Ein Rechtsanwalt legte – um „die letzte Möglichkeit, gegen das Urteil vorzugehen, nicht auch noch zu verlieren“ – ohne Abstimmung mit seinem bedürftigen Mandanten Berufung gegen ein für diesen nachteiliges Urteil ein. Das Kammergericht (KG Berlin) hat ihm dafür die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels auferlegt (Beschluss vom 17.09.2025, Az. 20 U 78/25). Der Fall verdeutlicht die besonderen anwaltlichen Sorgfaltspflichten in Mandaten mit Prozesskostenhilfe (PKH) und die Konsequenzen eigenmächtigen Handelns ohne Mandanten-Rücksprache.
Hintergrund des Falles
Der mittellose Mandant hatte den erstinstanzlichen Prozess mit PKH geführt und sollte laut Urteil des LG Berlin über 6.000 € zahlen. Sein Anwalt sah jedoch Chancen, das Blatt in der Berufung zu wenden, und schrieb dem Mandanten, man müsse über eine Berufung nachdenken. Als der Mandant nicht reagierte und auch telefonisch nicht zu erreichen war, legte der Anwalt – gestützt auf die ihm erteilte Prozessvollmacht – eigenmächtig Berufung ein, um die Frist zu wahren. Für den Mandanten stellte dies einen „erheblichen Vertrauensbruch“ dar, denn er war weder informiert worden noch über Erfolgsaussichten oder Kostenrisiken aufgeklärt. Der Mandant wandte sich noch vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das Gericht und teilte mit, er habe den Anwalt angewiesen, die Berufung zurückzunehmen. Der Anwalt kam dieser Weisung nach. Das Kammergericht stellte daraufhin – nach Anhörung des Anwalts – den Verlust des Rechtsmittels fest und legte dem Anwalt die Kosten des Berufungsverfahrens auf.
Sorgfaltspflichten des Anwalts in PKH-Mandaten
Der Beschluss des KG führt eindrücklich vor Augen, welche Pflichten Rechtsanwältinnen bei Prozesskostenhilfe-Mandaten haben. Zwar war der Anwalt hier aufgrund der ursprünglichen Vollmacht grundsätzlich berechtigt, den Mandanten auch in der Berufungsinstanz zu vertreten. Allerdings hat er nach Auffassung des Gerichts die ihm erteilte Vollmacht missbraucht, indem er ohne vorherigen PKH-Antrag Berufung einlegte und den mittellosen Mandanten damit einem erheblichen Kostenrisiko aussetzte. Es wäre jedoch „gerade seine Pflicht“ gewesen, auf einen kostengünstigeren Weg hinzuweisen – nämlich zunächst Rücksprache mit dem Mandanten zu halten und rechtzeitig weitere Prozesskostenhilfe für die zweite Instanz zu beantragen.
Berufsrechtlich sind Anwältinnen und Anwälte besonders verpflichtet, Mandate mittelloser Parteien gewissenhaft zu führen. Die §§ 48–49a BRAO begründen insoweit einen Kontrahierungszwang für Fälle der Beiordnung (PKH), Pflichtverteidigung und Beratungshilfe. Wer ein PKH-Mandat übernimmt, muss den Mandanten über die Finanzierung des Verfahrens und vorhandene Unterstützungsinstrumente wie PKH umfassend beraten. Gemäß § 114 ZPO kann einer bedürftigen Partei Prozesskostenhilfe bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Es gehört zu den Sorgfaltspflichten des Anwalts, einen solchen PKH-Antrag rechtzeitig zu stellen, bevor ein kostenauslösendes Rechtsmittel eingelegt wird – vor allem, wenn der Mandant die Kosten mangels eigener Mittel sonst nicht tragen könnte.
Im vorliegenden Fall hätte ein rechtzeitig gestellter PKH-Antrag für die Berufungsinstanz die Wahrung der Berufungsfrist ermöglicht, ohne dass sofort Kosten anfielen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH beeinflusst ein PKH-Gesuch die Frist nämlich nicht nachteilig: Bis zur Entscheidung über den PKH-Antrag gilt der Rechtsmittelführer als unverschuldet verhindert, sodass die Frist faktisch gehemmt ist. Dieses Prozedere gehört – so das KG – zum „prozessualen Basiswissen“ eines Rechtsanwalts. Der Anwalt hätte also wissen müssen, dass er die „letzte Möglichkeit, gegen das Urteil vorzugehen“ nicht verlor, wenn er zunächst auf PKH setzte. Sein Argument einer lediglich fristwahrenden Berufung griff daher nicht durch. Vielmehr war das Vorgehen ohne PKH-Antrag und ohne Mandanten-Okay ein Verstoß gegen die gebotene Sorgfalt.
Kostenfolge: Anwalt als Veranlasser des Verfahrens
Normalerweise gilt im Zivilprozess der Grundsatz des § 91 Abs. 1 ZPO: Die unterliegende Partei trägt die Prozesskosten. Im Berufungsverfahren bestimmt § 97 ZPO Entsprechendes für den erfolglosen Rechtsmittelführer. Vorliegend wich das Gericht jedoch von der üblichen Kostenverteilung ab und nahm den Anwalt selbst in die Pflicht. Das KG wandte – analog § 91 ZPO und § 97 ZPO – das Veranlasserprinzip an. Danach werden die Kosten demjenigen Beteiligten auferlegt, der die Kosten verursacht hat. Es ist anerkannt, dass in Fällen fehlender, überschrittener oder missbrauchter Vollmacht der Vertreter selbst als Kostenschuldner haften muss.
Im vorliegenden Fall war der Anwalt alleiniger Veranlasser der Berufung: Der Mandant hatte keinerlei Anlass für ein Rechtsmittel gegeben. Aus Gründen der Billigkeit und Prozessökonomie erschien es dem Gericht geboten, den Anwalt – und nicht den Mandanten – mit den Kosten der zurückgenommenen Berufung zu belasten. Konkret bedeutete das für den Anwalt, dass er sämtliche Gerichts- und Anwaltskosten des zweiten Rechtszugs aus eigener Tasche tragen musste. Auch andere Gerichte haben in vergleichbaren Situationen eine unmittelbare Kostenhaftung des Rechtsanwalts angenommen, wenn dieser sehenden Auges ein aussichtsloses oder nicht abgesprochenes Verfahren im Namen eines mittellosen Mandanten führt. Das Kostenrisiko kann sich für den Anwalt also drastisch realisieren, wenn er ohne Mandantenmandat agiert.
Weitere haftungsrechtliche Konsequenzen
Neben der sofortigen Kostentragung drohen dem Anwalt bei eigenmächtigem Vorgehen ohne Mandantenwillen weitere Haftungsfolgen. Die Beziehung zwischen Anwalt und Mandant ist durch ein besonderes Treueverhältnis geprägt. Der Anwalt schuldet eine Vertretung, die den Interessen des Mandanten verpflichtet ist (Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB). Ein eigenmächtiges Handeln gegen oder ohne den Willen des Mandanten stellt regelmäßig eine Pflichtverletzung im Rahmen des Anwaltsvertrags dar. Daraus kann zum einen folgen, dass der Anwalt keinen Vergütungsanspruch für seine unerbetene Tätigkeit hat. Zum anderen macht er sich unter Umständen schadensersatzpflichtig, wenn dem Mandanten durch das Fehlverhalten ein Schaden entsteht. Hätte im beschriebenen Fall das Gericht den Anwalt nicht zum Kostenträger gemacht, so wäre der Mandant selbst mit erheblichen Kosten belastet worden – ein Schaden, den er gegenüber dem Anwalt als Vermögensschaden geltend machen könnte. Bereits der Mandant im KG-Fall fühlte sich erheblich hintergangen und nicht aufgeklärt; ein solcher Vertrauensverlust kann auch die Grundlage für Schadensersatz wegen Verletzung der Aufklärungspflicht sein.
Zudem können berufsrechtliche Konsequenzen drohen: Ein Verstoß gegen die anwaltlichen Pflichten, etwa die Informations- und Beratungspflicht (§ 49a BRAO) oder das Verbot, gegen den eindeutigen Mandantenwillen vorzugehen, kann zu berufsrechtlichen Maßnahmen durch die Rechtsanwaltskammer führen. Im schlimmsten Fall gefährdet ein solches Verhalten die Zulassung des Rechtsanwalts, insbesondere wenn sich herausstellt, dass er wiederholt pflichtwidrig handelt.
Praxistipps: Wie lassen sich solche Fehler vermeiden?
Um Situationen wie im KG-Fall zu vermeiden, sollten Anwältinnen und Anwälte folgende Grundsätze beherzigen:
- Immer Rücksprache halten: Vor der Einlegung eines Rechtsmittels muss der Mandant konsultiert werden. Holen Sie eine eindeutige Weisung ein, ob Berufung oder ein anderes Rechtsmittel gewünscht ist. Ohne Mandantenwillen sollte kein kostenauslösendes Verfahren begonnen werden.
- Prozesskostenhilfe nutzen: Ist der Mandant mittellos oder hat er bereits PKH erhalten, stellen Sie rechtzeitig einen PKH-Antrag für die nächste Instanz statt sofort Berufung einzulegen. Ein fristgemäßer PKH-Antrag wahrt die Rechtsmittelfrist, ohne unmittelbar Kosten zu verursachen. So schützen Sie den Mandanten vor finanziellem Risiko und verschaffen Zeit, die Erfolgsaussichten zu prüfen.
- Aufklärung über Kostenrisiken: Klären Sie Ihren Mandanten verständlich über die Erfolgsaussichten und Kosten des Rechtsmittels Dazu gehört der Hinweis, welche Kosten im Worst Case (z. B. bei Unterliegen oder Rücknahme der Berufung) entstehen und wer sie tragen müsste. Gerade PKH-Mandanten müssen wissen, dass ohne erneute Bewilligung von PKH das Kostenrisiko bei ihnen liegt.
- Dokumentation der Kommunikation: Halten Sie die Beratung und die Weisungen des Mandanten schriftlich Eine schriftliche Bestätigung (z. B. E-Mail oder Brief), ob der Mandant ein Rechtsmittel wünscht oder darauf verzichtet, kann im Streitfall entscheidend sein. So können Sie im Nachhinein nachweisen, dass Sie den Mandanten informiert und seine Entscheidung respektiert haben.
- Keine eigenmächtigen Rechtsmittel: Lassen Sie sich nicht von eigenen Einschätzungen dazu verleiten, ohne Mandat zu handeln. Auch wenn Sie vom Erfolg einer Berufung überzeugt sind – die Entscheidung hierüber liegt beim Mandanten. Die allgemeine Prozessvollmacht berechtigt zwar formal zu Prozesserklärungen, entbindet Sie aber nicht von der Pflicht zur loyalen Interessenwahrung. Eigenmächtiges Vorgehen untergräbt das Vertrauensverhältnis und kann – wie gezeigt – auf den Anwalt selbst zurückfallen.
- Fristmanagement bei Unerreichbarkeit: Wenn der Mandant vor Fristablauf nicht erreichbar ist, gilt es besonnen vorzugehen. Verzichten Sie auf vorschnelle kostenpflichtige Schritte. Nutzen Sie stattdessen Alternativen: Beantragen Sie, falls zulässig, Fristverlängerung oder stellen Sie einen PKH-Antrag, um die Frist zu sichern. Sollten solche Schritte nicht möglich sein, erwägen Sie, im Zweifel keine Berufung einzulegen – denn ein versäumtes Rechtsmittel ist meist weniger gravierend als ein ungewolltes, das Kosten auslöst. Im Nachgang kann der Mandant immer noch entscheiden, ob er etwa Wiedereinsetzung beantragen will, falls er unverschuldet die Frist versäumt hat.
Anwaltliche Sorgfaltspflichten verlangen insbesondere in PKH-Fällen ein enges Zusammenspiel mit dem Mandanten und umsichtiges Kostenmanagement. Die Entscheidung des KG Berlin vom 17.09.2025 mahnt deutlich: Wer ohne Rücksprache und PKH-Absicherung ein Rechtsmittel einlegt, riskiert nicht nur das Mandatsverhältnis, sondern unter Umständen auch den eigenen Geldbeutel. Im Zweifel gilt: lieber einmal mehr mit dem Mandanten reden und die formalen Möglichkeiten (wie PKH) ausschöpfen, als eigenmächtig handeln – zum Wohle des Mandanten und zum eigenen Schutz.