Hintergrund: Zugang zum Recht in Gefahr – warum ein neues Grundrecht?
Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) schlägt vor, ein Recht auf unabhängigen anwaltlichen Beistand ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern. Dies klingt zunächst ungewöhnlich, denn Demokratien wie Deutschland gelten als Rechtsstaaten mit garantiertem Rechtsweg. Warum also diese Forderung? – Die BRAK sieht den Zugang zum Recht und die Verteidigung von Rechten weltweit unter Druck, selbst in etablierten Demokratien. In einer Presseerklärung warnt sie, demokratische Wahlen allein seien keine ausreichende Garantie mehr dafür, dass Bürger jederzeit die selbstverständliche Möglichkeit haben, in allen Rechtsangelegenheiten einen unabhängigen Anwalt zu Rate zu ziehen.
Konkreter Anlass für diese Sorge sind internationale Entwicklungen. BRAK-Präsident Ulrich Wessels verwies beispielhaft auf die USA – einst „stolzer alter Rechtsstaat“ –, wo eine Regierung durch restriktive Maßnahmen Anwälte und sogar das Justizsystem unter Druck setzte. Solches Vorgehen widerspreche dem Kern des Rechtsstaats, der auf der Unabhängigkeit von Justiz und Anwaltschaft beruht. Autoritäre Machthaber griffen in der Geschichte regelmäßig zuerst Anwälte und Gerichte an, um den Rechtsstaat zu demontieren. Auch in anderen Ländern – etwa Türkei oder Russland – ist zu beobachten, dass unabhängige Anwälte ins Visier staatlicher Repression geraten, wenn die Rechtsstaatlichkeit bröckelt. Vor diesem Hintergrund hält die BRAK eine zusätzliche Absicherung des Rechts auf anwaltliche Unterstützung im Grundgesetz für dringend geboten.
Entwicklungen: Warum der Zugang zum Recht gefährdet ist
Die Sorge der BRAK speist sich aus verschiedenen rechtspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die den Zugang zum Recht erschweren oder die Unabhängigkeit der Anwaltschaft bedrohen könnten. Dazu zählen insbesondere:
- Autoritäre Tendenzen und politische Eingriffe: Selbst in Demokratien könnten neue Mehrheiten versuchen, unbequeme Juristen mundtot zu machen oder die Anwaltskammern unter staatliche Kontrolle zu bringen. Ein Szenario wäre etwa, dass eine Regierung die Aufsicht über die Anwaltskammern missbraucht, um kritische Stellungnahmen zu unterdrücken. Populistische Regierungen haben in anderen Ländern bereits gezeigt, dass sie zuerst die freien Advokaten und Richter angreifen, die in einer Demokratie die Macht kontrollieren.
- Einschüchterung und Diffamierung von Anwälten: Schon heute erleben Anwältinnen und Anwälte Anfeindungen, wenn sie unbequeme Mandanten vertreten. In Deutschland sorgte z. B. der Begriff „Anti-Abschiebe-Industrie“ (2018, geprägt von einem führenden Politiker) für Empörung – er unterstellte Asyl-Anwälten pauschal profitgetriebene Obstruktion und stellte sie an den Pranger. In Einzelfällen wurden die Privatadressen von Juristen publiziert, sie selbst beleidigt oder sogar bedroht. Solche Attacken erzeugen ein Klima der Angst und können Menschen davon abhalten, ihr Recht zu suchen, weil die Anwälte, die ihnen helfen, unter Druck geraten.
- Gesetzliche Eingriffe in die anwaltliche Freiheit: In den letzten Jahren gab es Regelungen, die den Anwaltsberuf tangieren, teils unbeabsichtigt mit gefährlichen Folgen. Ein Beispiel: EU-Sanktionsvorschriften 2022 verboten erstmals auch bestimmte Rechtsdienstleistungen für sanktionierte russische Stellen. Nur durch grundrechtskonforme Auslegung stellte das EU-Gericht klar, dass anwaltliche Tätigkeit zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes vom Verbot auszunehmen ist. Kritische Stimmen sehen darin dennoch einen Präzedenzfall auf schiefer Bahn, da hier die freie Advokatur in Krisenzeiten leicht eingeschränkt wurde. Ein anderes Feld ist der Kampf gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung: Immer neue Meldepflichten für Anwälte durchbrechen das anwaltliche Berufsgeheimnis. Die Summe dieser Pflichten weckt bei Mandanten die Befürchtung, ihrem Anwalt nichts Vertrauliches mehr anvertrauen zu können – mit entsprechend abschreckender („chilling“) Wirkung. Das Bundesverfassungsgericht mahnte hierzu ausdrücklich: Je mehr der Staat über vertrauliche Anwaltsgespräche potentiell wisse, desto größer die Gefahr, dass Bürger aus Angst vor staatlicher Kenntnis gar nicht erst zum Anwalt gehen.
- Digitalisierung und alternative Rechtsberatung: Zunehmend drängen Legal-Tech-Angebote und nicht-anwaltliche Rechtsdienstleister auf den Markt. Sie versprechen schnelle, automatisierte Rechtsberatung – oft günstiger als eine Anwaltskanzlei. Die BRAK sieht diesen Trend kritisch: Qualifizierte, unabhängige Rechtsberatung lasse sich nicht beliebig durch Algorithmen oder Laien ersetzen. Die Forderung, das Grundrecht explizit auf „anwaltliche Hilfe“ zu beziehen, zielt darauf ab, dass Rechtssuchende sich eines vollwertigen, besonders geschulten und unabhängigen Beistands bedienen können. In der Tat garantiert z. B. die EU-Grundrechtecharta zwar allgemein das Recht, sich beraten, verteidigen und „durch wen auch immer“ vertreten zu lassen, doch die BRAK möchte das hohe deutsche Schutzniveau – den „berufenen unabhängigen Berater und Beistand“ Rechtsanwalt – bewahren. Die Anwaltspflicht in vielen Verfahren soll kein hinderliches Monopol sein, sondern sicherstellen, dass Bürger nicht mit minderqualifizierter Beratung abgespeist werden, sondern echten Rechtsrat erhalten.
Vorschlag der BRAK: Verankerung im Grundgesetz – Wortlaut und Einordnung
Verfassungsrechtlich wäre das Recht auf Anwalt ein neues Grundrecht. Bisher enthält das Grundgesetz kein spezielles „Anwalts-Grundrecht“. Zwar gibt es die Berufsfreiheit der Anwälte (Art. 12 GG) und das Rechtsstaatsprinzip mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG), doch ein unmittelbarer Anspruch des Bürgers auf anwaltlichen Beistand lässt sich daraus nicht ableiten – das hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung klargestellt. So garantiert etwa Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör) kein allgemeines Recht auf Anwalt im Verfahren. Bislang ist der Zugang zum Rechtsanwalt hauptsächlich einfachgesetzlich gesichert, z. B. durch die Zivilprozessordnung oder Strafprozessordnung (Rechtsanwaltspflicht in bestimmten Verfahren, Pflichtverteidiger etc.), sowie durch das Rechtsanwaltsordnung (BRAO), welche Unabhängigkeit und Verschwiegenheit des Anwalts vorschreibt. Diese gesetzlichen Regelungen könnten jedoch von politischen Mehrheiten geändert werden. Genau hier will die BRAK ansetzen und ein Bollwerk in der Verfassung schaffen.
In der 169. Hauptversammlung am 19.09.2025 hat die BRAK einstimmig einen konkreten Formulierungsvorschlag beschlossen. Artikel 19 GG soll um einen neuen Absatz 5 ergänzt werden, der lautet:
„Jedermann hat das Recht, sich vor Gericht und in außergerichtlichen Rechtsangelegenheiten unabhängiger anwaltlicher Hilfe zu bedienen.“
Die Wahl von Artikel 19 GG als Standort ist bewusst getroffen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert bereits den Rechtsweg gegen Akte der öffentlichen Gewalt (also effektiven gerichtlichen Rechtsschutz) – die BRAK sieht das „Recht auf Anwalt“ als verwandtes Grundrecht, das jedoch weiter geht. Warum kein bloßer Zusatz in Abs. 4? – Die Kammer begründet, ein eigenständiger Abs. 5 schaffe systematische Klarheit: Das Recht auf anwaltliche Hilfe soll nicht nur für Klagen gegen den Staat gelten, sondern für alle gerichtlichen Verfahren (auch Zivilprozesse) und sogar für außergerichtliche Rechtsangelegenheiten. In Art. 19 Abs. 4 geht es nur um Gerichtsverfahren gegen Behörden – der neue Abs. 5 wäre demgegenüber allgemeiner und stünde jedem Rechtssuchenden in allen rechtlichen Belangen zu. Die Formulierung „bedienen“ lehnt sich an § 137 Abs. 1 StPO an (wo es heißt, ein Beschuldigter kann sich des Beistands eines Verteidigers bedienen). Wichtig war der BRAK, explizit „anwaltliche“ Hilfe zu sagen – also Hilfe durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Dadurch würden nämlich die in Deutschland seit über 100 Jahren bewährten Grundprinzipien des Anwaltsberufs mitverankert: die unabhängige, zur Verschwiegenheit verpflichtete, nur den Interessen des Mandanten dienende Advokatur. Diese Prinzipien gelten zwar schon heute (als „hergebrachte Grundsätze“ des Anwaltsberufs), aber eben nur auf gesetzlicher Ebene. Die BRAK möchte erreichen, dass diese Kernelemente anwaltlicher Unabhängigkeit verfassungsrechtlich abgesichert werden.
Zur verfassungsdogmatischen Einordnung: Das neue Grundrecht wäre in erster Linie ein Grundrecht des Rechtsuchenden (subjektives Recht jeder Person). Es hätte aber auch eine Doppelwirkung: Indem es dem Bürger erlaubt, einen unabhängigen Anwalt hinzuzuziehen, schützt es mittelbar auch den Anwalt in seiner Berufsausübung. Die BRAK betont den „dienenden Charakter“ der Anwaltsfreiheit: Die Freiheiten der Anwaltschaft (aus Art. 12 GG) sind kein Selbstzweck, sondern dienen der Rechtspflege und den Bürgerrechten. Wenn nun Jedermann ein Grundrecht auf Anwaltshilfe hat, verstärkt das zugleich die Position des Anwalts – sein Beruf steht dann im Dienst dieses Grundrechts. Das Bundesverfassungsgericht hat den Rechtsanwalt einmal den „berufenen unabhängigen Berater und Beistand“ der Rechtssuchenden genannt. Dieses hohe Qualifikations- und Vertrauensniveau möchte die BRAK nun im Rang des Grundgesetzes festschreiben.
Ein historischer Blick zeigt übrigens, dass die Idee nicht völlig neu ist: Schon bei den Beratungen zum Grundgesetz 1948/49 diskutierten die Väter und Mütter der Verfassung über eine „Beistandsgarantie“. Im Parlamentarischen Rat schlugen z. B. Abgeordnete Höpker-Aschoff und Dehler vor, ein allgemeines Recht auf Beistand in die Verfassung aufzunehmen. Man wollte offenbar vermeiden, sich nur auf strafprozessuale Verteidigerrechte zu beschränken. Dieser Vorschlag setzte sich jedoch damals nicht durch – die Gründe lagen wohl in der Konzentration auf den klassischen Gerichtsrechtsweg (Art. 19 Abs. 4) und dem Vertrauen, der freie Anwaltsberuf sei auch einfachgesetzlich ausreichend geschützt. Mehr als 70 Jahre später holt die BRAK diese Idee nun gewissermaßen zurück auf die Agenda.
Bedeutung für Bürger und Rechtsstaat: Effektiver Rechtsschutz und unabhängige Anwaltschaft
Was würde ein Grundrecht auf unabhängigen anwaltlichen Beistand konkret bedeuten? Zunächst ein starkes Signal: Es würde festschreiben, dass es zum Kern eines freiheitlichen Rechtsstaats gehört, jederzeit einen unabhängigen Rechtsanwalt zu Rate ziehen zu können. Für Bürgerinnen und Bürger hieße das: Ihr Anspruch auf effektiven Rechtsschutz würde gestärkt. Zwar konnten sie auch bisher vor Gericht ziehen, aber nun hätten sie explizit das Recht, sich durch eine unabhängige Anwältin vertreten und beraten zu lassen – und zwar in allen Rechtsangelegenheiten, vom Zivilprozess bis zur außergerichtlichen Vertragsprüfung. Kein Gesetzgeber dürfte ihnen dieses Recht mehr versagen oder unzumutbar beschränken, ohne gegen das Grundgesetz zu verstoßen. „Dies ist das Fundament unseres Rechtsstaates“, betont BRAK-Schatzmeisterin Leonora Holling – der Anspruch jedes Einzelnen auf rechtlichen Beistand korrespondiert mit der Aufgabe der Anwälte, den Mandanten zur Durchsetzung seiner Rechte zu verhelfen.
In praktischer Hinsicht könnte das Grundrecht helfen, Rechtsdurchsetzung zu verbessern. Oft ist der Rechtsweg zwar formal offen, aber ohne Anwalt de facto schwierig. Mit einer Verfassungsnorm im Rücken ließe sich etwa argumentieren, dass Gerichte niemandem den Zugang verwehren dürfen, der nur mithilfe eines Anwalts seine Rechte effektiv geltend machen kann. Es dürfte keine „Verteidigungslosigkeit“ entstehen, wie es die spanische Verfassung formuliert. Denkbar wäre auch, dass der Gesetzgeber anhand dieses Grundrechts Verfahrenshilfen ausbaut – etwa den Beratungs- und Prozesskostenhilfezugang erleichtert –, damit das Recht auf Anwalt nicht nur auf dem Papier steht. Allerdings hat die BRAK klargestellt, dass sie mit dem neuen Grundrecht keine automatischen staatlichen Finanzierungspflichten verbinden will. Es geht ihr um ein Abwehrrecht und Wertrecht, kein unmittelbarer Leistungsanspruch: Der Staat muss die freie Anwaltswahl gewährleisten, muss also z. B. dafür sorgen, dass ausreichend unabhängige Anwälte zur Verfügung stehen und niemand Bürger daran hindert, diese zu konsultieren. Aber kostenfreie Anwälte für alle verspricht die Norm ausdrücklich nicht – zusätzliche Ausgaben für die Staatskasse sind laut BRAK nicht das Ziel.
Für den Rechtsstaat insgesamt hätte die Verankerung große symbolische und tatsächliche Bedeutung. Die freie Advokatur würde als zweite Säule der Rechtspflege neben der unabhängigen Richterschaft anerkannt. Angriffe auf die Unabhängigkeit der Anwälte könnten so einfacher als verfassungswidrig abgewehrt werden. Zum Beispiel, sollte eine zukünftige Regierung versuchen, unliebsamen Gruppen den Zugang zu Anwälten zu erschweren (etwa durch Verbote oder Sanktionen gegen bestimmte anwaltliche Tätigkeit), gäbe es einen klaren Maßstab im Grundgesetz, an dem solche Maßnahmen zu messen sind. Ein populistischer Parlamentsbeschluss, der etwa bestimmten NGOs oder politischen Gegnern die anwaltliche Vertretung verwehren will, liefe von vornherein ins Leere, weil das Jedermann-Grundrecht dies verbietet. Auch indirekte Beeinträchtigungen der freien Advokatur könnte man vor das Bundesverfassungsgericht bringen. Bisher scheitern derartige Klagen oft daran, dass kein spezielles Grundrecht verletzt ist, solange z. B. nur allgemeine Berufsausübungsregeln geändert werden. Künftig ließe sich auch ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Anwaltschaft rügen, selbst wenn er nicht als klassischer Berufsrechtsakt daherkommt.
Die BRAK verspricht sich davon eine höhere „Resilienz“ des Rechtsstaats gegen Erosion. „Veränderte politische Mehrheiten“ könnten dann den Rechtsstaat nicht so leicht aushebeln, sagte Präsident Wessels im Frühjahr 2025. Er spielte darauf an, dass derzeit alle Garantien der freien Anwaltschaft (Selbstverwaltung, Unabhängigkeit, Verschwiegenheit) nur im einfachen Gesetz (BRAO) verankert sind – eine entschlossene Mehrheit im Bundestag könnte die BRAO ändern und etwa die Selbstverwaltung abschaffen. Mit einem Grundgesetzartikel würde die freie Anwaltschaft aber unter dem Schutz der Verfassung stehen, unanfechtbar durch einfache Gesetze. Das hätte auch Signalwirkung nach außen: Deutschland würde demonstrieren, dass es Lehren aus internationalen Entwicklungen zieht und den Zugang zum Recht aktiv schützt. In der Rechtsgeschichte galt schon im 19. Jahrhundert die „Freie Advokatur“ als „erste Forderung aller Justizreform“, wie der Rechtsstaats-Vordenker Rudolf von Gneist schrieb. Denn eine unabhängige Anwaltschaft sei „Vorbedingung des konstitutionellen Verfassungslebens“. Dies gilt bis heute: Ohne freie Anwälte kein echter Rechtsstaat. Das neue Grundrecht würde dieses Grundverständnis eindrucksvoll bestätigen.
Reaktionen und Ausblick: Bisherige Resonanz in Politik und Fachwelt
Die BRAK hat angekündigt, ihren Vorschlag nun in die Politik einzubringen. Konkret sollen das Forderungspapier und die vorgeschlagene GG-Formulierung den rechtspolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen, dem Rechtsausschuss des Bundestages sowie dem Bundesministerium der Justiz vorgelegt werden. Die spannende Frage lautet: Wie reagieren Gesetzgeber und Regierung? – Bislang gibt es hierzu noch keine offiziellen Stellungnahmen. Die Forderung ist frisch (Herbst 2025) und müsste für eine Umsetzung als Gesetzesänderung vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Realistisch braucht es also parteienübergreifende Zustimmung, was in der aktuellen politischen Landschaft nicht selbstverständlich ist.
Ein wenig Skepsis klingt in der juristischen Presse bereits an: So schreibt Legal Tribune Online, es sei fraglich, ob die BRAK mit dieser Initiative in der Politik Unterstützung finden kann. Schließlich bedeutet jede Grundgesetzänderung Aufwand und erfordert dringende Überzeugungsgründe. Mehrkosten für den Staat kann die BRAK als Gegenargument schon mal entkräften – sie betont, das neue Grundrecht löse keine zusätzlichen Finanzierungspflichten aus und belaste den Haushalt nicht. Trotzdem könnten Politiker fragen: „Brauchen wir das wirklich, funktioniert das System nicht auch so?“ – Die BRAK wird darauf verweisen, dass es um eine vorsorgliche Stärkung der Rechtsstaatlichkeit geht, bevor es zu spät ist. Ähnliche präventive Grundgesetzänderungen gab es etwa bei der Wehrhaftmachung der Demokratie (z. B. Verbot extremistischer Parteien in Art. 21 Abs. 2 GG). Hier ginge es nun um die Wehrhaftmachung des Rechtsstaats selbst durch Schutz seiner Organe – Anwälte und Gerichte.
In der Anwaltschaft selbst stößt die Idee naturgemäß auf Zustimmung. Neben der BRAK (als Kammerorganisation) unterstützt auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) seit längerem alle Maßnahmen, die den Rechtsstaat und die freien Berufe schützen. In den letzten Jahren haben Anwältetag und Berufsverbände immer wieder „Wahlprüfsteine“ an Parteien versandt, um Positionen zur Rechtstaatlichkeit abzufragen – die explizite Verankerung der Anwaltschaft im GG war dabei ein wiederkehrendes Anliegen. Fachmedien wie die NJW und Beck-Online haben über Wessels’ Vorstoß berichtet, was für Aufmerksamkeit in der Juristenszene sorgt. Auch Verfassungsrechtler haben das Thema aufgegriffen: Ein ausführlicher Beitrag von Maximilian Gerhold auf Verfassungsblog (April 2025) analysierte die Freie Advokatur in unruhigen Zeiten und begrüßte im Kern die Überlegung, der freien Anwaltschaft Verfassungsrang zu geben. Dabei wurde jedoch auch diskutiert, ob damit wirklich „alles gelöst“ wäre – denn die Selbstverwaltung der Anwaltschaft (also die Kammern) bliebe weiterhin nicht ausdrücklich geschützt. Gerhold schlägt vor, man könnte sogar erwägen, in das Grundrecht die Worte „Hilfe der unabhängigen und selbstverwalteten Anwaltschaft“ aufzunehmen, um klarzustellen, dass nicht nur der einzelne Anwalt, sondern die Institution Anwaltschaft als Ganzes vom Staat unabhängig sein muss. Solche Details dürften in einer legislativen Debatte noch diskutiert werden.
Politische Parteien haben sich zum jetzigen Zeitpunkt zurückhaltend gezeigt. Es ist möglich, dass in kommenden Koalitionsverhandlungen oder angesichts des nächsten Bundestagswahlkampfs 2025/26 das Thema Zugang zum Recht auf die Agenda kommt. Aspekte wie Digitalisierung der Justiz, Legal Tech und Bürgernähe des Rechts sind bereits politisch aktuell – hier könnte die BRAK-Forderung andocken, indem sie ein Grundrecht auf Rechtsbeistand als modernen Garant für Bürgerrechte verkauft. Ob das gelingt, bleibt abzuwarten. In anderen Bereichen hat die Politik zuletzt durchaus Grundgesetzänderungen vorgenommen, um wichtige Anliegen abzusichern (man denke an den Klimaschutzauftrag in Art. 20a GG oder die Aufnahme der Kinderrechte, die diskutiert wurde). Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Demokratie stehen angesichts globaler Entwicklungen hoch im Kurs. Insofern stehen die Chancen nicht schlecht, dass das Anliegen zumindest ernsthaft geprüft wird.
Blick über den Tellerrand: Vergleichbare Regelungen in Europa und der Welt
Die Idee, ein Recht auf anwaltlichen Beistand oder den Status der Anwaltschaft verfassungsrechtlich zu schützen, ist nicht völlig beispiellos. Ein Blick in internationale Regelwerke und ausländische Verfassungen zeigt teils ähnliche Ansätze:
- Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK): Die EMRK enthält kein ausdrückliches Anwalt-Grundrecht in allgemeinen Worten, garantiert aber in Art. 6 Abs. 3 (für Strafverfahren) das Recht jedes Angeklagten auf Verteidigung, und zwar auch durch einen Verteidiger. Wörtlich heißt es, der Angeklagte habe das Recht, sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen; falls ihm die Mittel fehlen, ist ihm ein Pflichtverteidiger unentgeltlich beizuordnen, soweit es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Darüber hinaus verbürgt Art. 6 Abs. 1 EMRK ein faires Verfahren und implizit das Recht, mit anwaltlichem Beistand vor Gericht aufzutreten. Art. 13 EMRK (Recht auf effektiven Rechtsbehelf) verlangt von den Staaten, wirksame Beschwerdemöglichkeiten zu schaffen – was zwar keinen Anwalt explizit nennt, aber in der Auslegung oft bedeutet, dass rechtlicher Rat und Vertretung faktisch verfügbar sein müssen.
- Grundrechtecharta der Europäischen Union (EU-GRC): Die EU-Charta, die seit 2009 verbindlich ist, geht in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 schon einen Schritt in Richtung BRAK-Forderung. Dort steht: „Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.“. Zudem garantiert Satz 3 Bedürftigen Prozesskostenhilfe. Diese Formulierung gewährt also jedem das Recht auf rechtlichen Beistand vor Gericht, bleibt jedoch offen, wer diesen Beistand leisten darf. Genau hier setzt ja die Kritik der BRAK an: Die EU-Charta spricht nicht ausdrücklich von zugelassenen Rechtsanwälten, sondern lässt theoretisch auch andere Beistände zu. Nichtsdestotrotz ist Art. 47 GRC ein wichtiger bestehender Grundrechtsanker auf europäischer Ebene, der dem deutschen Vorstoß inhaltlich nahekommt und ihn vielleicht beflügeln kann.
- Spanische Verfassung: Spanien garantiert in Art. 24 der 1978 verabschiedeten Verfassung umfassende justizielle Grundrechte. Art. 24 Abs. 1 sichert das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz ohne „Rechtsverweigerung“ (tutela efectiva). Besonders relevant ist Absatz 2, der ausdrücklich jedem das Recht auf Verteidigung und auf Beistand durch einen Rechtsanwalt zusichert. Wörtlich: „Jede Person hat ferner das Recht auf den gesetzlich bestimmten Richter, auf die Verteidigung und Vertretung durch einen Rechtsanwalt,…“. Dies gilt für alle Verfahrensarten, nicht nur strafrechtlich. Spanien kennt also bereits das, was in Deutschland nun erwogen wird: einen generellen Verfassungsanspruch auf anwaltlichen Rechtsbeistand im Verfahren. Ergänzend wird in Art. 24 auch festgelegt, dass niemand wehrlos („verteidigungslos“) gemacht werden darf – ein starkes Prinzip, das den Zugang zum Anwalt einschließt. Dieses Beispiel zeigt, dass ein demokratischer Rechtsstaat durchaus solch ein Recht in die Verfassung schreiben kann, ohne dass es das System stört – im Gegenteil, es untermauert die Fair-Trial-Garantien.
- Italienische Verfassung: Auch Italien stellt die Rechte der Verteidigung unter besonderen Schutz. Art. 24 der Verfassung (1948) bestimmt: „Die Verteidigung ist in jeder Phase und Instanz des Verfahrens ein unverletzliches Recht.“. Jedermann kann zur Wahrung seiner Rechte vor Gericht ziehen (Klage erheben), und Mittellosen werden die notwendigen Mittel für Klage und Verteidigung vom Staat garantiert. Italien verknüpft also das Recht auf anwaltliche Vertretung eng mit dem Prinzip der Unverletzbarkeit – kein Gesetzgeber darf die Verteidigungsmöglichkeiten beschneiden. Zudem ist bemerkenswert, dass die Verfassung hier bereits eine soziale Komponente enthält: Bedürftige haben Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Anwaltsfinanzierung. Insofern geht die italienische Regelung teils sogar weiter als das, was die BRAK in Deutschland fordert (dort soll ja keine neuen Leistungsansprüche entstehen), aber der Grundgedanke – Verteidigerbeistand als Verfassungsrecht – ist derselbe.
- Andere nationale Verfassungen: Weltweit finden sich nur wenige Verfassungen, die die Anwaltschaft explizit erwähnen – meistens begnügt man sich mit allgemeinen Fair-Trial-Klauseln. Eine Ausnahme ist z. B. Portugal: Die portugiesische Verfassung enthält in Art. 208 eine Bestimmung zur rechtlichen Vertretung. Dort heißt es, das Gesetz gewährleiste, dass Rechtsanwälte, die für die Ausübung ihres Mandats erforderlichen Immunitäten genießen, und die Anwaltstätigkeit sei als wesentlicher Bestandteil der Rechtspflege zu regeln. Damit wird die Unabhängigkeit und besondere Rolle der Anwaltschaft anerkannt. Ein anderes Beispiel ist Bulgarien: Art. 134 der bulgarischen Verfassung stellt fest, dass die Anwaltschaft frei, unabhängig und sich selbst verwaltend ist. Hier wird also die Institution der Anwaltschaft unter Schutz gestellt – ähnlich wie es die BRAK für Deutschland anstrebt, nur über den Umweg eines subjektiven Rechts des Bürgers. In Frankreich gibt es keine ausdrückliche Verfassungsnorm zur Anwaltschaft im Text von 1958; allerdings haben dort Gerichte aus dem Recht auf ein faires Verfahren (präambuläres Verweis auf die Erklärung der Menschenrechte) abgeleitet, dass der Zugang zum Anwalt in wichtigen Verfahrensstadien gewährleistet sein muss. Großbritannien wiederum kennt keine kodifizierte Verfassung, aber ein constitutional principle ist dort die Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law), zu der auch gehört, dass jeder sich anwaltlich vertreten lassen kann – dieses Prinzip musste etwa in jüngerer Zeit gegen Einschränkungen der Rechtshilfe verteidigt werden.
- Deutsche Landesverfassungen: Interessanterweise hat bereits ein deutsches Bundesland eine ähnliche Garantie in seine Verfassung aufgenommen. Die Verfassung des Freistaats Thüringen normiert in Art. 88 Abs. 1 Satz 2: „Jeder kann sich eines rechtlichen Beistands bedienen.“. Dort steht dieser Satz im Anschluss an das Recht auf rechtliches Gehör. Thüringen wollte damit klarstellen, dass Bürger im gerichtlichen Verfahren das Recht auf einen Beistand nach Wahl haben (was natürlich typischerweise ein Rechtsanwalt ist). Diese Landesregelung hat eher deklaratorische Bedeutung, da die Prozessordnungen bundesrechtlich festliegen – doch sie unterstreicht, dass man einen solchen Satz problemlos in eine Verfassung integrieren kann, um den Rechtsstaatsgedanken zu verdeutlichen.
Zusammenfassend zeigt der Vergleich: Die Forderung der BRAK ist durchaus im Einklang mit europäischen Rechtsgrundsätzen. Elemente des vorgeschlagenen Grundrechts finden sich verstreut in Menschenrechtsverträgen und manchen Verfassungen – sei es als Teil der Fair-Trial-Garantie (Recht auf Verteidiger), als institutionelle Garantie (freie Advokatur) oder als subjektives Recht (Anspruch auf Anwalt). Deutschland würde mit einer Verankerung des Rechts auf unabhängigen anwaltlichen Beistand im Grundgesetz eine Vorreiterrolle übernehmen, indem es all diese Aspekte bündelt: effektiver Rechtsschutz, individuelle Verteidigerrechte und Unabhängigkeit der Anwaltschaft – all das vereint in einem neuen Grundrecht. Für die Bürger wäre das eine zusätzliche Versicherung, im Ernstfall nicht allein gegen die Mühlen der Justiz stehen zu müssen, sondern sich auf einen unabhängigen Beistand stützen zu dürfen. Und für den Rechtsstaat wäre es ein klares Bekenntnis: Ohne unabhängige Anwälte keine Gerechtigkeit. Diese Maxime stünde dann, für alle sichtbar, im obersten Rechtsdokument unseres Landes.