Wer bei Live-Sportübertragungen die Zeitlupen erstellt, kann selbstständig sein. Das hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in einem aktuellen Urteil entschieden. In dem Fall ging es um einen sogenannten Slow-Motion-Operator/Highlight-Editor, der für die Zeitlupenwiederholungen und Highlight-Zusammenschnitte bei Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen verantwortlich war. Das LSG stellte fest, dass seine Tätigkeit nicht als abhängige Beschäftigung im sozialversicherungsrechtlichen Sinne einzustufen ist. Entscheidend war, dass der Mann keinem vorgegebenen Drehbuch folgen musste und die Szenen eigenständig auswählte; zudem trug er ein eigenes unternehmerisches Risiko – etwa wenn ein Spiel ausfiel.
Hintergrund: Statusfeststellung eines Freelancers im TV-Bereich
Der Kläger arbeitete von Oktober 2016 bis Januar 2020 als freier Slow-Motion-Operator bei Live-Sportübertragungen. Seine Aufgabe war es, im Übertragungswagen der Produktionsfirma über einen mehrkanaligen Festplattenrekorder wichtige Spielszenen auszuwählen und in Zeitlupe als Wiederholung bereitzustellen. Außerdem stellte er aus dem Kameramaterial Highlights für Spielanalysen oder Spielberichte zusammen. Seine Auswahl wurde vom Bildregisseur ungeprüft direkt ins Live-Programm übernommen – es gab also keine nachträgliche Kontrolle seiner Schnitte. Vorgaben zur Anzahl der Zeitlupen-Clips bestanden nicht, die inhaltliche Entscheidung lag allein bei ihm.
Für jeden Einsatz schloss der Kläger Einzelverträge ab und erhielt eine Tagespauschale zwischen 330 € und 420 € (zzgl. Reisekosten) pro Veranstaltung. Insgesamt führte er in dem Zeitraum über 40 Aufträge persönlich aus. Die Einsätze richteten sich nach dem Spielplan der jeweiligen Sportligen und fanden für unterschiedliche Auftraggeber statt – der Freelancer war also nicht exklusiv für einen einzigen Sender tätig.
Im Februar 2020 stellte der Mann einen Statusfeststellungsantrag (§ 7a SGB IV) bei der Deutschen Rentenversicherung, um Rechtssicherheit über seinen sozialversicherungsrechtlichen Status zu erlangen. Die Rentenversicherung Bund kam jedoch zum Ergebnis, es liege eine abhängige Beschäftigung vor – der Slow-Motion-Operator sei in Wahrheit Arbeitnehmer und unterliege der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung. Gegen diesen Bescheid wehrte sich der Betroffene gerichtlich mit Erfolg: Bereits das Sozialgericht München gab ihm Recht und qualifizierte ihn als Selbstständigen. Die Rentenversicherung legte Berufung ein – das LSG Bayern bestätigte nun in zweiter Instanz die Entscheidung zugunsten des Freelancers.
Entscheidung des LSG Bayern vom 07.04.2025 (Az. L 7 BA 24/24)
Das Landessozialgericht Bayern hat die Berufung der Rentenversicherung zurückgewiesen und klargestellt, dass der Kläger keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hat. Im Leitsatz des Urteils heißt es ausdrücklich: „Ein Slow Motion Operator kann auch dann selbständig sein, wenn er keine programmgestaltende Tätigkeit ausübt.“. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Tätigkeit kein eigener redaktioneller oder künstlerischer Programmgestaltungs-Spielraum im engeren Sinne zukommt, kann sie im Gesamtergebnis als selbständige Tätigkeit bewertet werden. Entscheidend ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles.
Das Gericht wandte die allgemeinen Abgrenzungskriterien von § 7 Abs. 1 SGB IV an: Eine Beschäftigung liegt demnach vor, wenn jemand in eine fremde Arbeitsorganisation eingegliedert und weisungsgebunden ist. Demgegenüber ist Selbständigkeit durch freie Gestaltung von Tätigkeit und Arbeitszeit sowie ein eigenes Unternehmerrisiko gekennzeichnet. Die Besonderheit bei freien Mitarbeitern im Medienbereich ist, dass auch ohne ständige Kontrolle oder Anwesenheit des Auftraggebers eine Eingliederung in Abläufe vorliegen kann – etwa durch feste Sendezeiten oder Nutzung von Sendetechnik. Allerdings sind Weisungsgebundenheit und Eingliederung nur Anhaltspunkte, die im Gesamtbild bewertet werden müssen. Kein einzelnes Merkmal allein entscheidet, sondern welche Aspekte insgesamt überwiegen.
Gründe: Weisungsfreiheit, Eigenverantwortung und Unternehmerrisiko
Bei der Gesamtabwägung im vorliegenden Fall überwogen deutlich die Merkmale einer selbständigen Tätigkeit. Das LSG stellte vor allem auf folgende Punkte ab:
- Keine fremdbestimmte inhaltliche Arbeit: Zwar war der Kläger technisch und organisatorisch in die Live-Produktion eingebunden (er arbeitete im Ü-Wagen der Produktionsfirma zu vorgegebenen Spielzeiten und nutzte deren Technik). Dies allein begründet laut Gericht jedoch keine „fremdbestimmte“ Tätigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinne. Entscheidend war, dass der Slow-Motion-Operator die Bildsequenzen eigenständig auswählte und inhaltlich gestaltete. Weisungen durch den Auftraggeber oder den vor Ort anwesenden Bildregisseur gab es nicht. Der Regisseur entschied lediglich wann eine Wiederholung gesendet wurde, nicht jedoch, was gesendet wurde. Der Kläger trug somit die inhaltliche Verantwortung für die Zeitlupen-Clips – eine Endkontrolle fand nicht statt. Selbst wenn seine Auswahl mal unglücklich gewesen wäre, wäre diese dennoch so live auf Sendung gegangen. Dieses hohe Maß an Eigenverantwortlichkeit und Weisungsfreiheit spricht für eine selbstständige Tätigkeit.
- Keine vollständige Eingliederung in die Betriebsorganisation: Der Slow-Motion-Operator arbeitete zwar im Team der Live-Übertragung, war aber nicht wie ein Arbeitnehmer in eine betriebliche Hierarchie eingegliedert. Organisation und Arbeitsabläufe der Sendung wurden durch die Erfordernisse der Live-Übertragung bestimmt (z.B. Spielplan, Regieentscheidungen zum Sendungsablauf), nicht durch weisungsbefugte Vorgesetzte des Auftraggebers. Insbesondere erfolgte keine arbeitsteilige Zusammenarbeit dahingehend, dass ihm ständig Vorgaben gemacht oder Zwischenergebnisse abgenommen wurden. Das Gericht betonte, der Kläger sei nicht untergeordnet, sondern isoliert eigenverantwortlich tätig gewesen. Seine Beiträge (Zeitlupen und Highlights) stellten eigenständige Werkteile im Live-Programm dar, die er ohne fremde Hilfe oder Kontrolle erstellte. Damit ging seine Tätigkeit nicht in einer fremden Organisation auf, sondern blieb die Leistung eines eigenständigen Dienstleisters.
- Mehrere Auftraggeber & freie Einsatzplanung: Ein weiteres Indiz für die Selbstständigkeit war, dass der Kläger für verschiedene Auftraggeber tätig war und frei über seine Einsätze disponieren konnte. Er war kein fest angestellter Mitarbeiter einer einzelnen Sendeanstalt, sondern konnte Aufträge auch ablehnen oder für andere Produktionen arbeiten, wenn er wollte. Zwischen den einzelnen Einsätzen bestand keine persönliche Abhängigkeit – es wurden immer neue Verträge geschlossen. Diese projektbezogene, wechselnde Tätigkeit entspricht eher dem Bild eines freien Mitarbeiters als dem eines dauerhaft beschäftigten Arbeitnehmers.
- Eigenes Unternehmerrisiko: Der Kläger trug nach Auffassung des Gerichts ein erhebliches unternehmerisches Risiko. Seine Vergütung bestand aus individuell vereinbarten Tagessätzen; fielen Veranstaltungen aus (z.B. Spielabsage), ging er leer aus – es gab keine Lohnfortzahlung oder automatische Ersatzaufträge. Selbst wenn ein ausgefallenes Spiel nachgeholt wurde, war nicht garantiert, dass er wieder gebucht würde. Dieses Risiko, Einnahmeausfälle selbst tragen zu müssen, ist typisch für Selbständige und untypisch für Arbeitnehmer. Zudem musste der Kläger laufende Betriebsausgaben wie Versicherungen (Berufshaftpflicht, Vermögensschadenhaftpflicht), Beiträge zur Berufsgenossenschaft, Künstlersozialkasse, Weiterbildungskosten, technische Ausstattung (Computer, Software etc.) selbst tragen. Auch wurden Fahrt- und Übernachtungskosten nur pauschal abgegolten. Das LSG wertete diese finanzielle Eigenverantwortung als klares Indiz für Selbständigkeit.
- Kein eigenes Equipment erforderlich: Ein oft wichtiges Abgrenzungsmerkmal ist, ob der freie Mitarbeiter eigene Betriebsmittel einsetzt oder die des Auftraggebers nutzt. Hier verwendete der Slow-Motion-Operator den teuren High-End-Festplattenrekorder im Regie-Wagen der Produktionsfirma. Grundsätzlich gilt: Die Nutzung fremder Technik kann ein Indiz für Abhängigkeit sein (weil keine eigenen Sachmittel vorhanden). Im konkreten Fall maß das Gericht diesem Umstand jedoch wenig Gewicht bei. Warum? Der Kläger hatte plausibel dargelegt, dass die Anschaffung und der Einsatz eines eigenen Geräts bei jeder Produktion technisch und organisatorisch unvernünftig gewesen wären. Jedes TV-Produktionshaus nutzt spezifische Hard- und Software; ein eigenes System des Freelancers hätte aufwändig integriert werden müssen, mit hohem Fehlerrisiko (Kompatibilitätsprobleme) und Zeitaufwand vor jeder Übertragung. Auch die Anmietung eines passenden Geräts am Markt wäre schwierig und zeitintensiv gewesen, zumal es nur wenige Anbieter gibt. Dass der Kläger daher kein eigenes Schnittgerät mitbrachte, sei nachvollziehbar und spreche nicht von vornherein gegen eine selbständige Tätigkeit, so das LSG. Entscheidend war vielmehr, wie er das vorhandene Gerät nutzte: nämlich eigenverantwortlich und ohne fremde Steuerung.
- Kein Drehbuch, keine Vorgaben wie bei Cutter-Tätigkeiten: Das LSG hob hervor, dass die Tätigkeit eines Slow-Motion-Operators sich von der eines klassischen TV-Editors (Cutters) unterscheidet. Bei aufgezeichneten Formaten (z.B. Reality-TV, Dokusoaps) arbeiten Cutter oft nach einem vorgegebenen Konzept oder Drehbuch und in enger Abstimmung mit der Regie – was auf eine Eingliederung in die Produktionsorganisation hindeutet. Im vorliegenden Fall einer Live-Sportübertragung gab es aber kein Drehbuch, dem der Kläger folgen musste. Der Verlauf des Spiels war offen, und der Freelancer entschied situativ, welche Szenen bedeutend waren. Gerade dieser journalistisch-kreative Anteil seiner Arbeit (Auswahl der Highlights in Echtzeit) wurde betont. Er erstellte eigenständige Beiträge, statt nur technische Vorgaben umzusetzen. Das Gericht stellte daher klar, dass auch ohne programmgestaltende (redaktionelle) Endverantwortung die schöpferische Eigenleistung hier ein Indiz pro Selbständigkeit war.
Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren kam das LSG zu dem Ergebnis, dass das Gesamtbild der Tätigkeit eher dem eines Selbständigen entspricht. Zwar lagen einzelne Merkmale einer Beschäftigung vor (wie die Nutzung fremder Technik und feste Einsatzzeiten entsprechend dem Spielplan). Jedoch überwogen letztlich die Anzeichen für eine freie Mitarbeit – vor allem die Weisungsfreiheit, die autonome inhaltliche Gestaltung und das eigene Geschäftsrisiko des Klägers. Zusammenfassend heißt es im Urteil: „Bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung überwiegen daher im Ergebnis die Umstände, die für eine selbständige Tätigkeit sprechen.“.
Bedeutung des Urteils und Tipps für die Praxis
Das Urteil des LSG Bayern vom 07.04.2025 ist ein wichtiger Präzedenzfall für freie Medienmitarbeiter und ihre Auftraggeber. Es zeigt, dass auch technisch geprägte Tätigkeiten im Medien- und Veranstaltungsbereich als selbstständige Leistungen anerkannt werden können, selbst wenn der Freelancer in ein Produktionsteam eingebunden ist und nicht die Endregie über ein Programm hat. Entscheidend ist, wie die Tätigkeit konkret ausgeübt wird:
- Wer inhaltlich eigenverantwortlich arbeitet, ohne detaillierte Weisungen und ohne nachgelagerte Kontrolle durch einen Arbeitgeber, hat ein starkes Argument für die Selbstständigkeit.
- Ebenfalls sprechen unternehmerische Merkmale wie das Tragen eines eigenen wirtschaftlichen Risikos, variable Vergütungen (z.B. Stück- oder Tagessätze ohne Lohnfortzahlung) und die Tätigkeit für mehrere Auftraggeber für eine freie Mitarbeit.
- Formalitäten wie fehlende schriftliche Verträge oder die Nutzung von Auftraggeber-Infrastruktur sind zwar zu berücksichtigen, aber nicht allein ausschlaggebend. Die tatsächliche Handhabung im Arbeitsalltag ist wichtiger.
Praxis-Tipp: Freiberufler im Bereich Film, Fernsehen und Veranstaltungen sollten ihre Verträge und Arbeitsweise so gestalten, dass typische Selbständigen-Merkmale erkennbar sind. Dazu gehört etwa, vertraglich festzuhalten, dass keine Weisungsgebundenheit besteht und dass die Leistung eigenverantwortlich erbracht wird. Auch die Vereinbarung von Pauschalhonoraren pro Projekt/Tag (anstatt eines monatlichen Gehalts) und der Hinweis auf das Entfallen der Vergütung bei Ausfall einer Veranstaltung können wichtige Indizien liefern. Es empfiehlt sich ferner, gegenüber der Deutschen Rentenversicherung im Zweifel ein Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV – wie im vorliegenden Fall – durchzuführen, um Rechtssicherheit zu erlangen.
Für Auftraggeber (z.B. Produktionsfirmen, Sender) verdeutlicht das Urteil, dass Freie Mitarbeiter selbst bei arbeitnehmerähnlicher Einbindung (feste Zeiten, Nutzung von Firmengerät) sozialversicherungsrechtlich als Selbständige gelten können, solange sie inhaltlich autonom agieren. Dennoch ist Vorsicht geboten: Die Abgrenzung zwischen Scheinselbstständigkeit und echter Selbständigkeit bleibt eine Frage des Einzelfalls. Gerade in der Medienbranche sollten Beteiligte im Zweifel fachkundigen Rat einholen, um die Zusammenarbeit rechtssicher auszugestalten.