrolle der Kirchen wird hier wieder sehr weit gefasst. Man könnte argumentieren, das ArbG Hamm habe die jüngeren antidiskriminierungsrechtlichen Entwicklungen unzureichend berücksichtigt. Insbesondere die indirekte Benachteiligung eines konfessionslosen Arztes wurde nicht thematisiert. Ferner ignorierte das Gericht praktisch die vertragliche Zusage der Therapiefreiheit – man hätte zumindest erwarten können, dass dieser Punkt in der Abwägung näher beleuchtet wird. Indem es den angebotenen Zeugenbeweis (zur Absprache mit dem früheren Geschäftsführer) nicht erhoben hat, hat das Gericht den Eindruck erweckt, die Vorabreden und Erwartungen des Klägers spielten keine Rolle. Das ist aus Fairness-Sicht fragwürdig: Ein Arbeitnehmer, der sich 13 Jahre lang loyal verhielt und auf Absprachen verließ, wird abrupt mit neuen Regeln konfrontiert, ohne dass dies als schützenswerte Vertrauensposition angesehen wurde. Hier hätte man über den Vertrauensschutz diskutieren können – ein Aspekt, den es im Arbeitsrecht zwar nicht ausdrücklich gibt, der aber über § 242 BGB (Treu und Glauben) durchaus relevant sein kann.
Eine weitere Schwäche ist die fehlende Grundrechtsabwägung auf Seiten des Klägers. Dessen Gewissensentscheidung, Frauen in Not helfen zu wollen, und seine Berufsfreiheit wurden faktisch negiert. Natürlich bindet das Grundgesetz in erster Linie den Staat, nicht private Arbeitgeber. Aber in Fällen wie diesen strahlen die Grundrechte ins Arbeitsverhältnis aus. Spätestens bei der Frage der Zumutbarkeit einer Weisung hätte man die Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) des Arztes beleuchten müssen. Prof. V. empfindet es als Unrecht, Schwangeren nur in Lebensgefahr, nicht aber in anderen extremen Leidenssituationen helfen zu dürfen. Sein moralischer Konflikt ist echt und tiefgreifend. Ihn einfach mit Verweis auf das Direktionsrecht “abzuwürgen”, greift vielleicht zu kurz. Ein besser ausbalanciertes Urteil hätte erwägen können, ob – analog zum Gewissensschutz der Verweigerer (z. B. darf ein Arzt aus Gewissensgründen Abbrüche ablehnen) – nicht auch ein Arzt aus Gewissensgründen eine Hilfeleistung erbringen dürfen sollte. Dieser “umgekehrte Gewissensschutz” ist juristisches Neuland, aber der Fall hätte Raum dafür geboten, zumindest darüber nachzudenken. Das Unterlassen dieser Abwägung mag der gerichtlichen Selbstbeschränkung geschuldet sein, lässt aber einen schalen Beigeschmack von “Kadavergehorsam” gegenüber dem Arbeitgeber aufkommen.
Kritikwürdig ist auch die konsequente Einordnung als rein betriebsinterne Angelegenheit. Damit werden die Auswirkungen auf Dritte (hier die Patientinnen) ausgeklammert. Zwar stimmt es, dass diese kein direktes Parteirecht im Arbeitsprozess haben. Dennoch gehört es zu einer vollständigen Güterabwägung, in einem solchen ethischen Konflikt die öffentlichen Interessen zumindest mitzudenken. Das Fehlen dieser Dimension lässt das Urteil in der öffentlichen Wahrnehmung als weltfremd erscheinen – nach dem Motto: Paragraph schlägt Lebensrealität. Ein Fachanwalt könnte monieren, dass das Gericht hier Gefahr läuft, den Richterspruch “im Namen des Volkes” an der gesellschaftlichen Moral vorbeizusprechen.
Schließlich ist ein Schwachpunkt die mögliche Umgehung des § 613a BGB. Wie oben erörtert, hat das ArbG diese Problematik gar nicht explizit angesprochen, obwohl sie auf der Hand liegt: Nach einem Betriebsübergang darf nichts verschlechtert werden, trotzdem ist hier für den Kläger faktisch eine Verschlechterung eingetreten. Selbst wenn man formell argumentiert, es sei keine Vertragsänderung – die praktische Auswirkung ist dieselbe. Ein Arbeitnehmerschutz-orientierterer Ansatz hätte hier ansetzen können, um dem Kläger zumindest teilweise Recht zu geben (z. B. die Weisung als unzulässig zu erklären, soweit sie eine vorher geübte Praxis untersagt). Das Unterlassen einer solchen Prüfung zeigt eine gewisse Arbeitgeberlastigkeit der Kammer. Das Urteil könnte den Eindruck erwecken, dass Betriebsübergänge genutzt werden dürfen, um durch die Hintertür unliebsame Tätigkeiten auszuschalten, solange man es klug als Weisung tarnt. Ob das als Signal gewollt war, ist zu bezweifeln – jedenfalls dürfte es vor dem LAG kritisch beleuchtet werden.
Ausblick auf die Berufung: Die Erfolgsaussichten von Prof. V.’s Berufung werden davon abhängen, wie das LAG Hamm die genannten Punkte bewertet. Es könnte sein, dass das LAG eine differenziertere Betrachtung vornimmt. Mögliche Szenarien:
- Das LAG bestätigt das Urteil vollumfänglich. Dies wäre ein Sieg für die Arbeitgeberseite und würde den Kurs stützen, Kirchen ein weites Feld zu überlassen.
- Das LAG kippt zumindest die Weisung bzgl. der Privatpraxis. Vorstellbar ist, dass man sagt: Im Betrieb kann der kirchliche Arbeitgeber Abbrüche verbieten (Direktionsrecht greift dort), aber außerhalb des Betriebs überschreitet die Weisung das zulässige Maß. Eine solche Entscheidung wäre faktisch ein Kompromiss: Die Klinik bleibt “abtreibungsfrei”, und der Chefarzt könnte in seiner Freizeit seinen Überzeugungen folgen, ohne das Haus direkt zu tangieren.
- Das LAG könnte auch generell die Weisungen als unverhältnismäßig aufheben, möglicherweise mit der Begründung, dass die vertraglich zugesicherte Therapiefreiheit und die Regelung des § 613a einem solchen radikalen Wandel entgegenstehen. Dies wäre ein deutlicher Fingerzeig, dass Arbeitnehmerrechte bei Übergang und Loyalitätspflichten stärker wiegen müssen.
Aus fachanwaltlicher Sicht wäre die zweite Variante (Weisungsverbot für die Privatpraxis, aber Aufrechterhaltung im Klinikum) juristisch elegant: Sie würde den Grundsatz respektieren, dass kein Arbeitgeber gezwungen werden kann, in seinen Räumen etwas gegen sein Ethos zu dulden, aber zugleich die Persönlichkeitsrechte des Arbeitnehmers außerhalb der Arbeit schützen. So ähnlich hat es im Übrigen die katholische Kirche selbst jüngst in ihrer neuen Grundordnung (2022) formuliert: Die private Lebensführung ihrer Mitarbeiter soll – außer in gravierenden Ausnahmefällen, die das Ansehen der Kirche direkt betreffen – nicht mehr sanktioniert werden. Hier geht es zwar nicht um private Lebensführung im engeren Sinne, aber doch um eine Tätigkeit außerhalb des kirchlichen Dienstes. Ein modernes kirchliches Arbeitsrecht könnte an dieser Stelle Kulanz üben. Sollte das LAG Hamm diese Linie einschlagen, wäre das ein wegweisendes Signal für die Balance von Arbeitgeberethos und Arbeitnehmerfreiheit.
Aus Anwaltssicht: Das ArbG-Urteil zeigt eine konservative, arbeitgeberfreundliche Haltung und ist in seiner Stringenz diskutabel. Als Fachanwalt würde man seinem Mandanten (je nach Vertretung) raten, die nächste Instanz anzurufen, weil durchaus Raum für eine andere Bewertung besteht. Die schriftliche Urteilsbegründung bleibt abzuwarten – vielleicht liefert sie noch Argumente, die die Entscheidung in einem besseren Licht erscheinen lassen. Bislang jedoch wirkt sie einseitig zugunsten des Arbeitgebers. Langfristig gesehen könnte genau dieser Fall zur höheren Instanz gelangen und dazu beitragen, neue Maßstäbe im kirchlichen Arbeitsrecht und beim Umgang mit Wertkonflikten im Arbeitsverhältnis zu setzen.
Ausblick: Relevanz für die Praxis in kirchlich geprägten Einrichtungen und bei ethischen Konflikten im Gesundheitswesen
Der Fall Prof. V. hat weit über Lippstadt hinaus Bedeutung. Er steht exemplarisch für die Herausforderungen, die entstehen, wenn weltliche Rechtsansprüche, persönliche Gewissensentscheidungen und religiöse Dogmen aufeinandertreffen. In Deutschland werden etwa ein Drittel der Krankenhäuser von kirchlichen Trägern betrieben. Mit der anhaltenden Umstrukturierung der Kliniklandschaft (Stichwort: Fusionen, Zentralisierungen) kann es vermehrt dazu kommen, dass konfessionelle und nicht-konfessionelle Häuser zusammengelegt werden. Der Lippstädter Fall ist nach Aussage des Klägers “kein Einzelfall”, sondern könnte sich überall dort wiederholen, “wo im Rahmen von politisch gewollten Klinikfusionen demnächst katholische Träger mitmischen”. Die Befürchtung: Leistungen wie der Schwangerschaftsabbruch – die zwar legal, aber moralisch umstritten sind – könnten strukturell zurückgedrängt werden. Für die arbeitsrechtliche Praxis bedeutet das, dass solche Konflikte häufiger vor Gerichten landen könnten, sofern keine einvernehmlichen Lösungen gefunden werden.
Besonders relevant ist das Thema für kirchliche Einrichtungen selbst. Die Kirchen haben erkannt, dass sie ihre strengen Regeln an die gesellschaftliche Realität anpassen müssen, um als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. So hat die katholische Deutsche Bischofskonferenz Ende 2022 die Grundordnung reformiert und bspw. festgelegt, dass die private Lebensgestaltung (z. B. sexuelle Orientierung, Familienstand) in der Regel keinen Kündigungsgrund mehr darstellen soll. Dieser Liberalisierungsschritt betrifft aber vor allem persönliche Lebensentscheidungen der Mitarbeiter, nicht unbedingt berufsethische Fragen wie die hier diskutierte. Es bleibt abzuwarten, ob die Kirchen in Zukunft auch bei solchen Themen mehr Flexibilität zeigen. Der öffentliche Druck, wie er in Lippstadt sichtbar wurde, könnte zu einem Umdenken führen. Wenn Tausende demonstrieren und Hunderttausende Petitionen unterschreiben, merken auch kirchliche Entscheidungsträger, dass ein striktes Festhalten an Dogmen auf immer weniger Verständnis stößt – vor allem, wenn es um Gesundheitsversorgung geht.
Auf der gesetzgeberischen Ebene könnte der Fall indirekt Einfluss haben. In der aktuellen politischen Diskussion stehen §§ 218 ff. StGB (Schwangerschaftsabbruch) auf dem Prüfstand; es gibt Stimmen, die Abbrüche außerstrafrechtlich, also als normale Gesundheitsleistung, behandeln wollen. Sollte es hier Reformen geben, stellt sich noch deutlicher die Frage: Wie wird eine flächendeckende Versorgung sichergestellt, wenn große Träger (katholische Kliniken) diese Leistung ablehnen? Es könnten Überlegungen angestellt werden, kirchliche Häuser, die öffentliche Gelder erhalten, zu verpflichten, zumindest die Organisation der Versorgung zu unterstützen (etwa durch Kooperation mit nichtkirchlichen Ärzten). Für Arbeitnehmer könnte das bedeuten, dass der Druck auf Individuen sinkt, wenn institutionelle Lösungen gefunden werden. Beispielsweise könnte man ein Modell entwickeln, wo in einer katholischen Klinik externe Ärzte hinzugezogen werden, wenn ein Abbruch nötig ist – so würde das Stammpersonal entlastet und die Kirche könnte es als “fremde Leistung” deklarieren. Solche pragmatischen Ansätze sind bislang Zukunftsmusik, aber die Debatte dürfte an Fahrt gewinnen.
Für das Arbeitsrecht konkret dürfte der Fall bei folgenden Punkten Klarheit bringen (sofern höhere Instanzen entscheiden):
- Wie weit reicht das Direktionsrecht bei Änderungen infolge eines Betriebsübergangs? (Stichwort: Ist ein “Wertewandel” im Betrieb ein legitimer Grund für Weisungen, die vorherige Praktiken untersagen?)
- In welchem Umfang dürfen konfessionelle Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zu außerdienstlichem Wohlverhalten verpflichten? Hier könnte eine Abgrenzung kommen, dass jedenfalls Tätigkeiten außerhalb des Betriebs, die legal und berufstypisch sind, vom Arbeitnehmer wahrgenommen werden dürfen, wenn sie die Kerninteressen des Arbeitgebers nicht akut beeinträchtigen. Die Abwägungskriterien, die das BAG 2019 formuliert hat (Beeinträchtigung der Arbeitsleistung, des öffentlichen Ansehens etc.), könnten konkretisiert werden für Fälle religiöser Konflikte.
- Wie ist das Verhältnis von individueller Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers zur kollektiven Gewissensfreiheit des kirchlichen Arbeitgebers? Hierzu gibt es bisher kaum Rechtsprechung. Möglicherweise wird – ähnlich wie bei religiösen Anforderungen in Stellenausschreibungen – ein Kriterium entwickelt, ob und wann eine bestimmte religiös motivierte Verhaltensanforderung “wesentlich und gerechtfertigt” für die Tätigkeit ist. Beim Chefarzt für Gynäkologie wäre zu prüfen, ob das Unterlassen von Abbrüchen zur wesentlichen Anforderung seines Jobs erklärt werden kann. Die Klinik würde sagen ja (wegen ihres Profils), der Arzt nein (weil es medizinisch dazugehört). Ein Grundsatzurteil könnte hier Leitlinien setzen.
Außerhalb der Kirche betreffen ähnliche Problemlagen etwa ethische Konflikte im Gesundheitswesen generell. Man denke an das Thema Sterbehilfe: Nach einem BVerfG-Urteil 2020 ist assistierte Suizidhilfe in Deutschland in bestimmten Grenzen erlaubt. Dennoch werden viele Ärzte und Träger aus Gewissensgründen nicht daran mitwirken wollen. Wenn z. B. ein privates Hospiz (nicht kirchlich, aber aus ethischer Überzeugung) seinen Angestellten untersagt, bei assistiertem Suizid zu helfen, könnte es zu analog gelagerten Streitfällen kommen. Ein Mitarbeiter könnte argumentieren, er halte es für geboten, einem Sterbewilligen beizustehen, der Arbeitgeber könnte es verbieten. Hier wären die arbeitsrechtlichen Prinzipien vergleichbar anzuwenden. Ebenso Diskussionen um neue Therapien (Stammzellenforschung, Gentherapie) – wenn ein Träger diese ablehnt, ein Mitarbeiter sie aber befürwortet, entsteht Konfliktpotential. Der Fall V. fungiert somit auch als Blaupause für den Umgang mit moralischen Dilemmata im Arbeitsverhältnis.
Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Gesundheitsbranche lässt sich prognostizieren: Die Sensibilisierung für solche Fragen wird wachsen. Beide Seiten tun gut daran, bereits im Vorfeld klarzustellen, wo ihre roten Linien liegen. Arbeitgeber sollten in Vorstellungsgesprächen oder bei Übernahmen offen kommunizieren, welche Leistungen sie anbieten (wollen) und welche nicht – so können falsche Erwartungen vermieden werden. Arbeitnehmer, insbesondere mit stark ausgeprägtem eigenem Ethik-Verständnis, sollten gezielt nachfragen und für sich klären, ob sie hinter der Philosophie des Arbeitgebers stehen können. Es gehört mittlerweile zur Compliance in Unternehmen, auch ethische Leitbilder aufzustellen – das sollte dann Teil der betrieblichen Kultur sein, damit Konflikte erst gar nicht so eskalieren.
Abschließend bleibt festzuhalten: Das Urteil des ArbG Hamm ist kein Schlusspunkt, sondern ein Zwischenschritt in einer laufenden Entwicklung. Der Fall wird vermutlich in der Berufung verhandelt, möglicherweise bis in höchste Instanzen. Unabhängig vom konkreten Ausgang hat Prof. V. schon jetzt erreicht, dass das Thema breit diskutiert wird – in Fachkreisen, in der Politik und in der Gesellschaft. Für die arbeitsrechtliche Praxis zeichnet sich ab, dass starre Loyalitätsforderungen der Arbeitgeber immer einer gerichtlichen Überprüfung im Einzelfall standhalten müssen. Arbeitnehmer wiederum werden ermutigt, unbillige Weisungen nicht einfach hinzunehmen, sondern ihre Rechte einzufordern. In kirchlich geprägten Einrichtungen dürfte längerfristig ein Kulturwandel einsetzen (müssen), um mit der modernen pluralistischen Wirklichkeit Schritt zu halten. Das Arbeitsrecht wird diesen Wandel begleiten und durch seine Entscheidungen den Rahmen dafür abstecken. Prof. V. hat mit seinem Fall einen wichtigen Anstoß dazu gegeben.