Eltern behinderter Kinder haben Anspruch auf Anpassungen ihrer Arbeitsbedingungen, damit sie ihre Betreuungspflichten erfüllen können – das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 11. September 2025 (Rs. C‑38/24, Bervidi) klargestellt. Dieses Urteil verpflichtet Arbeitgeber in der EU, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass keine mittelbare Diskriminierung von Arbeitnehmern erfolgt, die ein behindertes Kind betreuen. Im Folgenden geben wir einen umfassenden Rechtstipp zur Entscheidung und beleuchten die Konsequenzen für das deutsche Arbeitsrecht – praxisnah für Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Hintergrund des Urteils
Eine italienische Stationsaufsicht (Schichtleiterin) betreute ihren schwerbehinderten, vollinvaliden Sohn und bat ihren Arbeitgeber wiederholt um einen festen Vormittagsschicht-Arbeitsplatz, um die Pflege sicherstellen zu können. Der Arbeitgeber gestattete zwar vorübergehende Anpassungen der Arbeitszeit, lehnte aber eine dauerhafte Umstellung ab. Daraufhin klagte die Mutter durch alle Instanzen. Schließlich legte der italienische Kassationsgerichtshof dem EuGH Fragen zur Auslegung des EU-Rechts vor: Kann sich eine Person, die selbst nicht behindert ist, vor Gericht auf das Verbot mittelbarer Diskriminierung wegen Behinderung berufen? Und folgt daraus eine Pflicht des Arbeitgebers, angemessene Vorkehrungen (Arbeitszeitänderungen etc.) zu treffen, damit solche Mitarbeiter ihre behinderten Kinder betreuen können?
Dieser Hintergrund ähnelt dem britischen Coleman-Fall von 2008, in dem der EuGH bereits entschied, dass die EU-Gleichbehandlungsrichtlinie (2000/78/EG) nicht nur behinderte Personen selbst schützt, sondern auch vor Benachteiligungen im Beruf aufgrund der Behinderung eines Angehörigen. Im jetzigen Fall Bervidi ging es jedoch speziell um mittelbare Diskriminierung und die Frage nach betriebsorganisatorischen Anpassungen.
Kernaussagen der Entscheidung
Der EuGH hat unmissverständlich festgestellt, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung wegen Behinderung auch zugunsten von Arbeitnehmern gilt, die wegen der Betreuung ihres behinderten Kindes benachteiligt werden. Mit anderen Worten: Eltern behinderter Kinder dürfen im Arbeitsleben nicht schlechter gestellt werden, weil sie ein behindertes Kind haben. Eine scheinbar neutrale Regel oder Praxis (z. B. starres Schichtsystem) darf also nicht zu einem besonderen Nachteil für betreuende Eltern führen, sofern keine ausreichende Rechtfertigung vorliegt.
Zur Begründung hat der EuGH auf wichtige Rechtsnormen und Prinzipien Bezug genommen: Zentrale Grundlage ist die EU-Rahmenrichtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrichtlinie in Beschäftigung und Beruf), die jede Diskriminierung wegen Behinderung verhindern soll. Diese Richtlinie ist im Lichte der EU-Grundrechtecharta (insb. Art. 21 Gleichbehandlungsgebot und Art. 26 Integration von Menschen mit Behinderungen, sowie Art. 24 Rechte des Kindes) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auszulegen. Aus diesen Rechtsakten folgert der EuGH, dass zur Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderungen – besonders von Kindern – auch eine mittelbare „Mitdiskriminierung“ erfasst ist. Der Schutz vor Benachteiligung erstreckt sich also auf Personen, die einem behinderten Menschen nahestehen.
Ein weiterer Kernpunkt der Entscheidung ist die Verpflichtung des Arbeitgebers zu angemessenen Vorkehrungen: Unternehmen müssen im Rahmen des Zumutbaren organisatorische Maßnahmen ergreifen, damit Arbeitnehmer ihre behinderten Kinder angemessen betreuen können. Der EuGH erklärte, dass Arbeitgeber Arbeitszeit- oder Arbeitsplatzregelungen entsprechend anpassen müssen, solange dadurch keine unverhältnismäßige Belastung für den Betrieb entsteht. Diese Einschränkung („unverhältnismäßig“ bzw. undue burden) bedeutet, dass die Interessen des Arbeitgebers berücksichtigt bleiben. Ob eine konkrete Forderung – im Fall Bervidi der Wunsch nach dauerhafter Vormittagsschicht – für den Arbeitgeber unzumutbar ist, müssen letztlich die nationalen Gerichte im Einzelfall prüfen.
Zusammengefasst beruht das Urteil auf dem Gedanken, Diskriminierungsschutz und Chancengleichheit im Arbeitsleben umfassend zu gewährleisten. Eltern behinderter Kinder sind nun ausdrücklich in den Schutzbereich einbezogen, gestützt auf EU-Recht. Diese Entscheidung erweitert den in Coleman etablierten Grundsatz (Schutz vor unmittelbarer Diskriminierung durch Assoziation) nun auch auf mittelbare Diskriminierungen und konkretisiert die Pflicht zu reasonable accommodation (angemessenen Vorkehrungen) für solche Fälle.
Rechtliche Einordnung für das deutsche Arbeitsrecht
Für Deutschland hat dieses EuGH-Urteil erhebliche Bedeutung. Zwar setzte das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) die EU-Richtlinie 2000/78/EG in deutsches Recht um und verbietet Benachteiligungen wegen Behinderung, doch war bislang unklar, inwieweit das AGG auch „Benachteiligungen durch Assoziierung“ erfasst. Die deutsche Rechtsprechung dürfte das Urteil nun dahingehend verstehen, dass Diskriminierungsschutz auch Angehörige behinderter Menschen einschließt, zumindest wenn eine mittelbare Benachteiligung vorliegt. Ein Arbeitgeber, der z. B. starre Präsenzzeiten vorschreibt, die Eltern behinderter Kinder faktisch ausschließen, läuft Gefahr, gegen das Benachteiligungsverbot (AGG § 7 i.V.m. § 1 und § 3 Abs. 2 AGG) zu verstoßen – es sei denn, es liegt ein zwingender sachlicher Grund vor.
Parallel dazu berührt das Urteil die arbeitsvertragliche Fürsorgepflicht bzw. das arbeitsrechtliche Rücksichtnahmegebot. Schon bisher mussten Arbeitgeber im Rahmen ihres Weisungsrechts auf besondere Umstände von Mitarbeitern Rücksicht nehmen. Für behinderte Beschäftigte ist das ausdrücklich normiert: § 106 GewO schreibt vor, dass bei der Festlegung von Arbeitszeit und Arbeitsort auf die Behinderung eines Mitarbeiters angemessen Rücksicht zu nehmen ist. Ebenso verpflichtet § 241 Abs. 2 BGB den Arbeitgeber zu rücksichtsvoller Ausübung seiner Rechte. Diese Grundsätze lassen sich auf unsere Thematik übertragen: Hat ein Arbeitnehmer familienbedingt (z. B. wegen eines schwerbehinderten Kindes) besondere Einschränkungen, gebietet die Fürsorgepflicht zumindest eine wohlwollende Prüfung von Anpassungsmöglichkeiten. Das EuGH-Urteil verleiht diesem allgemeinen Prinzip nun europarechtliches Gewicht: Eine Ablehnung von zumutbaren Anpassungen könnte als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot gewertet werden, was über das AGG sanktionierbar ist.
Interessant ist auch die Parallele zu § 164 SGB IX im deutschen Recht. Diese Vorschrift gewährt schwerbehinderten Arbeitnehmern einen Anspruch auf behinderungsgerechte Beschäftigung – z. B. angepasste Arbeitszeiten oder Arbeitsbedingungen –, soweit dies für den Arbeitgeber zumutbar ist. Genau wie der EuGH es nun für Eltern behinderter Kinder fordert, endet der Anspruch schwerbehinderter Menschen laut § 164 Abs. 4 S. 3 SGB IX nämlich dort, wo die Maßnahme für den Arbeitgeber unzumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden wäre. Auch besteht ein Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung, wenn die Behinderung des Mitarbeiters dies erfordert, allerdings ebenfalls unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit. Der große Unterschied: § 164 SGB IX schützt den selbst behinderten Mitarbeiter, während der EuGH nun quasi einen „analoguen“ Schutz für betreuende Angehörige geschaffen hat – über den Umweg des Antidiskriminierungsrechts. Deutsches Recht kannte einen solchen ausdrücklichen Anspruch bisher nicht. Allerdings gibt es im Pflegezeitgesetz und Familienpflegezeitgesetz bereits Regelungen, die Arbeitnehmern bei der Pflege von Angehörigen (inkl. behinderten Kindern) zeitweise Freistellungen oder Teilzeit ermöglichen. Diese pflegezeitrechtlichen Ansprüche (bis zu 6 Monate Pflegezeit, bis zu 24 Monate Familienpflegezeit etc.) bleiben wichtig, decken aber nicht alle Konstellationen ab – vor allem nicht den Wunsch, ohne Auszeit weiterzuarbeiten, jedoch mit angepassten Bedingungen. Hier schließt das EuGH-Urteil eine Lücke: Künftig müssen Gerichte und Arbeitgeber berücksichtigen, dass eine verweigerte Anpassung diskriminierend sein kann, wenn ein Mitarbeiter dadurch wegen der Behinderung seines Kindes benachteiligt wird.
Insgesamt dürfte das Urteil den Diskriminierungsschutz im Arbeitsrecht erweitern. Arbeitgeber in Deutschland werden angehalten sein, das AGG im Lichte dieser EuGH-Entscheidung auszulegen. Denkbar ist, dass § 7 und § 3 AGG (Verbot der Benachteiligung und Begriffsbestimmung der mittelbaren Diskriminierung) so verstanden werden müssen, dass auch Konstellationen der assoziativen Diskriminierung erfasst sind. Damit stützt das Urteil auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf neuer Ebene: Es betont, dass die Betreuung eines behinderten Kindes ein schützenswertes Interesse ist, dem im Arbeitsverhältnis Rechnung zu tragen ist.
Praktische Auswirkungen für Arbeitgeber
Arbeitgeber stehen nun in der Verantwortung, proaktiv für familienfreundliche und diskriminierungsfreie Arbeitsbedingungen zu sorgen. Konkret bedeutet dies: Unternehmen sollten Prüfmechanismen einführen, um festzustellen, ob bestehende Regeln oder Arbeitszeitmodelle Mitarbeiter mit Pflege- und Betreuungsaufgaben unnötig benachteiligen. Insbesondere in folgenden Bereichen sind Anpassungen angezeigt:
- Flexible Arbeitszeitmodelle: Stellen Sie nach Möglichkeit Gleitzeit, feste Schichten auf Wunsch oder individuellen Tausch von Schichten bereit. Eine starre 9-to-5-Präsenzpflicht oder rotierende Schichtpläne könnten Eltern behinderter Kinder unverhältnismäßig belasten. Durch flexible Arbeitszeiten kann die Betreuung des Kindes z. B. am Morgen oder Nachmittag eingeplant werden, ohne dass der Arbeitgeber auf Arbeitsleistung verzichten muss.
- Homeoffice und Telearbeit: Prüfen Sie, ob die Tätigkeit des Arbeitnehmers (ganz oder teilweise) im Homeoffice erbracht werden kann. Homeoffice ermöglicht es Eltern, schneller auf unvorhergesehene Pflegebedürfnisse zu reagieren, und reduziert Ausfallzeiten. Wenn die Präsenz vor Ort nicht ständig erforderlich ist, sollte diesem Wunsch im Rahmen betrieblicher Möglichkeiten entsprochen werden. Auch mobile Arbeit kann eine Lösung sein.
- Teilzeit und Job-Sharing: Bieten Sie Teilzeitmodelle oder reduzierte Stundenzahlen an, falls die Pflege sehr zeitaufwendig ist. Im besten Fall geschieht dies befristet (z. B. für die Dauer einer akuten Pflegephase) und in Abstimmung mit dem Mitarbeiter. Auch Job-Sharing (zwei Personen teilen sich eine Vollzeitstelle) kann Betreuungszeiten erleichtern, ohne dass eine Stelle unbesetzt bleibt.
- Organisatorische Unterstützung: Betriebe sollten innerbetrieblich Vertretungsregelungen einführen, damit die Aufgaben eines betreuenden Elternteils zeitweise von Kollegen übernommen werden können, falls dieser kurzfristig ausfällt (etwa wegen Arztterminen des Kindes). Eine offene Teamkultur, in der Kolleg*innen einander unterstützen, verhindert, dass die Situation eines Elternteils zur Belastung für das gesamte Team wird. Hier ist auch das mittlere Management gefragt: Vorgesetzte sollten sensibilisiert werden, solche Bedarfe ernst zu nehmen und im Team nach Lösungen zu suchen.
- Dokumentation und Einzelfallprüfung: Arbeitgeber sollten jeden Antrag auf Anpassung (z. B. Änderung der Arbeitszeit wegen Kinderbetreuung) sorgfältig prüfen und dokumentieren, welche betrieblichen Gründe ggf. entgegenstehen. Nur so kann im Ernstfall belegt werden, dass eine Ablehnung nicht willkürlich oder diskriminierend erfolgte. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung – also Abwägung zwischen betrieblichen Interessen und den Bedürfnissen des Mitarbeiters – ist zentral. Hierbei kann man sich am Maßstab des § 164 SGB IX orientieren: Ist die gewünschte Änderung mit unverhältnismäßigem Aufwand oder Gefährdung des Betriebsablaufs verbunden? Gibt es mildere Alternativen?
Wenn Arbeitgeber diese Punkte beachten, reduzieren sie nicht nur das Risiko von Rechtsstreitigkeiten und Entschädigungsansprüchen, sondern profitieren auch von einer loyalen, motivierten Belegschaft. Zu beachten ist: Sollte ein Arbeitgeber einen zumutbaren Anpassungswunsch ohne ausreichende Gründe ablehnen, drohen Diskriminierungsbeschwerden. Nach dem AGG können im Falle einer Benachteiligung Entschädigungen fällig werden, deren Höhe sich an der Schwere der Benachteiligung orientiert (in vergleichbaren Fällen oft mehrere Monatsgehälter). Zusätzlich kann das Vertrauensverhältnis empfindlich gestört werden. Arbeitgeber tun daher gut daran, präventiv familienbewusste Personalpolitik zu betreiben – nicht nur aus Pflicht, sondern auch um qualifizierte Mitarbeiter zu halten.
Rechte und Optionen für Arbeitnehmer
Für Arbeitnehmer, die ein behindertes Kind betreuen, stärkt das EuGH-Urteil deutlich die Position zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Folgende Rechte und Möglichkeiten ergeben sich:
- Anspruch auf angemessene Vorkehrungen: Beschäftigte in dieser Situation können nun mit Rückendeckung des EU-Rechts von ihrem Arbeitgeber konkrete Erleichterungen im Arbeitsalltag verlangen. Das können z. B. feste Arbeitszeiten in einer bestimmten Schicht, Verzicht auf Rufbereitschaften, homeoffice an bestimmten Tagen oder ähnliches sein – je nachdem, was für die Betreuung erforderlich ist. Wichtig: Der Anspruch besteht im Rahmen des Zumutbaren. Mitarbeiter sollten daher möglichst konkrete Vorschläge machen, wie eine für beide Seiten tragbare Lösung aussehen kann. Das Urteil verdeutlicht, dass solche Vorschläge nicht einfach aus betrieblichen Gründen abgetan werden dürfen, sofern keine unverhältnismäßige Belastung des Arbeitgebers vorliegt.
- Berufung auf Diskriminierungsschutz: Wird ein Anpassungswunsch vom Arbeitgeber abgelehnt, obwohl er machbar erscheint, können Betroffene prüfen (lassen), ob hierin eine mittelbare Diskriminierung wegen Behinderung liegt. Gemäß AGG ist auch eine mittelbare Benachteiligung unzulässig, wenn nicht ein gerechtfertigter Grund vorliegt (§ 3 Abs. 2, § 8 AGG). Das EuGH-Urteil macht klar, dass die Behinderung des Kindes als Diskriminierungsmerkmal zählt. Als Arbeitnehmer kann man sich ausdrücklich auf das Urteil C-38/24 (EuGH) berufen, um dem Arbeitgeber die Rechtslage vor Augen zu führen. Im Zweifelsfall sollte man sich rechtlich beraten lassen – entweder durch den Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung (die zwar formal für behinderte Beschäftigte zuständig ist, aber oft generell beratend helfen kann) oder durch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht.
- Interne Beschwerdeverfahren: Größere Unternehmen haben häufig nach § 13 AGG ein betriebliches Beschwerdeverfahren eingerichtet. Betroffene sollten nicht zögern, hiervon Gebrauch zu machen. Eine formale Beschwerde wegen Benachteiligung zwingt den Arbeitgeber, den Vorgang zu prüfen. Wichtig ist, die Beschwerde schriftlich einzureichen und darin klar den Zusammenhang zwischen der abgelehnten Anpassung und der Behinderung des Kindes als Diskriminierungsgrund darzulegen. Auch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes kann beratend hinzugezogen werden.
- Rechtliche Schritte und Ansprüche: Sollte innerbetrieblich keine Lösung gefunden werden, steht der Rechtsweg offen. Nach § 15 AGG kann ein Arbeitnehmer Schadensersatz und Entschädigung verlangen, wenn er diskriminiert wurde. Hier gelten Fristen – in der Regel muss der Anspruch innerhalb von 2 Monaten nach der benachteiligenden Maßnahme schriftlich geltend gemacht werden (§ 15 Abs. 4 AGG). Eine Klage beim Arbeitsgericht wäre der nächste Schritt, falls der Arbeitgeber nicht einlenkt. Gerichte müssten aufgrund des EuGH-Urteils die nationalen Normen europarechtskonform auslegen, d. h. im Zweifel zugunsten des diskriminierten Elternteils entscheiden. In extremen Fällen, in denen eine Weiterbeschäftigung unmöglich wird, käme auch eine Kündigungsschutzklage oder sogar eine sogenannte konstruktive Kündigung (als ultima ratio) in Betracht, verbunden mit entsprechenden Ansprüchen – doch sollten Betroffene es idealerweise gar nicht so weit kommen lassen.
- Nutzung bestehender Freistellungsregelungen: Zusätzlich – oder falls eine Anpassung der Arbeitsbedingungen (vorübergehend) nicht ausreicht – können Arbeitnehmer die gesetzlichen Möglichkeiten zur Freistellung nutzen. Das Pflegezeitgesetz ermöglicht z. B. eine bis zu 6-monatige vollständige oder teilweise Freistellung von der Arbeit, wenn ein naher Angehöriger gepflegt wird (§ 3 PflegeZG). Für akut auftretende Pflegesituationen gibt es einen kurzfristigen Freistellungsanspruch bis zu 10 Arbeitstage (§ 2 PflegeZG). Das Familienpflegezeitgesetz bietet die Option, bis zu 24 Monate in Teilzeit zu arbeiten (mindestens 15 Wochenstunden), um einen Angehörigen zu pflegen. Diese Instrumente sind unbezahlte Freistellungen (teils mit zinslosem Darlehen vom Staat), die zwar keine Dauerlösung darstellen, aber in schwierigen Phasen Entlastung bieten. Arbeitnehmer sollten ihren Arbeitgeber frühzeitig auf solche Vorhaben ansprechen – oft lassen sich kreative Kombinationen finden (z. B. temporäre Teilzeit und anschließend angepasste Schichtarbeit).
- Dokumentation und Kommunikation: Ganz praktisch sollten Arbeitnehmer alle relevanten Unterlagen bereithalten, insbesondere Nachweise über die Behinderung des Kindes (z. B. Schwerbehindertenausweis, Atteste) und den konkreten Pflegeaufwand. Je transparenter die Situation dargestellt wird, desto eher ist der Arbeitgeber bereit, Unterstützung zu gewähren. Empfehlenswert ist, das Gespräch mit Vorgesetzten und HR zu suchen, ggf. begleitet durch einen Betriebsratsvertreter, und gemeinsam einen Plan zu entwickeln. Kommt es zu keiner Einigung, sollten Betroffene die Ablehnung schriftlich bestätigen lassen, um im Streitfall Beweise in der Hand zu haben.
Handlungsempfehlungen
Abschließend einige Handlungsempfehlungen auf einen Blick – für beide Seiten:
Für Arbeitgeber:
- Policy und Sensibilisierung: Etablieren Sie klare Richtlinien für den Umgang mit Mitarbeitern in Pflege- oder Betreuungssituationen. Schulen Sie Führungskräfte darin, Anfragen auf Arbeitszeitänderungen oder Homeoffice nicht vorschnell abzulehnen, sondern lösungsorientiert zu behandeln.
- Prüfschema einführen: Entwickeln Sie ein internes Prüfschema: Welche Zumutbarkeitskriterien müssen erfüllt sein, damit eine Anpassung abgelehnt werden kann? (z. B. wirtschaftliche Unvertretbarkeit, keine Vertretungsmöglichkeit, sicherheitsrelevante Gründe). So stellen Sie sicher, dass jede Entscheidung fundiert und gerechtfertigt ist – das verringert das Risiko, vor Gericht den Kürzeren zu ziehen.
- Dokumentation jeder Anfrage: Halten Sie den Vorgang jeder Anfrage schriftlich fest: Was wurde gewünscht, welche Lösung wurde angeboten, warum wurde etwas abgelehnt? Diese Dokumentation dient im Streitfall als Nachweis für Ihre ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anliegen.
- Proaktive Angebote: Warten Sie nicht nur auf Anfragen. Bieten Sie proaktiv Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf an – etwa im Mitarbeitergespräch erfragen, ob Bedarf für flexible Lösungen besteht. Ein Arbeitgeber, der aktiv Entgegenkommen signalisiert, schafft Vertrauen und bindet qualifizierte Beschäftigte langfristig.
- Einbindung von Experten: Ziehen Sie bei Unsicherheiten Experten hinzu. Der/die Betriebsrat (sofern vorhanden) kann als Vermittler helfen, und bei größeren Unternehmen sollte der Inklusionsbeauftragte oder externe Berater für Work-Life-Balance eingebunden werden, um best practices zu entwickeln. Letztlich können Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Eltern auch Teil des Diversity-Managements sein, das mittlerweile in vielen Betrieben Standard ist.
Für Arbeitnehmer:
- Informieren und Ansprüche kennen: Machen Sie sich mit Ihren Rechten vertraut. Das vorliegende EuGH-Urteil und die deutschen Gesetze (AGG, PflegeZG, SGB IX etc.) geben Ihnen ein ganzes Arsenal an Argumenten an die Hand. Scheuen Sie sich nicht, diese gegenüber Vorgesetzten anzusprechen – oft ist dem Arbeitgeber gar nicht bewusst, welche Pflichten bestehen.
- Frühzeitige Kommunikation: Sprechen Sie frühzeitig mit Ihrem Arbeitgeber, sobald absehbar ist, dass Sie Anpassungen benötigen. Legen Sie dar, warum die normale Arbeitsorganisation für Sie problematisch ist und schlagen Sie konkrete Lösungen vor. Beispiel: „Ich möchte gerne weiterhin meine volle Leistung erbringen, brauche aber eine feste Frühschicht, weil mein Kind nachmittags Therapien hat. Kollege X könnte im Gegenzug Spätschichten übernehmen.“ So zeigen Sie, dass Sie an einer für beide Seiten tragfähigen Lösung interessiert sind.
- Schriftliche Anträge stellen: Folgen Sie mündlichen Gesprächen immer mit einer schriftlichen Anfrage oder Bestätigung nach. Listen Sie auf, welche Maßnahmen Sie beantragen (z. B. Änderung der Arbeitszeit, Homeoffice, Teilzeit) und beziehen Sie sich auf die Rechtsgrundlage (z. B. AGG in Verbindung mit dem EuGH-Urteil). Eine sachliche, gut begründete schriftliche Anfrage erhöht den Druck auf den Arbeitgeber, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Sie schafft zugleich Klarheit und Beweise für den Fall, dass Sie später Ansprüche geltend machen müssen.
- Unterstützung suchen: Nutzen Sie innerbetriebliche Anlaufstellen. Betriebsrat, Personalrat oder Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte (falls vorhanden) können Sie unterstützen und ggf. mit dem Arbeitgeber verhandeln. Auch kollegial kann man sich rückversichern – vielleicht gibt es andere Mitarbeiter mit ähnlichen Situationen, mit denen man eine Interessengruppe bilden kann. Extern bieten Verbände (z. B. Selbsthilfeorganisationen für pflegende Angehörige) oder die Antidiskriminierungsstelle Beratung an.
- Notfalls: Rechte durchsetzen: Wenn gute Worte nicht fruchten, seien Sie bereit, Ihre Rechte durchzusetzen. Halten Sie Fristen ein (binnen 2 Monate Beschwerde/Anspruch anmelden) und ziehen Sie bei schweren Verstößen eine Klage in Betracht. Ein arbeitsgerichtliches Verfahren ist zwar belastend, führt aber oft schon im Vorfeld zu einer Einigung, wenn dem Arbeitgeber klar wird, dass die Rechtslage auf Ihrer Seite ist. Denken Sie daran: Das EuGH-Urteil bindet auch deutsche Gerichte – Ihre Erfolgsaussichten stehen also nicht schlecht, sofern die gewünschte Anpassung den Arbeitgeber nicht überfordert.
Das EuGH-Urteil vom 11.09.2025 (C-38/24) markiert einen wichtigen Schritt für den Diskriminierungsschutz und die Familienfreundlichkeit in der Arbeitswelt. Arbeitgeber sollten die Zeichen der Zeit erkennen und ihre Unternehmenskultur entsprechend anpassen – im eigenen Interesse und zum Wohle ihrer Mitarbeiter. Arbeitnehmer mit behinderten Kindern erhalten Rückenwind, um selbstbewusst tragfähige Lösungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege einzufordern. Im Idealfall profitieren beide Seiten: Motivierte Mitarbeiter, die Familie und Job unter einen Hut bekommen, und Arbeitgeber, die durch Loyalität und geringere Fluktuation belohnt werden. Das Urteil ist somit nicht nur juristisch bedeutsam, sondern auch ein Impuls für mehr Menschlichkeit im Arbeitsleben.