Das Landgericht Göttingen hat im August 2025 ein bislang beispielloses Urteil im Medizinrecht gefällt. Einer heute neunjährigen Patientin, die seit ihrer Geburt 2016 schwerstbehindert ist, wurde ein Schmerzensgeld von 1.000.000 € zugesprochen. Grundlage war eine Reihe von gravierenden Fehlern während der Entbindung – Fehler, die das Gericht als grobe Behandlungsfehler einstufte. Dieser Rechtstipp fasst die wesentlichen Entscheidungsgründe des Urteils (Az. 12 O 85/21) zusammen und erläutert die rechtlichen Folgen für die ärztliche Haftung, insbesondere bei Geburtsschäden. Zudem werden die Kriterien für die Schmerzensgeld-Bemessung in solchen Fällen dargestellt. Abschließend zeigen wir auf, welche Pflichten Ärztinnen, Ärzte und Hebammen bei der Geburtshilfe haben – von lückenloser Dokumentation über sorgfältige Überwachung bis hin zur rechtzeitigen Reaktion bei Komplikationen –, um derartige Fälle zu vermeiden. (Hinweis: Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.)
Der Fall LG Göttingen: Grobe Fehler führen zu schwersten Schäden
In dem Göttinger Verfahren wurde offengelegt, dass dem Klinikpersonal bei der Geburt im Jahr 2016 mehrere schwerwiegende Versäumnisse unterlaufen waren. Das Gericht stellte insbesondere fest:
- Kein Notkaiserschnitt trotz fetaler Notlage: Weder die zuständige Hebamme noch der behandelnde Arzt leiteten rechtzeitig einen erforderlichen Kaiserschnitt ein – obwohl sie anhand der Befunde den kritischen Zustand des ungeborenen Kindes hätten erkennen müssen.
- Unzureichende Versorgung nach der Geburt: Auch nach der Entbindung wurde nicht korrekt reagiert. Das Neugeborene wurde nicht engmaschig überwacht und nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt; zudem versäumte es das Personal, rechtzeitig den spezialisierten neonatologischen Notdienst der Uniklinik hinzuzuziehen.
Diese eklatanten Fehler führten dazu, dass das Kind schwerste bleibende Schäden erlitt. Das heute neunjährige Mädchen ist aufgrund der unterlassenen Maßnahmen körperlich und geistig massiv beeinträchtigt: Es kann weder sprechen noch eigenständig essen und ist auf dauerhafte Rund-um-die-Uhr-Betreuung angewiesen; eine Besserung ihres Zustandes ist ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund dieses immensen Leids und der klaren Pflichtverstöße erkannte das Landgericht einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 1 Million Euro zu – die höchste Summe, die dieses Gericht jemals zugesprochen hat.
Rechtliche Bedeutung: Ärztliche Haftung bei grobem Behandlungsfehler
Der Göttinger Rekord-Schmerzensgeldfall unterstreicht die strenge Haftung von medizinischem Personal bei Geburtsschäden. Juristisch basieren Schmerzensgeldansprüche nach Behandlungsfehlern auf den Regelungen der vertraglichen und deliktischen Haftung (§ 280 Abs.1 BGB bzw. § 823 Abs.1 BGB in Verbindung mit § 253 Abs.2 BGB). Vereinfacht gesagt haftet ein Krankenhaus oder Arzt, wenn durch ein schuldhaftes Fehlverhalten bei der Behandlung ein Gesundheitsschaden verursacht wurde.
Besondere Brisanz hatte hier die Feststellung grober Behandlungsfehler. Ein grober Behandlungsfehler liegt laut ständiger Rechtsprechung vor, wenn ein Arzt offensichtlich gegen bewährte medizinische Behandlungsregeln oder gesicherte fachliche Erkenntnisse verstößt, sodass der Fehler aus objektiver Sicht nicht mehr nachvollziehbar ist – sprich, ein solcher Fehler „dürfte einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen“. In solchen Fällen kehrt sich die Beweislast zugunsten des Patienten um: Ist ein grober Behandlungsfehler gegeben und grundsätzlich geeignet, den eingetretenen Schaden zu verursachen, wird vermutet, dass er tatsächlich ursächlich war. Mit anderen Worten – der Arzt oder die Klinik muss dann beweisen, dass der Schaden auch ohne den Fehler eingetreten wäre, was in der Praxis kaum zu führen ist. Diese Beweislastumkehr verschafft geschädigten Patienten einen erheblichen prozessualen Vorteil und erhöht das Haftungsrisiko für Behandler enorm.
Der vorliegende Fall zeigt zudem, dass Gerichte bei extremen Schadensbildern bereit sind, Schmerzensgelder in nie dagewesener Höhe zu verhängen. Die Summe von 1 Million Euro bewegt sich im obersten Bereich dessen, was deutsche Gerichte bislang zugesprochen haben. Solch hohe Beträge wurden bisher nahezu ausschließlich in schweren Medizinrechtsfällen mit lebensverändernden Dauerfolgen erreicht. So hatte etwa das Landgericht Limburg im Jahr 2021 einem infolge Behandlungsfehlers hirngeschädigten Kleinkind ebenfalls 1.000.000 € Schmerzensgeld zugesprochen. Zum Vergleich: Außerhalb des Medizinrechts sind derartige Summen eine absolute Ausnahme – ein bekanntes Beispiel ist die Entschädigung von 1 Million € für Altkanzler Helmut Kohl (LG Köln 2017) in einer Persönlichkeitsrechtsangelegenheit. Fälle wie der Göttinger Geburtsfehler verdeutlichen also die Dimension, die Arzthaftungsansprüche annehmen können, wenn fundamentale Sorgfaltspflichten verletzt werden.
Bemessung von Schmerzensgeld: Kriterien und Rekordhöhe
Schmerzensgeld dient in Deutschland zwei grundlegenden Funktionen: dem Ausgleich für erlittenes Leid und der Genugtuung für das erfahrene Unrecht. Da immaterielle Schäden (Schmerzen, Leid, Verlust an Lebensqualität) nicht in Euro messbar sind, legt das Gericht die Höhe nach Billigkeit fest – anhand aller Umstände des Einzelfalls (§ 253 Abs.2 BGB). Insbesondere fließen folgende Kriterien in die Bemessung ein:
- Ausmaß der Verletzung und Leiden: Art, Schwere und Umfang der gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Je gravierender und umfassender die körperlichen und seelischen Schäden, desto höher fällt in der Regel das Schmerzensgeld aus. Im Göttinger Fall handelt es sich um maximal denkbare Beeinträchtigungen – das Kind ist sein Leben lang vollständig pflegebedürftig.
- Dauerfolgen und Prognose: Zeitliche Dimension des Leidens. Ein vorübergehender Schmerz unterscheidet sich von einer dauerhaften Behinderung. Hier liegt ein lebenslanger Schaden vor, ohne Aussicht auf Besserung, was eine sehr hohe Entschädigung rechtfertigt.
- Auswirkung auf Lebensqualität und soziale Teilhabe: Die Einschränkungen im Alltag und Sozialleben des Opfers werden berücksichtigt. Beispielsweise kann das Mädchen weder sprechen noch spielen oder am Familienleben aktiv teilnehmen – normale Entwicklungs- und Lebensperspektiven sind verbaut. Dieser Verlust an Lebensfreude und Selbstständigkeit schlägt sich im Schmerzensgeld nieder.
- Verschuldensgrad des Behandlers: Auch das Fehlverhalten der Verantwortlichen kann den Betrag beeinflussen. Zwar ist Schmerzensgeld kein Strafschadenersatz, aber ein grob fahrlässiges oder gar vorsätzliches Verhalten erhöht meist den Genugtuungsaspekt. Im vorliegenden Fall waren die Pflichtverletzungen so gravierend, dass das Gericht ein außergewöhnlich hohes Schmerzensgeld als gerecht ansah.
Alle diese Faktoren werden vom Gericht im Gesamtbild abgewogen. Das Rekord-Schmerzensgeld von 1 Million € spiegelt hier die einzigartige Schwere des Falles wider – sowohl was den Schaden der Patientin angeht, als auch die Deutlichkeit der Behandlungsfehler. Für Ärzte bedeutet dies: Bei Extremverletzungen infolge krasser Behandlungsfehler sind heute in Deutschland siebenstellige Schmerzensgeldbeträge möglich.
Pflichten für Ärzte und Hebammen: Dokumentation, Überwachung, rasches Handeln
Aus dem Urteil lassen sich klare Lehren für die geburtshilfliche Praxis ziehen. Um Haftungsrisiken zu minimieren und – vor allem – um Patientenschäden zu verhindern, müssen medizinische Fachkräfte im Kreißsaal höchste Sorgfalt walten lassen. Insbesondere folgende Pflichten sind essenziell:
- Lückenlose Dokumentation: Alle Befunde, Maßnahmen und Entscheidungen während Schwangerschaft und Geburt sollten sorgfältig in der Patientenakte festgehalten werden. Eine unvollständige Dokumentation kann im Ernstfall erhebliche rechtliche Nachteile bringen. Nach geltendem Recht wird vermutet, dass eine medizinisch gebotene Maßnahme, die nicht dokumentiert ist, auch tatsächlich unterblieben ist. Diese Beweislastumkehr kann fatal sein: Der Arzt oder die Klinik müsste dann beweisen, die unterlassene Handlung doch vorgenommen zu haben – ein oft kaum zu erfüllender Beweis. Daher gilt: „If it’s not documented, it didn’t happen!“ – führen Sie Aufzeichnungen gründlich und bewahren Sie sie ordnungsgemäß auf.
- Engmaschige Überwachung von Mutter und Kind: Während der Geburt ist eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter und der fetalen Herztöne (CTG) unabdingbar. Warnsignale im CTG oder klinische Anzeichen einer fetalen Notlage (z.B. abfallende Herztöne, Sauerstoffmangel) dürfen nicht ignoriert werden. Sie müssen zeitnah erkannt und korrekt interpretiert werden. Das Göttinger Urteil monierte, dass der kritische Zustand des ungeborenen Kindes hätte sofort auffallen müssen – ein Versäumnis, das letztlich zur Katastrophe beitrug. Ärztinnen, Ärzte und Hebammen sollten deshalb standardisierte Überwachungsprotokolle einhalten, Alarmsignale ernst nehmen und im Zweifel frühzeitig weitere Diagnostik (bspw. pH-Wert-Bestimmung aus Nabelschnurblut) veranlassen.
- Rechtzeitige Reaktion bei Komplikationen: Zögern kann Leben kosten. Treten unter der Geburt Komplikationen auf, ist rasches und entschlossenes Handeln gefordert. Im vorliegenden Fall wurde ein dringend indizierter Notkaiserschnitt zu spät bzw. gar nicht eingeleitet – ein folgenschwerer Fehler. Geburtshelfer müssen jederzeit bereit sein, die Entbindungsmethode den Umständen anzupassen: Bei Anzeichen von fetalem Distress oder Geburtsstillstand ist die Schwelle zur operativen Entbindung (Sectio) niedrig anzusetzen, um Schaden von Mutter und Kind abzuwenden. Gleiches gilt postpartal: Wenn das Neugeborene Auffälligkeiten zeigt (Atemprobleme, schlechte APGAR-Werte etc.), müssen unverzüglich Reanimationsmaßnahmen und unterstützende Therapien (Sauerstoffgabe, Intubation) erfolgen. Jede Minute zählt – Verzögerungen können zu irreversiblen Schäden führen.
- Hinzuziehen von Spezialisten und Teamkommunikation: Kein Geburtshelfer ist eine Insel. Bei absehbaren oder eintretenden Komplikationen sollte frühzeitig Unterstützung angefordert werden. Im geschilderten Fall wurde versäumt, rechtzeitig einen neonatologischen Notfallmediziner der Universitätsklink hinzuzuziehen – obwohl ein Neugeborenes mit Sauerstoffmangel eine spezialisierte Behandlung braucht. In der Praxis muss klar sein: Lieber einmal zu früh den Kinderarzt/Neonatologen rufen als einmal zu spät. Ebenso sollten bei schwierigen Geburten ggf. Oberärzte, Anästhesisten oder weitere Fachkräfte hinzugezogen werden. Eine gute Teamkommunikation – z.B. rechtzeitiges Alarmieren des OP-Teams für eine Sectio oder das gemeinsame Interpretieren von CTG-Auffälligkeiten – kann Fehler verhindern. Hier ist auch die Klinikorganisation gefragt, durch klare Notfallpläne und Schulungen sicherzustellen, dass in kritischen Situationen jeder Handgriff sitzt und nötige Experten sofort verfügbar sind.
Der Göttinger Rekordfall ist ein drastisches Mahnbeispiel für die Konsequenzen ärztlicher Versäumnisse in der Geburtshilfe. Für medizinisches Personal bedeutet dies: höchste Sorgfalt von der Schwangerenbetreuung bis zur Nachversorgung des Neugeborenen. Ärztinnen, Ärzte und Hebammen müssen die etablierten Behandlungsstandards strikt einhalten – im Zweifel eher zu früh eingreifen als zu zögerlich sein. Außerdem sollten sie gründlich dokumentieren und bei Komplikationen im Team handeln. So lassen sich nicht nur Haftungsfälle vermeiden, sondern vor allem tragische Schicksale wie das der jungen Patientin. Das Urteil des LG Göttingen führt eindrücklich vor Augen, dass grobe Fehler unter der Geburt für die Betroffenen lebenslange Folgen haben – und für die Verantwortlichen neben dem Gewissensdruck auch eine massive rechtliche Haftung nach sich ziehen. Jede/r Geburtshelfer/in sollte dies zum Anlass nehmen, die eigenen Prozesse und Reaktionsabläufe kritisch zu überprüfen und so die Geburtshilfe für Mütter und Kinder so sicher wie möglich zu machen.