Urteil vom 15.10.2025 – Az. VIII ZR 51/24 (BGH) – Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass Gerichte die Zuständigkeit ihrer Spruchkörper nicht durch „offene“ Präsidiumsbeschlüsse regeln dürfen, deren Ergebnis von den Gerichten selbst noch beeinflusst werden kann. Mit anderen Worten: Die Zuständigkeiten müssen im Voraus generell-abstrakt feststehen, sonst liegt ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) vor. In dem entschiedenen Fall hob der BGH ein Berufungsurteil des OLG Karlsruhe auf, weil das Gericht aufgrund eines solchen Präsidiumsbeschlusses nicht ordnungsgemäß besetzt war. Nachfolgend erläutern wir den Fall und die Bedeutung der Entscheidung für die Praxis im Detail.
Hintergrund des Falls
Im zugrunde liegenden Fall verlangte ein Käufer nach erklärtem Rücktritt die Rückabwicklung eines Pferdekaufvertrags von der Verkäuferin. Das Landgericht Freiburg hatte die Klage auf Rückzahlung des Kaufpreises und weiteren Schadensersatz zunächst abgewiesen. In der Berufung vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe war gemäß Geschäftsverteilungsplan eigentlich der 9. Zivilsenat zuständig. Allerdings erließ das Präsidium des OLG Karlsruhe am 22.07.2021 einen Beschluss, der mehrere damals beim 9. Senat anhängige Verfahren – auch den vorliegenden Fall – an den 25. Zivilsenat übertrug. Ausgenommen von dieser Übertragung waren jene Verfahren, „in denen bis zum 31.07.2021 bereits eine Terminierung erfolgt oder ein Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO ergangen ist“. Dieses Kriterium bedeutete, dass der abgebende 9. Senat durch schnelles Anberaumen eines Termins oder Erlass eines Hinweisbeschlusses bis zu diesem Stichtag selbst beeinflussen konnte, ob ein Verfahren bei ihm verbleibt.
In der Folge kam es zu einer weiteren Änderung der Geschäftsverteilung: Durch Präsidiumsbeschluss vom 03.04.2023 wurde das Verfahren erneut verlegt – diesmal an den 4. Zivilsenat des OLG. Dieser 4. Senat entschied die Berufung schließlich in der Sache und gab der Klage statt, d.h. er änderte das erstinstanzliche Urteil ab und verurteilte die Beklagte zur Rückabwicklung des Pferdekaufs. Die unterlegene Beklagte legte daraufhin Revision zum BGH ein – mit Erfolg.
Entscheidung des BGH: Verstoß gegen den gesetzlichen Richter
Der VIII. Zivilsenat des BGH rügte, dass das Berufungsgericht nicht vorschriftsgemäß besetzt war und somit das Recht der Beklagten auf den gesetzlichen Richter verletzt wurde. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG garantiert den gesetzlichen Richter und soll verhindern, dass die Justiz durch Manipulation beeinflusst wird. Insbesondere darf keine Fall-zu-Fall-Auswahl der Richter stattfinden, durch die das Ergebnis eines Verfahrens gelenkt werden könnte. Daher müssen von vornherein so eindeutig wie möglich festgelegt sein, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richterperson für einen konkreten Rechtsstreit zuständig sind. Diese Aufgabe erfüllen die Geschäftsverteilungspläne der Gerichte, die jährlich im Voraus als generell-abstrakte Regelungen aufgestellt werden. Neue Verteilungen oder Änderungen der Zuständigkeit während des Jahres (zur Lastenverteilung oder um zügigen Rechtsschutz zu gewährleisten) sind zwar nicht ausgeschlossen, müssen aber ebenso generell-abstrakt gelten und dürfen nicht aus sachfremden Gründen erfolgen. Genau an dieser Stelle setzten die Bedenken des BGH im vorliegenden Fall an.
„Offene Stichtagslösung“ ist unzulässig
Der Präsidiumsbeschluss vom Juli 2021 enthielt eine „offene Stichtagslösung“, die nachträglich über die Zuständigkeit entschied. Konkret wurden alle anhängigen Verfahren vom 9. an den 25. Senat übertragen – außer diejenigen, in denen bis 31.07.2021 (also einige Tage nach Beschluss) bereits ein Termin anberaumt oder ein Hinweisbeschluss erlassen wurde. Damit hing die Verteilung der bereits anhängigen Verfahren von zukünftigen Ereignissen ab, die der ursprünglich zuständige 9. Senat selbst herbeiführen konnte. Der BGH beanstandete, dass durch diese Regelung der 9. Senat die Zuständigkeit in die eigene Hand nehmen konnte, indem er innerhalb der gesetzten Frist einfach einen Termin ansetzte oder einen Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO erließ. Das bedeutet, die abstrakte Zuständigkeitsregel wurde im Einzelfall von einer Handlung des Spruchkörpers selbst abhängig gemacht – eine solche Delegation der Geschäftsverteilung an den Spruchkörper selbst ist verfassungsrechtlich unzulässig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des BGH muss eine Änderung der Geschäftsverteilung für bereits anhängige Verfahren immer so gestaltet sein, dass die konkrete Zuständigkeit nicht erst „im Nachhinein“ durch einzelne Maßnahmen bestimmt wird.
Im Ergebnis war die Geschäftsverteilung des OLG Karlsruhe im Jahr 2021 in diesem Punkt nicht hinreichend generell-abstrakt und verletzte Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Dieser Mangel setzte sich auch in dem zweiten Präsidiumsbeschluss vom April 2023 fort, der ja auf der fehlerhaften Verteilung von 2021 aufbaute. Folglich war der 4. Zivilsenat, der letztlich entschieden hatte, nicht korrekt besetzt. Der BGH hat das angefochtene Berufungsurteil daher konsequenterweise ohne Prüfung der Sachfrage aufgehoben (§ 562 Abs. 2 ZPO) und den Fall zur erneuten Verhandlung an den ursprünglich zuständigen 9. Zivilsenat des OLG Karlsruhe zurückverwiesen.
Hinweis: Die Revision wurde allein aufgrund des Besetzungsmangels erfolgreich – die inhaltlichen Fragen des Pferdekaufs hat der BGH gar nicht entschieden. Der Senat hat allerdings angemerkt, dass die vom Berufungsgericht herangezogenen materiell-rechtlichen Maßstäbe voraussichtlich korrekt waren. Insbesondere sei dem Käufer eines Pferdes grundsätzlich kein Sorgfaltsverstoß i.S.v. § 442 Abs. 1 S. 2 BGB anzulasten, wenn er keine tierärztliche Ankaufsuntersuchung veranlasst. Diese Einschätzung gab der BGH dem neu zur Entscheidung berufenen 9. Senat als Orientierung mit.
Bedeutung für die Praxis
Dieses Urteil hat wichtige praktische Implikationen für Gerichte und Rechtsanwälte:
- Gestaltung von Geschäftsverteilungsplänen: Gerichtspräsidien müssen bei unterjährigen Änderungen der Geschäftsverteilung strikt darauf achten, keine „offenen“ Kriterien aufzunehmen, die den Spruchkörpern Spielraum geben, Einfluss auf die Zuständigkeit zu nehmen. Jede Neuverteilung bereits anhängiger Verfahren muss so erfolgen, dass sie auf objektiven, bei Beschlussfassung bereits feststehenden Kriterien beruht. Andernfalls droht ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und die daraus resultierenden Entscheidungen sind angreifbar. Im Klartext: Ein Stichtag darf nicht in der Zukunft liegen, zu der der abgebende Senat noch reagieren kann – eine solche offene Stichtagsregelung ist unzulässig. Zulässig wäre dagegen eine „geschlossene“ Stichtagslösung, bei der z.B. alle Verfahren, in denen bis zum Tag X (Zeitpunkt des Präsidiumsbeschlusses) etwas geschehen ist, ausgenommen werden. So bleibt die Verteilung blind und manipulationsfrei. Gerichte, die wegen Überlastung oder anderen sachlichen Gründen Verfahren umverteilen müssen, sollten diese Anforderungen genau beachten, um Aufhebungen in der Revision zu vermeiden.
- Besetzungsrüge und Rechtsmittel: Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zeigt der Fall, dass sich ein kritischer Blick auf die Geschäftsverteilung lohnen kann. Stellt sich heraus, dass ein Verfahren aufgrund eines fragwürdigen Präsidiumsbeschlusses bei einem anderen Spruchkörper gelandet ist, kann eine Besetzungsrüge angebracht sein. Wichtig zu wissen: Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist unverzichtbar. Selbst wenn in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht keine Rüge erhoben wurde, kann der Mangel später noch geltend gemacht werden. Nach der Rechtsprechung greift die allgemeine Rügepräklusion (§ 295 ZPO) bei solch grundlegenden Verstößen nicht ein. Anders wäre es nur bei einfachen Fehlern in der Auslegung oder Anwendung eines ordnungsgemäßen Geschäftsverteilungsplans – dort muss eine Partei ggf. frühzeitig rügen. In Fällen wie dem vorliegenden jedoch kann der Rechtsmittelzug (Nichtzulassungsbeschwerde, Revision) erfolgreich genutzt werden, um eine Verletzung des Art. 101 GG zu korrigieren. Für die Praxis bedeutet dies: Auch ohne frühzeitige Rüge darf ein Urteil, das von einer verfassungswidrigen Geschäftsverteilung abhängt, keinen Bestand haben.
- Kein Urteil um jeden Preis: Abschließend unterstreicht die Entscheidung einen fundamentalen Grundsatz: Formelle Rechtsstaatlichkeit geht vor. Selbst wenn ein Urteil in der Sache richtig sein mag, wird es aufgehoben, wenn das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war. Dies soll das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Unparteilichkeit der Gerichte schützen. Praktisch führt eine fehlerhafte Geschäftsverteilung jedoch zu erheblichen Verzögerungen und Mehrkosten – im vorliegenden Fall muss der gesamte Berufungsprozess vor dem OLG neu aufgerollt werden. Es liegt daher im Interesse aller Verfahrensbeteiligten, derartige Fehler von vornherein zu vermeiden. Gerichtsleitungen sollten ihre Verteilungsbeschlüsse verfassungskonform gestalten, und Rechtsanwälte sollten bei Auffälligkeiten im Geschäftsverteilungsplan wachsam sein.
Der BGH schiebt mit diesem Urteil sog. „Last-Minute-Manipulationen“ einen Riegel vor. Eine Geschäftsverteilung, die es einem Spruchkörper ermöglicht, durch schnelle Terminierung oder sonstige Maßnahmen Fälle an sich zu ziehen oder abzugeben, verstößt gegen das Gebot des gesetzlichen Richters und macht das Verfahren angreifbar. Für die gerichtliche Praxis bedeutet dies eine klare Leitlinie: Justitia muss blind sein – jede Sache soll nach objektiven, vordefinierten Regeln ihrem Richter zugewiesen werden, ohne dass im Nachhinein daran gedreht werden kann. Dadurch werden nicht nur die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt, sondern auch zeitaufwändige Wiederholungsverfahren vermieden. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte wiederum haben mit diesem Urteil ein starkes Argument an der Hand, um im Zweifel die korrekte Besetzung des Gerichts überprüfen zu lassen und die Wahrung des Art. 101 GG einzufordern.