In deutschen Gerichtssälen sorgt das Thema religiöser Symbole für Diskussionen. Jüngstes Beispiel ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Braunschweig vom 14.10.2025 (Az. 1 OGs 1/25). Das Gericht hat einer ehrenamtlichen Richterin – einer Schöffin – untersagt, ihr Kopftuch während der Gerichtsverhandlung zu tragen, und sie schließlich des Amtes enthoben. Diese Entscheidung wirft ein Schlaglicht auf das Spannungsfeld zwischen der Religionsfreiheit der Schöffin (Art. 4 Grundgesetz) und dem staatlichen Neutralitätsgebot. Im Folgenden fassen wir die wesentlichen Gründe des Gerichts zusammen, ordnen sie in die aktuelle Rechtsprechung ein und beleuchten die rechtspolitische Bedeutung.
Hintergrund: Religionsfreiheit vs. Neutralitätspflicht in der Justiz
Die deutsche Verfassung garantiert in Art. 4 GG die Glaubens- und Religionsfreiheit, wozu auch das Tragen eines religiös motivierten Kopftuchs gehört. Jede Person darf ihre Religion ausüben und auch durch Kleidung zum Ausdruck bringen. Allerdings steht dieser Freiheit im Gerichtssaal die staatliche Neutralitätspflicht gegenüber. Der Staat und seine Repräsentanten (Richter, Staatsanwälte etc.) sollen in Ausübung ihres Amtes neutral auftreten, also keine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen sichtbar bevorzugen. Dieses Prinzip soll das Vertrauen der Bürger in die Unparteilichkeit der Justiz sichern.
Mehrere Bundesländer haben aus diesem Neutralitätsprinzip Konsequenzen gezogen und gesetzliche Regelungen erlassen, die das Tragen auffälliger religiöser Symbole im Gericht verbieten. So schreibt z.B. § 31a des Niedersächsischen Justizgesetzes (NJG) vor, dass Personen mit richterlichen Aufgaben in der Verhandlung keine sichtbaren Symbole oder Kleidungsstücke tragen dürfen, die auf eine religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung schließen lassen. Diese Regel gilt ausdrücklich nicht nur für Berufsrichter, sondern auch für Schöffinnen und Schöffen, da sie mit vollem Stimmrecht an der Urteilsfindung teilnehmen.
Was sind Schöffen? Schöffen sind ehrenamtliche Richterinnen und Richter, also juristische Laien, die in Strafprozessen neben den Berufsrichtern über Schuld und Strafe mitentscheiden. Sie werden von der Gemeinde gewählt und für eine Amtsperiode (meist fünf Jahre) verpflichtet. In der Verhandlung haben Schöffen das gleiche Stimmrecht wie Berufsrichter. Dadurch soll das Rechtswesen bürgernah und vielseitig aufgestellt sein.
Der Fall in Braunschweig: Kopftuch auf der Richterbank
Im Braunschweiger Fall war eine Muslimin zur Schöffin am Landgericht Braunschweig gewählt worden. Bereits vor Antritt ihres Amtes wurde mit ihr ein Gespräch geführt, wobei sich abzeichnete, dass sie auch während der Gerichtsverhandlungen auf ihrem Kopftuch bestehen würde. Die Frau erklärte dem Gericht deutlich, das Kopftuch sei „Ausdruck ihrer religiösen Identität und nicht als politisches Zeichen zu verstehen“. Diese Aussage macht klar, dass die Schöffin ihr Kopftuch rein als Teil ihrer persönlichen Glaubensausübung betrachtet.
Trotz dieser Erklärung steht jedoch die geltende Rechtslage in Niedersachsen entgegen: Das Tragen eines Kopftuchs auf der Richterbank verstöße gegen § 31a NJG, also gegen das Neutralitätsgebot im Gerichtssaal. Nach dieser Vorschrift darf niemand, der richterliche Aufgaben wahrnimmt, sichtbare religiöse Symbole tragen – unabhängig von der Motivation. In den Augen des Landgerichts stellte die Ankündigung der Schöffin, mit Kopftuch im Verfahren zu erscheinen, einen gesetzeswidrigen Zustand dar. Deshalb beantragte das Landgericht Braunschweig beim OLG die Absetzung der Schöffin von ihrem Amt.
Entscheidung des OLG Braunschweig: Neutralität gebietet Kopftuch-Verzicht
Das OLG Braunschweig gab dem Antrag des Landgerichts statt und entfernte die Schöffin aus dem Amt (Beschluss vom 14.10.2025). Zur Begründung stellte das OLG fest, dass die Schöffin mit ihrer Weigerung, das Kopftuch abzulegen, gegen das Neutralitätsgebot verstoße. Die Kernfrage war nun, ob dieser Verstoß – und ein daraus folgendes Verbot des Kopftuchs – rechtmäßig und verfassungsgemäß ist, obwohl eigentlich die Religionsfreiheit der Schöffin betroffen ist.
Das Gericht führte aus, dass hier zwei Grundrechte bzw. Prinzipien kollidieren: Einerseits die Religionsfreiheit der Schöffin, andererseits die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und das Vertrauen der Allgemeinheit in eine neutrale, unabhängige Justiz. Letzteres Gewicht hat nach Ansicht des Senats den Vorrang. Konkret bedeutet das: Der Staat darf von seinen Richtern – einschließlich Laienrichtern – verlangen, im Dienst keine sichtbaren religiösen Symbole zu tragen, um jeden Anschein einer Voreingenommenheit zu vermeiden.
Das OLG betonte, dass dieser Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit der Schöffin verhältnismäßig und verfassungsgemäß sei. Warum? Weil das Verbot einem überragend wichtigen Schutzgut dient, nämlich der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und dem Vertrauen der Bevölkerung in eine neutrale Rechtsprechung. Eine Richterbank soll für Bürgerinnen und Bürger ein Ort sein, an dem allein das Gesetz und nicht persönliche Glaubensüberzeugungen regieren.
Darüber hinaus zog das OLG auch die negative Religionsfreiheit der Verfahrensbeteiligten in Betracht. Negative Religionsfreiheit bedeutet das Recht, von religiösen Bekundungen durch den Staat verschont zu bleiben. Beispielsweise könnte ein Angeklagter oder Zeuge es als befremdlich oder einschüchternd empfinden, wenn eine Richterperson im Prozess ein deutlich religiös konnotiertes Symbol trägt. Das OLG argumentierte, dass auch dieses Interesse der Prozessbeteiligten zu berücksichtigen sei und im Ergebnis schwerer wiege als das Recht der Schöffin, ihr religiöses Symbol im Amt zu tragen.
Nachdem die Schöffin trotz mehrfacher Hinweise auf die Rechtslage weiter auf ihrem Kopftuch bestanden hatte, sah das OLG Braunschweig darin eine Verletzung ihrer Amtspflichten. Nach § 51 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) können Schöffen ihres Amtes enthoben werden, wenn sie gröblich ihre Amtspflichten verletzen. Das OLG stufte die bewusste Missachtung des Neutralitätsgebots als einen solchen Fall ein und enthob die Schöffin ihres Amtes. Die Entscheidung ist endgültig – gegen die Amtsenthebung sind keine weiteren Rechtsmittel in der normalen Gerichtsbarkeit gegeben, sie ist unanfechtbar.
Bezug auf andere Gerichtsentscheidungen und anhängiges BVerfG-Verfahren
Die Frage, ob ein Kopftuchverbot für Richter und Schöffen verfassungsgemäß ist, beschäftigt derzeit auch andere Gerichte. Das OLG Braunschweig ist nicht das erste Gericht, das so entschied. Bereits im Jahr 2024 sorgte ein ähnlicher Fall in Nordrhein-Westfalen für Aufsehen: Eine Schöffin am Amtsgericht Dortmund wollte ebenfalls ihr Kopftuch auf der Richterbank nicht ablegen. Das zuständige Oberlandesgericht Hamm stellte klar, dass auch für Schöffinnen das Neutralitätsgebot gilt.
Allerdings wählte das OLG Hamm einen etwas anderen juristischen Weg: Es sah in der Kopftuch-Weigerung keine „gröbliche Amtspflichtverletzung“ im Sinne von § 51 GVG, sondern eine „sonstige Unfähigkeit“ zur Amtsausübung. Anstatt die Schöffin sofort ihres Amtes zu entheben, ordnete das OLG Hamm an, sie von der Schöffenliste zu streichen. Der Unterschied klingt technisch, hat aber einen wichtigen Punkt: Das OLG Hamm argumentierte, die Frau habe sich nicht fehlverhalten oder befangen gezeigt, sondern lediglich ihr grundrechtlich geschütztes Glaubensgebot praktiziert – was in Konflikt mit dem Gesetz geriet. Mit anderen Worten: Das Problem sei nicht persönliches Fehlverhalten der Schöffin, sondern ein Rechtskonflikt zwischen ihrer Religionsausübung und den staatlichen Neutralitätsregeln. Trotz dieser juristischen Nuance kam auch in Hamm am Ende heraus, dass die Frau nicht als Schöffin tätig sein durfte.
Die Frau aus dem Dortmunder Fall hat, unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wird sich mit der Frage befassen, ob solche Neutralitätsvorschriften – konkret das nordrhein-westfälische Justizneutralitätsgesetz – mit der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit vereinbar sind. Dieses Verfahren ist derzeit anhängig, eine Entscheidung steht noch aus. Auch die Braunschweiger Schöffin könnte theoretisch diesen Weg nach Karlsruhe suchen, doch praktisch wartet man wohl zunächst das bestehende Verfahren ab.
Ein Blick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zeigt, dass Karlsruhe in vergleichbaren Fragen schon Position bezogen hat. So entschied das BVerfG im Jahr 2020, dass ein Bundesland Referendarinnen (Rechtsreferendare in der Ausbildung) verbieten darf, im Gerichtssaal mit Kopftuch zu agieren. Damals ging es um angehende Juristinnen im Vorbereitungsdienst, die bei bestimmten Ausbildungsstationen im Gericht sichtbare religiöse Symbole nicht tragen durften. Das BVerfG hielt ein solches beschränktes Kopftuchverbot für grundsätzlich verfassungsgemäß. Es stützte die Entscheidung ebenfalls auf die staatliche Neutralität und die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowie die negative Religionsfreiheit Dritter. Gleichzeitig betonten die Verfassungsrichter aber, dass eine sorgfältige Abwägung erfolgen müsse und keine der kollidierenden Positionen absolut überwiege. Diese differenzierte Sichtweise zeigt, wie sensibel das Thema ist.
Noch ist unklar, wie das BVerfG in der Schöffen-Frage entscheiden wird. Das OLG Braunschweig hat sich jedenfalls – wie auch das OLG Hamm – an der bestehenden Gesetzeslage orientiert und die bisherige Linie der Rechtsprechung zum Neutralitätsgebot fortgeführt. Bis eine höchstrichterliche Entscheidung ergeht, gilt in Niedersachsen und manch anderen Ländern weiterhin: Keine Kopftücher (und keine vergleichbaren religiösen Symbole) auf der Richterbank.
Rechtspolitische Bedeutung der Entscheidung und Ausblick
Der Fall der kopftuchtragenden Schöffin berührt nicht nur juristische Feinheiten, sondern hat auch eine erhebliche rechtspolitische Bedeutung. Es geht um die Grundsatzfrage, welches Gesicht der deutsche Staat in der Justiz zeigen will: ein strikt neutrales, in dem religiöse Zeichen keinen Platz haben – oder ein pluralistisches, in dem auch Personen mit Kopftuch Recht sprechen dürfen, ohne dass dadurch Misstrauen entsteht.
Befürworter des Neutralitätsgebots begrüßen die Entscheidung des OLG Braunschweig. Aus ihrer Sicht unterstreicht sie ein wichtiges Prinzip: Vor Gericht sollen alle gleichbehandelt werden, unabhängig von Religion oder Weltanschauung – und das werde am besten durch Neutralität in Erscheinungsbild und Amtsführung gewährleistet. Ein Richter oder eine Schöffin mit einem sichtbaren religiösen Symbol könnte (so die Befürchtung) beim Publikum oder bei Prozessbeteiligten den Eindruck erwecken, nicht völlig unparteiisch zu sein. Die Braunschweiger Entscheidung betont, dass das Vertrauen in die Gerichte geschützt werden muss, selbst vor einem Anschein der Voreingenommenheit. Gerade in Strafprozessen, in denen es für Angeklagte um viel geht, ist dieses Vertrauen in einen neutralen Richter essentiell.
Kritiker hingegen sehen in solchen Kopftuchverboten einen Eingriff in die persönliche Freiheit und eine Benachteiligung gläubiger Musliminnen. Sie argumentieren, dass das Tragen eines Kopftuchs eine persönliche Glaubenspflicht und Identitätsfrage sei, die keine Aussage über die Objektivität oder Rechtskenntnis der Trägerin zulasse. Warum sollte eine kompetente Juristin oder Bürgerin vom Richteramt ausgeschlossen werden, nur weil sie ein religiöses Tuch trägt? In einer pluralistischen Gesellschaft könne Neutralität des Staates auch bedeuten, Vielfalt zuzulassen, solange die Entscheidungen nach Recht und Gesetz getroffen werden. Einige weisen darauf hin, dass etwa christliche Symbole (wie eine Kette mit Kreuz) bei Richtern kaum je thematisiert werden, während das Kopftuch – als sichtbares Zeichen des Islam – strenger beurteilt wird. Hier stellt sich die Frage, ob mit zweierlei Maß gemessen wird oder ob das Kopftuch als stärkeres Symbol anzusehen ist.
Rechtspolitisch steht die Diskussion somit an einem Scheideweg. Sollte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Schöffin (aus Dortmund) zurückweisen und die Neutralitätsgesetze bestätigen, würde das den Kurs der letzten Jahre zementieren: Länder dürften weiterhin Kopftuchverbote für Richter, Staatsanwälte, Schöffen oder Referendarinnen erlassen und durchsetzen. Muslimische Frauen mit Hidschab müssten dann in diesen Rollen entweder darauf verzichten, ihr Kopftuch im Dienst zu tragen, oder könnten diese Ämter faktisch nicht ausüben. Manche sehen darin indirekt ein Berufsverbot für eine bestimmte Gruppe, was gesellschaftlich hoch umstritten bleibt.
Kommt das BVerfG jedoch zu dem Schluss, dass solche pauschalen Verbote unverhältnismäßig sind, hätte dies weitreichende Folgen. Die betreffenden Landesgesetze (wie das NJG in Niedersachsen oder das JNeutG NRW) müssten vermutlich geändert werden. Künftig könnten dann auch Frauen mit Kopftuch als Richterinnen oder Schöffinnen tätig sein, ohne vor der Wahl zwischen Beruf(ung) und Glauben zu stehen. Eine solche Entscheidung würde sicherlich kontrovers diskutiert, könnte aber ein Signal für mehr religiöse Vielfalt im Staatsdienst senden.
Fazit: Die Entscheidung des OLG Braunschweig vom 14.10.2025 ist ein deutliches Signal für das Neutralitätsgebot in der Justiz. Sie zeigt exemplarisch, wie Gerichte derzeit die Konkurrenz zwischen Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität auflösen – nämlich zugunsten der Neutralität im Gerichtssaal. Für die betroffenen Frauen ist dies ein harter Einschnitt, für den Staat ein Mittel zur Wahrung der Unparteilichkeit. Endgültig geklärt ist die Frage aber noch nicht. Alle Augen richten sich nun auf das Bundesverfassungsgericht, das im anstehenden Verfahren grundlegende Leitlinien setzen wird: Darf eine Frau mit Kopftuch Richterin oder Schöffin sein – ja oder nein? Die Antwort darauf wird die Rechtsentwicklung in diesem Bereich maßgeblich bestimmen und hat Signalwirkung über den Einzelfall hinaus, sowohl für die Glaubensfreiheit als auch für das Verständnis von staatlicher Neutralität in Deutschland.