LSG Hessen: Unfall eines jugendlichen Fußballers als Arbeitsunfall anerkannt

27. September 2025 -

Ein 15-jähriger Nachwuchsspieler, der sich in einem Leistungszentrum eines Bundesliga-Vereins beim Fußballspielen verletzte, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Das hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) in Frankfurt am Main entschieden. Der Fördervertrag, den der Jugendliche mit dem Verein geschlossen hatte, wertete das Gericht als Arbeitsverhältnis – weit mehr als nur eine Freizeitbetätigung. Die Folge: Die erlittene Verletzung bei einem Freundschaftsspiel wurde als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 8 Abs. 1 SGB VII) anerkannt.

Hintergrund: Verletzung eines U16-Vertragsspielers

Ein 2006 geborener Jugendlicher hatte im Juli 2021 einen Fördervertrag als Vertragsspieler in einem Nachwuchsleistungszentrum eines Fußball-Bundesligavereins unterschrieben. Er zog dafür ins Internat des Vereins und stellte seinen Tagesablauf ganz in den Dienst des Sports. Der Vertrag verpflichtete ihn unter anderem dazu, an allen Trainings, Spielen, Lehrgängen und Besprechungen der U16-Mannschaft teilzunehmen. Außerdem war er angewiesen, im Krankheitsfall umgehend den Vereinsarzt aufzusuchen, sich verordnenen Behandlungen zu unterziehen und spätestens am dritten Tag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung vorzulegen. Weitere Vertragsklauseln regelten, dass er die vom Verein gestellte Sportkleidung mit Sponsoren-Aufdruck zu tragen hat und über interne Angelegenheiten des Vereins Stillschweigen zu bewahren hat. Im Gegenzug erhielt der Jugendliche ein monatl. Entgelt (Grundgehalt) von anfangs 950 € brutto (einkommensteuer- und sozialabgabenpflichtig) plus Prämien für bestimmte Einsätze und eine Reisekostenpauschale. Für die Unterbringung im Internat wurde ein Teil des Gehalts einbehalten. Urlaubstage waren – wie in einem normalen Arbeitsverhältnis – vertraglich geregelt (30 Werktage pro Jahr). Nebenverdienste des jungen Spielers waren nur mit vorheriger Zustimmung des Vereins erlaubt. Mit all diesen Rechten und Pflichten ging der Fördervertrag deutlich über eine bloße Vereinsmitgliedschaft hinaus.

Ende Juli 2021, nur wenige Wochen nach Vertragsbeginn, brach sich der 15-Jährige bei einem Vorbereitungsspiel (U16-Freundschaftsspiel) das linke Schlüsselbein. Die zuständige Berufsgenossenschaft (Unfallkasse) verweigerte die Anerkennung als Arbeitsunfall und damit jegliche Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Zur Begründung stellte sie darauf ab, der Spieler habe „in seiner Freizeit“ Fußball gespielt. Er habe die sportliche Betätigung aus privaten Gründen verfolgt – nämlich um seine eigene Leistung zu steigern und sich für eine spätere Profikarriere zu empfehlen. Ein solches Training im Jugendbereich sei kein Beschäftigungsverhältnis im Sinne der Sozialgesetzgebung, sondern Freizeitgestaltung; folglich bestehe kein Versicherungsschutz wie bei Arbeitnehmern.

Der verletzte Spieler legte hiergegen Widerspruch und schließlich Klage ein. Das Sozialgericht Frankfurt am Main gab ihm zunächst Recht und verpflichtete die Unfallversicherung zur Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall. Die Versicherung legte Berufung ein – doch auch in zweiter Instanz vor dem LSG Hessen bekam der Spieler Recht.

Fördervertrag = Arbeitsverhältnis: Mehr als nur ein Hobby

Der 9. Senat des LSG Hessen bestätigte, dass der Jugendliche als Beschäftigter kraft Gesetzes (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) unfallversichert war. Entscheidend war das Gesamtbild der vertraglichen Vereinbarungen und der tatsächlichen Umstände. Schon die äußere Form und Sprache des Vertrages deuteten auf ein Arbeitsverhältnis hin: Begriffe wie „Vertragsspieler“, „Arbeitsverhältnis“, geregelter Urlaub und Entgelt sprechen eine klare Sprache. Vor allem aber hatte der Spieler umfangreiche weisungsgebundene Pflichten, die deutlich über das hinausgingen, was einfache Vereinsmitglieder freiwillig leisten:

  • Trainings- und Spielpflicht: Der Jugendliche musste an sämtlichen Trainingseinheiten, Spielen, Lehrgängen und teambezogenen Veranstaltungen des Vereins teilnehmen – je nach Nominierung sogar ohne Garantie auf Einsatzzeit. Ort, Zeit und Ablauf bestimmten Verein bzw. Trainer. Das entspricht der Eingliederung in eine betriebliche Organisation mit Weisungsrecht.
  • Kleidung und Auftreten: Er hatte die vom Verein gestellte Sportkleidung mit Vereinslogo und Sponsorenwerbung zu tragen und generell die Vorgaben des Vereins zu befolgen. Auch öffentliche Äußerungen über den Spiel- oder Trainingsbetrieb waren nur mit vorheriger Zustimmung des Vereins zulässig.
  • Verhalten bei Krankheit/Verletzung: Der Vertrag verpflichtete ihn, bei Verletzungen unverzüglich den Vereinsarzt (oder einen vom Verein benannten Arzt) aufzusuchen und sich an empfohlene Therapien zu halten. Jede Arbeitsunfähigkeit musste sofort gemeldet und binnen drei Tagen mit Attest nachgewiesen werden. Solche strengen Melde- und Behandlungspflichten gibt es typischerweise in Arbeitsverhältnissen, nicht bei Hobbysportlern.
  • Geheimhaltungs- und Loyalitätspflichten: Der Spieler musste über interne Angelegenheiten des Vereins Stillschweigen wahren – und zwar bis fünf Jahre nach Vertragsende. Zudem räumte er dem Verein umfassende Vermarktungsrechte an seiner Person ein (z.B. kommerzielle Nutzung von Name/Bild), und er durfte Nebeneinkünfte (etwa aus Interviews oder Nebenjobs) nur mit Einwilligung des Vereins erzielen. Solche Pflichten und Einschränkungen sind untypisch für bloße Freizeit-Mitglieder, aber üblich in Arbeitsverhältnissen oder Profiverträgen.

Diese gesamtvertragliche Eingliederung und das Weisungsrecht des Vereins zeigen, dass der Jugendliche nicht frei wie ein Amateur handelte, sondern persönlich abhängig wie ein Arbeitnehmer tätig war. Auch das steuer- und sozialversicherungspflichtige Gehalt belegte den Status: Statt einer bloßen Aufwandsentschädigung (wie z.B. eine geringe Übungsleiterpauschale) erhielt er eine regelmäßige Vergütung, die deutlich darüber lag. Das LSG wertete die Bezahlung als ein wesentliches Indiz für ein Beschäftigungsverhältnis. Denn: Wer nur aus Eigennutz ein Training absolviert, würde dafür bezahlen – nicht umgekehrt dafür bezahlt werden. Hier erhielt der Jugendliche aber Lohn dafür, dass er Fußball spielte und trainierte. Damit diente seine Tätigkeit erkennbar auch den Zwecken des Vereins, nicht nur seinen eigenen.

Das Gericht ließ das Argument der Unfallkasse nicht gelten, der Spieler habe primär „eigene Zwecke“ (nämlich seine sportliche Entwicklung) verfolgt. Selbst wenn der Jugendliche sich dabei auch selbst verwirklichte, schließt das ein Beschäftigungsverhältnis nicht aus. Maßgeblich war vielmehr, dass seine Handlungstendenz zum Unfallzeitpunkt darauf gerichtet war, dem Unternehmen (dem Verein) zu dienen. Er trainierte und spielte ja nicht allein zum Spaß, sondern weil es seine vertragliche Hauptpflicht gegenüber dem Verein war. Die LSG-Richter verwiesen in diesem Zusammenhang auch auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts: Auch bei Profisportlern steht persönliche Erfüllung dem Arbeitnehmerstatus nicht entgegen, solange die Tätigkeit (hier: das Fußballspiel) zumindest auch im Interesse des „Arbeitgebers“ erfolgt.

Jugendförderung = Berufsausbildung zum Lizenzspieler

Die beklagte Unfallversicherung hatte behauptet, intensives Jugendtraining sei keine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung – der Verein habe aus den Einsätzen des 15-Jährigen noch keinen konkreten Nutzen ziehen können. Dem erteilte das LSG eine Absage. Die Richter stellten klar, dass die Nachwuchsförderung im Leistungszentrum einem Ausbildungsgang entspricht: Die Tätigkeit des Jugendlichen wurde faktisch wie eine Berufsausbildung zum Lizenzfußballspieler behandelt. Zahlreiche spätere Profis hätten in ihrer Jugend genau diesen Weg über ein Vereinsinternat und Fördervertrag genommen. Eine andere Art, Profi-Fußballer auszubilden, gibt es nicht – kein klassischer „Ausbildungsberuf“, aber dennoch ein geregelter Qualifizierungsprozess.

Für eine Ausbildung typisch ist auch, dass der „Ausbilder“ anfangs mehr investiert als er unmittelbar zurückbekommt. Auch das spreche nicht gegen ein Beschäftigungsverhältnis, so das Gericht. Der Verein leistete hier zwar finanzielle und personelle Förderung, aber mit Blick auf die Zukunft: Im Erfolgsfall sollte der Nachwuchsspieler später als Profi dem Verein Erfolge und Einnahmen bringen oder als talentierter Spieler Transfererlöse erzielen. Dieser betriebliche Zweck – die Investition in einen zukünftigen Lizenzspieler – zeigt, dass der Jugendliche nicht bloß aus Eigeninteresse kickte, sondern Teil einer organisierten Nachwuchsstrategie des Clubs war.

Auch der Verweis des Unfallversicherers auf DFB-Statuten (wonach U16-Spieler noch keine Spielerlaubnis für Herren- oder Lizenzmannschaften erhalten) überzeugte das Gericht nicht. Diese formale Altersgrenze ändert nichts an den tatsächlichen Verhältnissen: Der Spieler stand unter Vertrag und befand sich mitten in der Saison, in der er 16 Jahre alt werden würde. Ob er zum Unfallzeitpunkt schon für die erste Mannschaft spielberechtigt war oder nicht, war unerheblich – entscheidend war die Abgrenzung zwischen bloßem Vereinsamateur und offiziellem Vertragsspieler. Und letzterer war er unzweifelhaft aufgrund des Fördervertrags.

Jugendarbeitsschutz: Verbotene Kinderarbeit? – Versicherungsschutz bleibt trotzdem

Ein weiterer Einwand der Unfallkasse betraf das Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG). Der Spieler war 15 Jahre alt und unterlag in Nordrhein-Westfalen noch der zehnjährigen Vollzeitschulpflicht – damit galt er rechtlich als „Kind“ im Sinne des JArbSchG (Kinder sind alle noch schulpflichtigen Minderjährigen unter 18). Nach § 5 Abs. 1 JArbSchG ist die Beschäftigung von Kindern grundsätzlich verboten. Eine Ausnahme (leichte Arbeiten gem. § 5 Abs. 3 JArbSchG) sah die Unfallkasse hier nicht, da leistungsorientierter Fußballsport keine „leichte Tätigkeit“ sei. Folglich, so argumentierte die Versicherung, könne der Fördervertrag gar kein gültiges Arbeitsverhältnis begründen – der Verein dürfe einen 15-Jährigen im Grunde nicht als Arbeitnehmer einsetzen.

Das LSG Hessen musste nicht entscheiden, ob der Fördervertrag gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz verstoßen hat oder nicht. Denn selbst falls der Vertrag verbotswidrig gewesen sein sollte, ändere dies nichts am Unfallversicherungsschutz des Spielers. Die gesetzliche Unfallversicherung greift nämlich auch bei unerlaubten Beschäftigungen. Dies ist ausdrücklich in § 7 Abs. 2 SGB VII festgelegt: „Verbotswidriges Handeln schließt einen Versicherungsfall nicht aus.“ Mit anderen Worten: Auch „Schwarzarbeit“ oder unerlaubte Kinderarbeit ist unfallversichert – der Versicherungsträger kann sich nicht darauf berufen, dass das Arbeitsverhältnis unwirksam sei, um Leistungen zu verweigern. Der Schutzzweck der Unfallversicherung (Verletzte finanziell abzusichern) überwiegt hier mögliche Verbote des Arbeitsrechts. Im Ergebnis lief es nach Ansicht des Gerichts dem Jugendarbeitsschutz sogar zuwider, wenn man einen minderjährigen Beschäftigten wegen eines etwaigen Verstoßes schlechter stellen würde (ohne Versicherungsschutz), obwohl gerade Jugendliche besonderen Schutz verdienen.

Wichtige Entscheidung für Eltern und junge Sportler

Mit diesem Urteil hat das LSG Hessen klargestellt, dass Jugendliche in einem Fußball-Leistungszentrum bei Unfällen grundsätzlich wie Arbeitnehmer geschützt sind. Der Fall betraf zwar einen einzelnen 15-Jährigen, doch die Tragweite ist erheblich: Viele Profiklubs nutzen ähnliche DFL-Musterverträge für ihre Nachwuchsspieler. Entsprechend hat das LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen. Es geht um die Wahrung der Rechtseinheit und Fortbildung des Rechts in diesem neuartigen Bereich – nämlich ob Nachwuchsspieler mit Fördervertrag unter den gesetzlichen Unfallschutz fallen.

Für Eltern und junge Talente bedeutet die Entscheidung: Wenn ein Kind mit einem Verein einen solchen Fördervertrag abschließt und verletzungsbedingt ausfällt, sollte der Fall der Berufsgenossenschaft (Unfallkasse) gemeldet werden. Denn nach der Rechtsprechung genießt der Nachwuchsspieler gesetzlichen Unfallversicherungsschutz – vergleichbar einem Azubi oder Beschäftigten. Konkret übernimmt die Unfallversicherung in einem anerkannten Arbeitsunfall z.B. sämtliche Heilbehandlungskosten, Rehabilitation, Verletztengeld (Lohnersatz) und bei bleibenden Schäden ggf. eine Unfallrente. Würde die Versicherung eine Leistung verweigern, haben Betroffene gute Chancen, gerichtlich Recht zu bekommen, wie dieses Verfahren zeigt.

Eltern sollten sich außerdem bewusst sein, dass ein solcher Vertrag erhebliche Verpflichtungen für den Jugendlichen mit sich bringt – faktisch den Status eines jungen Profis. Freizeitkicker sind nicht automatisch unfallversichert, Vertragsspieler aber sehr wohl. Die Abgrenzung hängt davon ab, ob im Einzelfall ein weisungsgebundenes, entgeltliches Vertragsverhältnis besteht. Im Zweifel lohnt es sich, den Fördervertrag genau zu prüfen und sich bei Unklarheiten rechtlich beraten zu lassen. Doch dank des aktuellen LSG-Urteils ist eines sicher: Verletzt sich ein Jugendlicher im Rahmen eines solchen Vertrags, steht er nicht schutzlos da, sondern kann auf die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zählen.