Hintergrund des Falls: Polizei-Selbsteinschätzungstest im Bewerbungsverfahren
Im konkreten Fall bewarb sich ein Kandidat im Oktober 2023 über das digitale Bewerberportal der Polizeihochschule Baden-Württemberg für den mittleren bzw. gehobenen Polizeivollzugsdienst. Teil des mehrstufigen Auswahlverfahrens war ein computerbasierter „Selbsteinschätzungstest“, bei dem die Bewerber:innen anhand von stufenlosen Schiebereglern insgesamt 58 Fragen zu ihrer eigenen Befähigung beantworteten. Der Test zielte darauf ab, Persönlichkeitsmerkmale und Motivation der Kandidat:innen in Kategorien wie “Einstellung und Motivation“, “Arbeitsverhalten“ und “Sozialverhalten“ zu erfassen.
Der Kläger erzielte in diesen drei Bewertungskategorien jeweils knapp unter dem erforderlichen Grenzwert von 100 Punkten und wurde deshalb vom weiteren Auswahlverfahren ausgeschlossen. Seine nachfolgende Beschwerde (Widerspruch) wurde zurückgewiesen, woraufhin er Klage erhob. Kern seiner Beanstandung war, dass die Ablehnung seiner Bewerbung nicht hinreichend begründet worden sei – insbesondere konnte er nicht nachvollziehen, wie seine Antworten im Selbsteinschätzungstest in das Endergebnis eingeflossen waren. Die Polizeihochschule verteidigte hingegen das eingesetzte Testverfahren und verwies darauf, dass die Auswertung auf wissenschaftlich entwickelten Methoden beruhe und sogar nach DIN 33430 zertifiziert sei. (DIN 33430 ist eine Norm, die Qualitätsanforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik – also Auswahltests – definiert.)
Ursprünglich beim VG Stuttgart anhängig, wurde der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Verwaltungsgericht Karlsruhe verwiesen. Der Kläger begehrte schließlich die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Ablehnung (Fortsetzungsfeststellungsklage), nachdem eine unmittelbare Einstellung aufgrund Zeitablaufs nicht mehr möglich war. Das VG Karlsruhe hatte erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des digitalen Tests und gab dem Kläger Recht. Mit Urteil vom 29.07.2025 (Az. 12 K 3606/24) stellte das Gericht fest, dass die Polizeihochschule den verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Auswahlverfahren verletzt hatte.
Intransparenz des Tests: Warum das VG Karlsruhe den Auswahltest für rechtswidrig hielt
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe befand den digitalen Selbsttest als nicht transparent genug und daher rechtswidrig. Entscheidendes Kriterium war, dass Bewerber:innen und Nachprüfungsinstanzen (Gerichte) den Auswahlvorgang nachvollziehen können müssen. Im Urteil wurde deutlich, dass der sogenannte Bewerbungsverfahrensanspruch verletzt wurde: Dieser Anspruch garantiert jedem/jeder Bewerber:in auf ein öffentliches Amt nicht nur eine Auswahl nach Leistungskriterien, sondern auch eine Nachvollziehbarkeit der Auswahlentscheidung. Im vorliegenden Fall konnte die Behörde jedoch nicht plausibel erklären, wie genau die Ergebnisse des Selbsteinschätzungstests zustande kamen und welche Rolle die gegebenen Antworten dabei spielten.
Insbesondere monierte das Gericht den dritten Testabschnitt, also den digitalen Persönlichkeitsfragebogen zur Selbsteinschätzung. Zwar ging dieser Testteil nur mit etwa einem Siebtel in die Endbewertung der Bewerber:innen ein, während andere Kriterien (z.B. Interviews oder klassische Prüfungen) den Großteil ausmachten. Doch gerade dieser Bereich erwies sich als Black Box: Die Hochschule konnte zwar die gewichtete Bedeutung der verschiedenen Bewertungsbereiche erklären, nicht jedoch den konkreten Einfluss der Schieberegler-Antworten auf den errechneten Punktwert. Anders formuliert: Wie aus den Selbstbewertungen der Kandidat:innen ein Punkteergebnis berechnet wurde, blieb im Dunkeln – selbst der Dienstherr konnte es im Prozess nicht transparent aufzeigen.
Dokumentationspflicht auf vier Ebenen verletzt
Das VG Karlsruhe stellte fest, dass die Dokumentationspflicht im Auswahlverfahren gleich vierfach verletzt worden war. In den Urteilsgründen benannte die Kammer vier Versäumnisse der Behörde bezüglich des digitalen Tests:
- Fragenkatalog nicht dokumentiert: Der genaue Inhalt der 58 Selbstbewertungs-Fragen wurde nicht aktenkundig gemacht. Weder Bewerber:innen noch eine prüfende Stelle konnten im Nachhinein nachvollziehen, welche Fragen gestellt wurden.
- Antworten (Reglerstellungen) nicht dokumentiert: Auch die individuellen Antworten bzw. die Position der Schieberegler, die der Kläger gewählt hatte, wurden nicht festgehalten. Damit fehlte jeglicher Prüfungsnachweis, welche Selbsteinschätzung der Bewerber tatsächlich abgegeben hat.
- Referenz-/Normwerte nicht hinterlegt: Der Test arbeitete offenbar mit gewissen Normwerten oder Referenzgruppen – beispielsweise Schwellenwerten für den mittleren und gehobenen Dienst – doch diese erwarteten Idealwerte waren nicht in den Unterlagen vermerkt. Ohne diese Referenz könnte niemand beurteilen, ab welchem Wert eine Leistung als ausreichend galt.
- Begründung der Schwellenwerte fehlt: Schließlich – und am gravierendsten – fehlte eine dokumentierte Begründung dafür, warum bestimmte Normwerte als Mindestanforderung festgelegt wurden. Es war also nirgends erläutert, warumB. 100 Punkte in jeder Kategorie erreicht werden mussten und worauf diese Zahl basierte.
Nach Auffassung des Gerichts konnten die ersten drei Dokumentationsfehler im Nachhinein zwar unter Umständen noch durch technischen Zugriff behoben werden (etwa indem ein Administrator die gespeicherten Fragen und Antworten ausliest). Der vierte Fehler jedoch – die fehlende konzeptionelle Begründung der Bewertungsskala – sei nicht mehr heilbar. Ohne eine vorab festgelegte und dokumentierte Rechtfertigung für die gewählten Schwellenwerte bleibt unklar, ob diese Maßstäbe überhaupt mit den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG vereinbar waren. Somit konnte das Gericht nicht überprüfen, ob der Test tatsächlich die Bestenauslese sicherstellte oder ob die Maßstäbe willkürlich bzw. sachfremd gewählt waren.
Die Polizeihochschule verwies zwar darauf, dass der Test nach DIN 33430 zertifiziert sei – einer Norm für berufsbezogene Eignungsdiagnostik. Doch das Gericht stellte klar, dass eine DIN-Zertifizierung allein die Verfassungstreue eines Auswahlverfahrens nicht garantiert. Zum einen sei nicht ersichtlich, inwiefern die Anforderungen der DIN 33430 mit den verfassungsrechtlichen Kriterien für Beamtenauswahlverfahren übereinstimmen. Zum anderen finde diese Norm überwiegend im Arbeitsrecht (Privatwirtschaft) Anwendung, während im Beamtenrecht strengere Maßstäbe nach Art. 33 Abs. 2 GG gelten. Der Verweis auf die Norm ohne konkrete Erläuterung ihrer Relevanz im vorliegenden Verfahren reichte dem Gericht daher nicht aus.
Art. 33 Abs. 2 GG: Leistungsprinzip und Transparenz im Auswahlverfahren
Die Entscheidung des VG Karlsruhe stützt sich zentral auf Art. 33 Abs. 2 GG, der den Zugang zu öffentlichen Ämtern für Deutsche regelt. Dieser Artikel verankert das Leistungsprinzip (Bestenauslese) im Beamtenrecht: Zugang zu öffentlichen Ämtern darf ausschließlich nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung der Bewerber:innen gewährt oder versagt werden. Daraus hat die Rechtsprechung den sogenannten Bewerbungsverfahrensanspruch abgeleitet. Dieser umfasst nicht nur das Recht auf eine leistungsorientierte Auswahlentscheidung, sondern auch auf ein faires und nachvollziehbares Verfahren bei der Stellenbesetzung.
Mit anderen Worten müssen öffentliche Arbeitgeber Transparenz- und Begründungspflichten beachten: Welche Kriterien werden angelegt? Wie fließen einzelne Testergebnisse oder Bewertungen in die Auswahlentscheidung ein? Und warum wurde Bewerber A gegenüber Bewerber B bevorzugt? All diese Erwägungen sind – so verlangt es Art. 33 Abs. 2 GG – nachvollziehbar zu dokumentieren, damit unterlegene Bewerber:innen und im Streitfall auch Gerichte die Entscheidung sachgerecht kontrollieren können. Nur so ist gewährleistet, dass wirklich der/die Beste nach den zulässigen Kriterien ausgewählt wird und nicht Unklarheit oder Willkür Einzug halten.
Das VG Karlsruhe betonte in seinem Urteil genau diese Verbindung von Leistungsprinzip und Transparenz. Bewerber:innen haben einen Rechtsanspruch darauf, dass Auswahlentscheidungen schriftlich festgehalten werden. Im vorliegenden Fall fehlte es jedoch gerade an dieser schriftlichen Fixierung der Entscheidungsgrundlagen im digitalen Test. Der Kläger konnte nicht erkennen, ob und wie sein Abschneiden im Selbsteinschätzungstest tatsächlich bewertet wurde, was einen Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG darstellt. Denn wenn der Zusammenhang zwischen individueller Leistung (hier: Selbsteinschätzung) und Endergebnis im Dunkeln bleibt, ist der Anspruch auf eine an Eignung, Befähigung und Leistung orientierte Auswahl faktisch unterlaufen.
Über Art. 33 Abs. 2 GG ist zugleich das Prinzip der Gleichbehandlung im Bewerbungsverfahren tangiert. Alle Bewerber:innen müssen nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden. Intransparenz gefährdet dieses Gebot, weil sich nicht überprüfen lässt, ob wirklich alle Kandidat:innen nach dem gleichen Schlüssel bewertet wurden oder ob der Algorithmus ggf. einige systematisch benachteiligt hat. Deshalb geht Transparenz hier Hand in Hand mit Gleichbehandlung: Nur ein offengelegtes, nachvollziehbares Bewertungssystem stellt sicher, dass alle die gleiche Chance auf das Amt haben.
Bedeutung der Entscheidung für Auswahlverfahren im öffentlichen Dienst
Die Karlsruher Entscheidung hat über den Einzelfall hinaus Signalwirkung für alle öffentlichen Arbeitgeber, die in ihren Auswahlverfahren auf digitale Tests oder automatisierte Verfahren setzen. Sie macht deutlich, dass technische Lösungen im Personalwesen die rechtlichen Anforderungen nicht aushebeln, sondern diesen genügen müssen. Transparenz und Dokumentation sind keine bloßen Formalien, sondern zwingende Voraussetzungen, um die Verfassungsvorgaben der Bestenauslese zu erfüllen.
Für künftige Auswahlverfahren – insbesondere im öffentlichen Dienst – bedeutet das: Black-Box-Verfahren sind hoch riskant. Wenn eine Software Punkte vergibt oder Kandidat:innen aussiebt, muss die Behörde im Zweifel genau darlegen können, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist. Fehlt es an dieser Darlegungsmöglichkeit, verstößt das Verfahren gegen Art. 33 Abs. 2 GG und ist anfechtbar. Das Urteil verdeutlicht zudem, dass eine externe Zertifizierung (wie hier die DIN 33430) keine Gewähr für Rechtskonformität bietet, solange die konkreten Auswahlkriterien und Algorithmen nicht offen gelegt werden.
Bemerkenswert ist, dass das VG Karlsruhe die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat. Dies unterstreicht, dass es sich um eine noch ungeklärte Rechtsfrage mit weitreichender Relevanz handelt – nämlich wie mit computergestützten Auswahlverfahren im öffentlichen Sektor umzugehen ist. Möglicherweise wird in der nächsten Instanz (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg) oder gar durch das Bundesverwaltungsgericht eine Grundsatzentscheidung getroffen, die bundesweit Maßstäbe setzt. Bis dahin signalisiert das erstinstanzliche Urteil: Transparenzmängel können ein ganzes Auswahlverfahren zu Fall bringen.
Praktische Konsequenzen zeigen sich unmittelbar: Nach Angaben der Polizeihochschule durchlaufen jährlich rund 2.500 bis 3.000 Bewerber:innen den beanstandeten Test Sollte das Urteil rechtskräftig werden, müsste dieses Vorgehen wohl überarbeitet oder ausgesetzt werden, um den dokumentierten Anforderungen zu genügen. Andere Behörden, die ähnliche Online-Assessments nutzen, dürften das Urteil aufmerksam verfolgen und ihre Verfahren auf mögliche Intransparenz-Risiken überprüfen.
Empfehlungen für Behörden und Bewerber:innen
Für Behörden (bzw. Dienstherren) lässt sich aus dem Urteil folgern:
- Transparente Gestaltung von Tests: Bei Einsatz von Auswahltests – ob digital oder analog – achten Sie darauf, dass Fragen, Antworten und Bewertungsskalen vollständig dokumentiert werden. Es muss jederzeit nachvollziehbar sein, wie eine bestimmte Punktzahl zustande kam.
- Begründung von Bewertungskriterien: Legen Sie vorab fest, welche Ergebnisse als geeignet gelten und begründen Sie diese Schwellenwerte schriftlich. Z.B. warum wird ein bestimmter Punktwert als Mindestkriterium angesehen? Diese Begründung sollte sich an den Anforderungen der Stelle orientieren und mit Art. 33 Abs. 2 GG in Einklang stehen.
- Überprüfung von Software-Tools: Nutzen Sie bei computergestützten Verfahren nur Software, deren Algorithmik offen gelegt oder zumindest hinreichend erklärt werden kann. Verlangen Sie vom Anbieter Informationen, die es erlauben, den Entscheidungsweg nachzuvollziehen. Eine bloße Zusicherung, das Verfahren sei „wissenschaftlich“ oder „zertifiziert“, genügt nicht.
- Dokumentation als Pflicht, nicht Kür: Führen Sie während des gesamten Auswahlprozesses schriftliche Aufzeichnungen über alle wesentlichen Schritte und Kriterien der Entscheidungsfindung. Diese Auswahlvermerke sind im Streitfall Ihre wichtigste Grundlage, um die Rechtmäßigkeit zu verteidigen.
- Schulung und Sensibilisierung: Schulen Sie Personalverantwortliche im öffentlichen Dienst hinsichtlich der Bedeutung des Bewerbungsverfahrensanspruchs. Auswahlentscheidungen sind verwaltungsrechtlich überprüfbare Akte – Fehler in Transparenz oder Gleichbehandlung können zu Verzögerungen, Gerichtsverfahren und im schlimmsten Fall zur Aufhebung der Personalauswahl führen.
Für Bewerberinnen und Bewerber im öffentlichen Dienst ergeben sich ebenfalls wichtige Hinweise:
- Recht auf Auskunft: Seien Sie sich bewusst, dass Sie einen Anspruch auf Begründung einer Absage Wenn Sie eine Ablehnung erhalten, muss die Behörde zumindest in Grundzügen darlegen, warum Sie nicht ausgewählt wurden. Zögern Sie nicht, Nachfragen zu stellen, wenn die Gründe unklar bleiben.
- Misstrauen bei Intransparenz: Begegnen Sie undurchsichtigen Tests oder Bewertungen mit gesundem Skepsis. Wenn etwa eine automatische Online-Prüfung Ihr Ausscheiden bewirkt und Ihnen nicht klar ist, was Sie „falsch“ gemacht haben, können Sie in Erfahrung bringen wollen, wie die Wertung zustande kam. Behörden sind hier in der Pflicht, Klarheit zu schaffen.
- Wahrung von Rechten: Sollten Sie das Gefühl haben, im Auswahlverfahren unfair behandelt worden zu sein, können Sie rechtliche Schritte in Betracht ziehen. Der Bewerbungsverfahrensanspruch gibt Ihnen die Möglichkeit, Auswahlentscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen. Wie der vorliegende Fall zeigt, können solche Klagen erfolgreich sein, wenn Verfahrensfehler (etwa Intransparenz oder sachfremde Kriterien) vorliegen.
- Dokumentation eigener Unterlagen: Bewahren Sie Ihre Bewerbungsunterlagen und Korrespondenz gut auf. Falls es zu einem Rechtsstreit kommt, sind zeitnahe Widersprüche und detaillierte Informationen über den Ablauf des Verfahrens hilfreich. Notieren Sie sich Eindrücke von Tests oder Gesprächen direkt im Anschluss, um später darauf zurückgreifen zu können.
- Informiert bleiben: Verfolgen Sie Entscheidungen wie das Karlsruher Urteil. Diese geben Aufschluss darüber, welche Methoden in Auswahlverfahren zulässig sind – und welche nicht. Dieses Wissen kann Ihnen helfen, Ihre Rechte im Bewerbungsprozess selbstbewusst wahrzunehmen.
Das Urteil des VG Karlsruhe vom 29.07.2025 zum Polizei-Selbsteinschätzungstest betont eindringlich: Transparenz und Gleichbehandlung sind im öffentlichen Dienst bei der Personalauswahl unerlässlich. Moderne, digitale Auswahlverfahren dürfen zwar eingesetzt werden, müssen aber rechtssicher ausgestaltet sein. Für Behörden bedeutet das mehr Aufwand in Dokumentation und Begründung – letztlich aber zum Wohle der Rechtsstaatlichkeit und der besten Bewerber:innen. Bürger:innen und Praktiker:innen zeigt diese Entscheidung, dass das Leistungsprinzip des Art. 33 Abs. 2 GG mehr ist als eine bloße Floskel: Es umfasst ein faires, nachvollziehbares Verfahren, in dem jede/r eine echte Chance auf das öffentliche Amt hat – frei von Black-Box-Entscheidungen und Willkür.