BAG-Urteil stärkt Entgeltgleichheit: Einzelner Vergleichskollege genügt (8 AZR 300/24 vom 23.10.2025)

24. Oktober 2025 -

Hintergrund: Gleiches Entgelt als Rechtsgrundsatz

Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit“ gilt in Deutschland und Europa seit langem. Bereits das EU-Primärrecht verlangt in Art. 157 AEUV von jedem Mitgliedstaat die Sicherstellung dieses Gleichbehandlungsgrundsatzes. In Deutschland verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) seit 2006 die geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung. Insbesondere normiert § 22 AGG eine Beweislastumkehr: Kann eine Arbeitnehmerin Indizien für eine Benachteiligung wegen des Geschlechts darlegen, muss der Arbeitgeber beweisen, dass kein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot vorliegt.

Um solche Indizien überhaupt erkennen zu können, trat 2017 das Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) in Kraft. Dieses Gesetz soll es Beschäftigten erleichtern, Equal Pay-Ansprüche durchzusetzen. Es gewährt etwa einen Auskunftsanspruch auf Angabe des Median-Gehalts vergleichbarer Kollegen des anderen Geschlechts in Betrieben ab 200 Beschäftigten. Zudem können §§ 3 und 7 EntgTranspG direkt als Anspruchsgrundlage für Entgeltgleichheit herangezogen werden. Dennoch blieben Klagen auf gleiches Entgelt selten und stießen in der Praxis auf erhebliche Hürden – oft wurden an den statistischen Nachweis einer Diskriminierung sehr hohe Anforderungen gestellt.

Der Fall: Abteilungsleiterin klagt auf Equal Pay

Vor diesem Hintergrund erregte der Fall einer langjährigen Abteilungsleiterin bei der Daimler Truck AG Aufsehen. Die Managerin stellte nach ihrer Elternzeit fest, dass sie deutlich weniger verdiente als vergleichbare männliche Abteilungsleiter. Von einem Kollegen kannte sie sogar das konkrete Gehalt und machte dieses zum Maßstab ihrer Klage auf Entgeltdifferenz wegen Geschlechtsdiskriminierung. Unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) verlangte sie rückwirkend die finanzielle Gleichstellung mit den männlichen Kollegen – orientiert am Spitzenverdiener in der Vergleichsgruppe.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg wies die Klage in der Hauptsache jedoch ab (Urt. v. 01.10.2024 – 2 Sa 14/24). Nach Auffassung des LAG genügte ein einzelner männlicher Vergleichskollege nicht als Beleg für eine geschlechtsbedingte Benachteiligung. Aufgrund der Größe der männlichen Vergleichsgruppe und der Medianentgelte von Männern und Frauen bestehe keine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Diskriminierung; folglich liege auch kein Indiz i.S.v. § 22 AGG vor. Die Klägerin erhielt nur einen begrenzten Ausgleich: Für einige Gehaltsbestandteile sprach das LAG ihr die Differenz zwischen dem Medianlohn der männlichen und weiblichen Abteilungsleiter zu (rund 130.000 € für vier Jahre). Den vollen Anspruch auf Gleichstellung mit dem Top-Verdiener verneinte das Gericht hingegen.

Die Klägerin sah darin eine unzulässige Beschränkung des Equal-Pay-Grundsatzes und legte Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) ein. Am 23.10.2025 verhandelte der Achte Senat des BAG den Fall in Erfurt – mit grundlegenden Klarstellungen zugunsten der Entgeltgleichheit.

Entscheidung des BAG: Ein Kollege als Vergleich genügt

Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil des LAG weitgehend auf und verwies den Fall zur neuen Verhandlung zurück. In seinem Urteil (BAG, Urt. v. 23.10.2025 – 8 AZR 300/24) stellt das BAG unmissverständlich klar: Eine einzelne Vergleichsperson des anderen Geschlechts reicht aus, um die Vermutung einer ungleichen Bezahlung wegen Geschlechts zu begründen. Mit anderen Worten: Stellt eine Arbeitnehmerin dar, dass ein männlicher Kollege für die gleiche oder gleichwertige Tätigkeit ein höheres Entgelt erhält, ist damit regelmäßig ein ausreichendes Indiz für eine Diskriminierung gegeben. Eine “überwiegende Wahrscheinlichkeit” im statistischen Sinne ist nicht erforderlich.

Das BAG betonte, dass entgegen der LAG-Ansicht kein Großgruppenvergleich oder Medianwert nötig ist. Die Größe der Vergleichsgruppe und die Höhe etwaiger Medianentgelte spielen für das Eingreifen der Vermutungswirkung keine Rolle. Entscheidend ist allein der Paarvergleich: der direkte Vergleich zwischen der Klägerin und einem besser bezahlten Kollegen. Diese Sichtweise entspricht den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und wahrt den Effektivitätsgrundsatz des EU-Gleichheitsrechts.

Im konkreten Fall hatte die Klägerin – gestützt auf das betriebsinterne Entgelttransparenz-Dashboard – ausreichend Tatsachen zu mindestens einem höher vergüteten männlichen Kollegen vorgetragen. Damit griff die gesetzliche Vermutung einer Benachteiligung wegen des Geschlechts Platz. Die Folge: Der Arbeitgeber muss nun beweisen, dass kein Gender-Pay-Gap im Sinne einer Diskriminierung vorliegt, will heißen: Er muss plausible sachliche Rechtfertigungsgründe für den Gehaltsunterschied darlegen.

Rechtsgrundlagen und Bedeutung der Entscheidung

Mit diesem Grundsatzurteil hat das BAG die Rechte von Arbeitnehmerinnen auf Entgeltgleichheit deutlich gestärkt – und zugleich Arbeitgeber an ihre Darlegungslast erinnert. Die Entscheidung knüpft an geltendes Recht an: Bereits § 3 Abs. 2 AGG definiert eine unmittelbare Diskriminierung als eine schlechtere Bezahlung wegen des Geschlechts, wenn für die gleiche oder gleichwertige Arbeit ein geringeres Entgelt gezahlt wird. § 7 EntgTranspG statuiert ebenfalls den Anspruch auf gleiches Entgelt für Frauen und Männer bei gleicher oder gleichwertiger Tätigkeit. § 22 AGG bewirkt die erwähnte Beweislastumkehr, sobald Indizien für eine Benachteiligung vorliegen. Diese Normen setzen europäische Vorgaben um – insbesondere Art. 157 AEUV und die Gleichbehandlungsrichtlinie 2006/54/EG. Die EuGH-Rechtsprechung hatte wiederholt klargestellt, dass bereits ein einzelnes Vergleichsbeispiel einer ungerechtfertigten Entgeltdifferenz die Diskriminierungsvermutung auslöst (z.B. EuGH Danfoss, Urt. v. 17.10.1989, C-109/88). Das BAG folgt nun konsequent diesen Leitlinien und verhindert, dass durch überzogene Beweisanforderungen der Schutz vor Entgeltdiskriminierung ausgehöhlt wird.

Bemerkenswert ist, dass das BAG die Sache dennoch zurück an das LAG verwiesen hat. Dies gibt dem Arbeitgeber – hier Daimler Truck – die Gelegenheit, konkrete Rechtfertigungsgründe für die ungleiche Bezahlung nachzuliefern. In der Verhandlung hatte das Unternehmen argumentiert, die Klägerin habe leistungsschwächer gearbeitet und werde daher geringer bezahlt (sogar unterhalb des Medianlohns der Frauen in vergleichbarer Position). Ein Leistungsunterschied oder höhere Qualifikation kann tatsächlich einen objektiven Grund für Gehaltsdifferenzen darstellen. Allerdings hat die Vorsitzende BAG-Richterin auch auf die Intransparenz des Entgeltsystems im Unternehmen hingewiesen. Und nach ständiger EuGH-Rechtsprechung müssen Arbeitgeber in einem undurchsichtigen Vergütungssystem besonders schlüssig und nachvollziehbar darlegen, dass geschlechtsneutrale Faktoren die Lohnunterschiede bewirken. Gelingt dem Arbeitgeber dieser Entlastungsbeweis nicht, hat die klagende Frau Anspruch auf das gleiche Gehalt wie der herangezogene männliche Kollege – und nicht nur auf den Medianwert. Das BAG hat mit seiner Entscheidung somit einen neuen Maßstab gesetzt, der die Hürden für Equal-Pay-Klagen deutlich senkt und den Anwendungsbereich des Entgelttransparenzgesetzes effektiv untermauert.

Nebenbei wirft der Fall ein Licht auf die praktischen Grenzen der aktuellen Rechtslage: Trotz EntgTranspG konnte die Klägerin das konkrete Gehalt ihres Vergleichskollegen nur erfahren, weil sie es zufällig kannte – ein allgemeiner Auskunftsanspruch auf individuelle Gehälter besteht nämlich nicht. Daran wird voraussichtlich auch die neue EU-Entgelttransparenzrichtlinie von 2023 nichts Grundlegendes ändern: Sie erweitert zwar den Kreis der auskunftspflichtigen Arbeitgeber (auch unter 200 Beschäftigte), belässt es aber ebenfalls bei der Nennung von statistischen Durchschnittswerten. Transparenz in Gehaltsfragen bleibt somit weiterhin eine Herausforderung.

Praktische Konsequenzen und Tipps für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Das BAG-Urteil vom 23.10.2025 hat erhebliche praktische Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten ein starkes Instrument, um Equal Pay-Ansprüche durchzusetzen, während Arbeitgeber sich auf eine strengere Prüfung ihrer Entgeltstrukturen einstellen müssen. Beide Seiten sollten aus diesem Urteil Lehren ziehen:

  • Für Arbeitnehmerinnen (und Arbeitnehmer): Wer den Verdacht hat, für gleichwertige Arbeit schlechter bezahlt zu werden, sollte das Gespräch suchen und Informationen sammeln. Auch wenn das EntgTranspG nur Medianentgelte liefert, können bereits auffällige Unterschiede ein Indiz sein. Scheuen Sie sich nicht, Kolleginnen und Kollegen nach ihrem Gehalt zu fragen – Offenheit kann helfen, verdeckte Diskriminierungen aufzudecken. Dank der neuen BAG-Rechtsprechung genügt ein einziger besser bezahlter Vergleichskollege, um rechtlich Druck auszuüben. Wichtig ist, vergleichbare Tätigkeiten darzulegen (Aufgaben, Verantwortung, Qualifikation sollten ähnlich sein). Sobald ein solcher Fall bekannt ist, können Sie Ihren Arbeitgeber auffordern, den Unterschied zu erklären oder rechtlichen Rat einholen. Beachten Sie dabei mögliche Fristen: Ansprüche auf Entgeltnachzahlung und Entschädigung wegen Diskriminierung sollten zeitnah geltend gemacht werden.
  • Für Arbeitgeber: Prüfen Sie Ihre Entgeltstrukturen jetzt besonders genau. Unterschiedliche Bezahlungen auf gleicher Hierarchieebene müssen sachlich gerechtfertigt sein. Objektive Kriterien wie Berufserfahrung, Leistungsbewertungen, Qualifikationen oder Verantwortungsumfang sollten nachvollziehbar dokumentiert werden, um eventuelle Gehaltsunterschiede zu erklären. Verlassen Sie sich nicht darauf, dass Unterschiede schon statistisch „untergehen“ – ein einzelner Ausreißer nach oben kann künftig zum Präzedenzfall werden. Insbesondere größere Unternehmen mit vielen Beschäftigten sollten ein transparentes Vergütungssystem etablieren, um Willkürverdacht vorzubeugen. Im Streitfall trägt der Arbeitgeber die Beweislast für die Rechtmäßigkeit seiner Entgeltpraxis. Gelingt ihm dieser Nachweis nicht, drohen Nachzahlungsansprüche in erheblicher Höhe sowie ggf. Entschädigungen nach § 15 AGG. Zur Risikovorsorge empfiehlt es sich, Equal Pay-Audits durchzuführen und proaktiv etwaige ungerechtfertigte Unterschiede zu beseitigen. Angesichts der geplanten Ausweitung der Auskunftsansprüche (Umsetzung der EU-Richtlinie bis 2026) sollten auch mittelständische Arbeitgeber frühzeitig für Entgelttransparenz sorgen und sich auf vermehrte Auskunftsersuchen einstellen.

Das Urteil des BAG vom 23.10.2025 ist ein Meilenstein für die Entgeltgleichheit. Es erleichtert Beschäftigten die Durchsetzung ihres Anspruchs auf gleiches Gehalt und mahnt Arbeitgeber, geschlechtsneutral zu entlohnen. In der Praxis sollten beide Seiten dieses Urteil zum Anlass nehmen, transparente und faire Gehaltsstrukturen zu schaffen – im Interesse eines diskriminierungsfreien Arbeitsumfelds. Denn letztlich profitieren Unternehmen von motivierten, gerecht entlohnten Mitarbeitern, und Arbeitnehmer von einer Bezahlung, die ihrer Leistung gerecht wird. Die Entscheidung aus Erfurt sendet hier ein deutliches Signal: Gleiche Arbeit verdient gleiches Geld.