Ein Geschädigter eines Strafverfahrens (hier wegen Urkundenfälschung) setzte auf Antrag vom 30.04.2022 einen nahen Angehörigen – einen Jurastudenten – als Verletztenbeistand ein. Das Amtsgericht (AG) Hannover genehmigte diese Wahl gemäß § 406f Abs. 1 i.V.m. § 138 StPO mit Beschluss vom 18.05.2022. Zur Begründung führte es aus, dass der Student als Familienangehöriger das Vertrauen des Geschädigten genieße und seine juristischen Kenntnisse die Unterstützung im Verfahren mit den Belangen der Rechtspflege vereinbar machten.
Im Verlauf des Ermittlungsverfahrens stellte die Staatsanwaltschaft Hannover das Verfahren am 16.05.2023 nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Der Verletztenbeistand legte daraufhin “namens und in Vollmacht des Geschädigten” Beschwerde gegen die Einstellung ein und beantragte gleichzeitig Akteneinsicht – konkret die Übersendung der Ermittlungsakten an seine Anschrift. Die Staatsanwaltschaft lehnte diesen Akteneinsichtsantrag ab und verwies darauf, dass dem Geschädigten selbst Einsicht vor Ort gewährt werden könne, nicht aber dem Beistand in der gewünschten Form. Daraufhin ersuchte der Beistand das Amtsgericht um gerichtliche Entscheidung über die Akteneinsicht.
Entscheidungen von AG und LG Hannover
Das Amtsgericht Hannover wies den Antrag des Beistands auf Aktenübersendung zurück (Beschluss vom 21.07.2023). Zur Begründung stellte das AG klar, dass dem nichtanwaltlichen Verletztenbeistand kein eigenes Akteneinsichtsrecht nach § 406e Abs. 1 StPO zustehe – dieses Recht gelte nur für einen Rechtsanwalt des Opfers. Die gerichtliche Genehmigung nach § 138 StPO mache den Beistand insoweit nicht einem Rechtsanwalt gleichstellbar. Das Akteneinsichtsrecht des Geschädigten selbst (§ 406e Abs. 3 StPO) bleibe zwar unberührt, aber der konkrete Antrag war vom Beistand im eigenen Namen gestellt worden und nicht (hilfsweise) als Vertreter des Opfers gedeutet worden. Folglich könne er in eigenem Namen keine Akteneinsicht erzwingen. Die Kosten des Verfahrens legte das AG dem Beistand auf.
Gegen diese Entscheidung legte der Jurastudent erneut “namens und in Vollmacht des Geschädigten” Beschwerde ein (Schriftsatz vom 31.07.2023). Das Landgericht (LG) Hannover verwarf jedoch die Beschwerde als unbegründet (Beschluss vom 07.02.2024, Az. 40 Qs 44/23) und – wichtig – auferlegte dem Beistand wiederum die Kosten. Zur Begründung schloss sich das LG im Wesentlichen der Sicht des AG an: Dem nach § 406f StPO zugelassenen Beistand stehe kein eigenes Akteneinsichtsrecht nach § 406e Abs. 1 StPO zu, da er kein Rechtsanwalt sei. Aus dem Antragsschreiben vom 23.06.2023 ergebe sich, dass er die Akteneinsicht gerade nicht erkennbar im Namen des Geschädigten, sondern im eigenen Namen beantragt habe. Dies sei ein formaler Fehler, der die Versagung der Akteneinsicht rechtfertige. Dementsprechend betrachtete das LG auch die gegen das AG-Verbotsbeschluss eingelegte Beschwerde als „Beschwerde des Verletztenbeistands“ selbst – und legte dem Jurastudenten als Beschwerdeführer die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels auf.
Hinweis: Die materiell-rechtliche Frage, ob und wie ein nichtanwaltlicher Beistand Akteneinsicht nehmen darf, blieb hier letztlich ungeklärt. Das LG deutete aber an, dass der Geschädigte sich durchaus durch seinen Beistand vertreten lassen könne, um das eigene Akteneinsichtsrecht (§ 406e Abs. 3 StPO) wahrzunehmen. Im konkreten Fall sei dies jedoch nicht beantragt gewesen, da der Antrag in eigenem Namen formuliert war.
Verfassungsbeschwerde wegen der Kostenentscheidung
Der Jurastudent sah vor allem die Kostenauferlegung zu seinen Lasten als falsch und verletzend für sein Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichbehandlungsgebot in Form des Willkürverbots). Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte er, die Entscheidung des LG sei objektiv willkürlich. Schließlich habe er das Rechtsmittel eindeutig als bevollmächtigter Vertreter des Geschädigten eingelegt. Beschwerdeführer des fachgerichtlichen Verfahrens war in Wahrheit der Geschädigte selbst, nicht er persönlich. Dass das LG dennoch ihn als Kostenschuldner behandele, sei “völlig unverständlich” und lasse darauf schließen, dass sachfremde Erwägungen entscheidend waren.
Zu beachten ist, dass gegen die Kostenentscheidung kein weiterer fachgerichtlicher Rechtsbehelf gegeben war (§ 310 Abs. 2 StPO schließt eine weitere Beschwerde aus). Die Verfassungsbeschwerde war somit zulässig und auch nicht subsidiär anderweitig abwendbar.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht (3. Kammer des Zweiten Senats) hat die Verfassungsbeschwerde angenommen und der Beschwerde stattgegeben. Mit Beschluss vom 24.07.2025 (Az. 2 BvR 424/24) entschied das BVerfG, dass der LG-Beschluss den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, soweit dem Beistand die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels auferlegt wurden.
Im Einzelnen hat das BVerfG:
- Den Beschluss des LG Hannover insoweit aufgehoben, als die Kosten dem Beistand auferlegt wurden.
- Die Sache zur neuen Entscheidung bezüglich der Kosten an das LG zurückverwiesen.
- Angeordnet, dass das Land Niedersachsen dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen (im Verfassungsbeschwerde-Verfahren) zu erstatten hat.
Die eigentliche Frage der Akteneinsicht wurde vor dem BVerfG nicht entschieden, da die Verfassungsbeschwerde nur die Kostenfrage (als Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG) betraf.
Begründung: Willkürverbot und Veranlassungsprinzip
Das Bundesverfassungsgericht stufte die Entscheidung des LG in Bezug auf die Kostentragungspflicht als objektiv willkürlich ein. Es erinnerte daran, dass es nur in seltenen Ausnahmefällen in fachgerichtliche Entscheidungen eingreift, nämlich wenn eine Entscheidung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher als sachfremd bzw. willkürlich erweist. Genau dies sei hier der Fall gewesen.
Grundlage der Kostenentscheidung im Strafverfahren ist § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO, der das sog. Veranlassungsprinzip umsetzt. Danach trägt derjenige die Kosten eines erfolglos eingelegten Rechtsmittels, der das Rechtsmittel veranlasst hat (also der Einlegende). Dieses Prinzip soll sicherstellen, dass der Staat bzw. die Allgemeinheit nicht mit den Kosten belastet wird, sondern der Verantwortliche – soweit gerechtfertigt – die Kosten trägt.
Typischerweise bedeutet das: Wer ein Rechtsmittel ohne Erfolg einlegt, hat die Kosten zu tragen (z.B. ein Angeklagter, der verurteilt bleibt, oder ein Beschwerdeführer, dessen Beschwerde verworfen wird). Legt jedoch ein Vertreter für einen anderen ein Rechtsmittel ein, stellt sich die Frage, wem die Veranlassung zuzurechnen ist. Hier gilt nach Rechtsprechung und Lehre im Strafprozessrecht:
- Hat der Vertreter keine Vertretungsmacht (z.B. vollmachtloser Verteidiger) oder handelt er gegen den Willen des Vertretenen, dann ist er selbst Veranlasser und somit kostenpflichtig. Beispiele: Ein Verteidiger ohne Vollmacht oder entgegen ausdrücklichem Willen des Mandanten legt Revision ein – dann muss der Verteidiger ggf. selbst die Kosten tragen. Auch ein Rechtsmittel, das die erteilte Vollmacht offensichtlich überschreitet, kann zu einer persönlichen Kostentragungspflicht des Vertreters führen. In solchen Fällen hat der Vertreter eigenmächtig gehandelt, weshalb ihm die Kosten auferlegt werden können.
- Hat der Vertreter jedoch gültige Vollmacht und handelt im Einklang mit dem Willen des Vertretenen, dann gilt das Rechtsmittel als vom Vertretenen selbst eingelegt. Die Veranlassung liegt dann beim Vertretenen, und der Vertreter darf nicht persönlich zur Kasse gebeten werden. Dies entspricht der allgemeinen Ansicht in Literatur und Rechtsprechung: Ein vom bevollmächtigten Vertreter im fremden Namen eingelegtes Rechtsmittel wird kostenrechtlich dem Auftraggeber zugerechnet. Ein klassisches Beispiel ist § 297 StPO bei Verteidigern: Legt ein Verteidiger mit Vollmacht fristgerecht Berufung oder Beschwerde für den Angeklagten ein, so behandelt man das als Rechtsmittel des Angeklagten selbst – der Verteidiger trägt nicht die Kosten.
Im vorliegenden Fall hatte der Jurastudent unstreitig ausdrücklich “namens und in Vollmacht” des Opfers gehandelt. Er besaß eine gültige Vollmacht, und es gab keine Anhaltspunkte für Unwirksamkeit oder Missbrauch dieser Vollmacht. Nach allgemeiner Ansicht musste seine Beschwerde daher als Rechtsmittel des Geschädigten behandelt werden, gerade so, als hätte der Geschädigte selbst Beschwerde eingelegt. Damit fehlte jegliche Grundlage, dem Beistand persönlich die Kosten aufzuerlegen – “für eine Kostenauferlegung zu Lasten des Beschwerdeführers verblieb kein Raum”. Die gegenteilige Auffassung des LG Hannover war “unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar” und somit willkürlich.
Das BVerfG hebt in seiner Begründung hervor, dass auch die missverständliche Formulierung des LG (“Beschwerde des Verletztenbeistands” in der Beschlussformel) an der rechtlichen Bewertung nichts ändert. Diese Formel stand im Widerspruch zum übrigen Beschlussinhalt, der ja selbst anerkannte, dass der Beistand “namens und in Vollmacht” des Geschädigten gehandelt hatte. Entscheidend war die tatsächliche Prozessstellung: Beschwerdeführer des fachgerichtlichen Rechtsmittels war der Geschädigte (vertreten durch den Beistand) und nicht der Beistand persönlich. Folglich durfte letzterer nicht als Kostenschuldner behandelt werden.
Leitsatz (BVerfG): Hat ein Beistand ein Rechtsmittel ausdrücklich im Namen und mit Vollmacht des Vertretenen eingelegt und bestehen keine Hinweise auf Unwirksamkeit oder Überschreitung der Vollmacht, so ist das Rechtsmittel – analog zur Vertretung durch einen Verteidiger gemäß § 297 StPO – auch kostenrechtlich zwingend als Rechtsmittel des Vertretenen zu behandeln. Eine Kostenauferlegung zulasten des Beistands scheidet in einem solchen Fall aus.
Konsequenzen und Praxishinweise
Für die Praxis der Rechtsvertretung – gerade im Straf- und Verfahrensrecht – bestätigt dieser Beschluss einige wichtige Punkte:
- Klarheit über die Vertretungsverhältnisse: Wenn Sie als Rechtsanwalt oder zugelassener Beistand für jemanden ein Rechtsmittel einlegen, formulieren Sie eindeutig, dass dies “namens und in Vollmacht” der vertretenen Person erfolgt. Dies stellt sicher, dass von Anfang an keine Zweifel über den Adressaten der Rechtsmittelerklärung bestehen. Im besprochenen Fall führte eine unglückliche Formulierung des Akteneinsichtsgesuchs (scheinbar im eigenen Namen) erst zu dem Problem. Eindeutige Bevollmächtigungsnachweise und Formulierungen können solchen Missverständnissen vorbeugen.
- Kostenrisiko bei Vertreter-Handeln: Handelt ein Vertreter ordnungsgemäß auftragsgemäß, trägt der Vertretene das Kostenrisiko des Rechtsmittels, nicht der Vertreter. Der BVerfG-Beschluss stellt klar, dass ein Verletztenbeistand nur in Ausnahmefällen selbst kostenpflichtig wird, nämlich wenn er ohne oder gegen den Willen des Vertretenen gehandelt hat. Dieses Prinzip lässt sich verallgemeinern: Auch Rechtsanwälte als Verteidiger oder Vertreter laufen nicht Gefahr, persönlich die Rechtsmittelkosten zahlen zu müssen, solange sie innerhalb ihrer Vertretungsmacht und Weisungen agieren. Das entlastet Beistände und Anwälte von der Sorge, für erfolglose Rechtsmittel finanziell zu haften, sofern ihr Handeln vom Mandat gedeckt ist.
- Überschreitung der Vollmacht vermeiden: Umgekehrt sollten Vertreter strikt innerhalb der Grenzen ihrer Vollmacht agieren. Legt man ohne entsprechende Vollmacht oder entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Mandanten ein Rechtsmittel ein, kann dies nach § 473 Abs. 1 StPO dazu führen, dass man selbst als “Veranlasser” gilt und die Kosten tragen muss. In der Regel wird man als Anwalt daher ein Rechtsmittel nur mit Mandat und Vollmacht einlegen – der vorliegende Beschluss untermauert, wie wichtig das auch für die Kostenfrage ist.
- Gerichtliche Willkürkontrolle bei Kostenentscheidungen: Der Beschluss ist auch interessant, weil das BVerfG hier eine isolierte Kostenentscheidung kassiert hat. Normalerweise sind Kostenentscheidungen der Fachgerichte nur schwer angreifbar; das BVerfG greift ein, wenn eine Entscheidung willkürlich ist, d.h. rechtlich absolut nicht mehr nachvollziehbar. Im vorliegenden Fall war die falsche Kostenauferlegung so offensichtlich gesetzeswidrig, dass sie das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzte. Für die Praxis bedeutet das: Auch scheinbar nebensächliche Verfahrensaspekte wie Kostenbeschlüsse müssen mit Sorgfalt und anhand der gesetzlichen Maßstäbe getroffen werden. Andernfalls droht – in krassen Fällen – sogar die Aufhebung durch Karlsruhe.
Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass ein Verletztenbeistand nicht persönlich zur Kasse gebeten werden darf, wenn er mit gültiger Vollmacht im Namen des Opfers handelt. Die Kosten eines erfolglosen Rechtsmittels sind in solchen Konstellationen vom Vertretenen (bzw. letztlich dem Staat, falls z.B. Prozesskostenhilfe oder Kostenaufhebung greifen) zu tragen, nicht vom Vertreter. Diese Entscheidung sorgt für Rechtssicherheit bei der Opfervertretung im Strafverfahren und erinnert die Fachgerichte daran, den Gleichheitssatz und das Veranlassungsprinzip auch bei Kostenfragen strikt zu beachten. Insbesondere für Rechtsanwälte und zulässige Nicht-Anwalt-Beistände ist das eine begrüßenswerte Bestätigung, dass sie keine persönliche Haftung für Verfahrenskosten riskieren, solange sie im Auftrag und Interesse ihres Mandanten agieren.
(BVerfG, Beschluss vom 24.07.2025, Az. 2 BvR 424/24)