EuGH kippt Teile der EU-Mindestlohnrichtlinie – Was bedeutet das für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?

11. November 2025 -

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 11. November 2025 ein wichtiges Urteil zur EU-Mindestlohnrichtlinie gefällt und dabei zentrale Vorgaben für nichtig erklärt. In diesem Rechtstipp fassen wir die Hintergründe des Falls, den Inhalt des Urteils und die juristische Begründung zusammen. Außerdem beleuchten wir die Auswirkungen auf nationale Gesetzgeber, Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer und geben Hinweise, wie sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf die Entscheidung einstellen sollten.

Hintergrund: Ziel der EU-Mindestlohnrichtlinie und der Fall Dänemark

Die EU-Mindestlohnrichtlinie (Richtlinie (EU) 2022/2041) wurde im Oktober 2022 beschlossen und sollte bis spätestens Januar 2025 in nationales Recht umgesetzt werden. Ziel der Richtlinie war es, europaweit für angemessene Mindestlöhne zu sorgen und die Tarifbindung zu stärken, um faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu fördern. Anders als das deutsche Mindestlohngesetz enthielt die EU-Richtlinie keine festen Euro-Beträge, sondern setzte auf einen Rahmen mit Berichtspflichten, Förderung der Tarifverhandlungen (kollektive Lohnfindung) und Vorgaben für Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung von Mindestlöhnen. In der Richtlinie war auch ein Kriterienkatalog vorgesehen, der z.B. objektive Referenzwerte wie 60 % des Medianlohns oder 50 % des Durchschnittslohns als Anhaltspunkt für angemessene Mindestlöhne nennt. Hintergrund dieser Referenzwerte ist die große Spannweite der Mindestlöhne in Europa: In 22 der 27 EU-Staaten gibt es gesetzliche Lohnuntergrenzen – von wenigen hundert Euro (z.B. in Bulgarien) bis über 2.700 € (in Luxemburg) – während Länder wie Dänemark und Schweden gar keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn kennen (sie setzen traditionell auf tarifliche Lohnvereinbarungen).

Dänemark hat – unterstützt von Schweden – gegen die Mindestlohnrichtlinie geklagt, da es eine Kompetenzüberschreitung der EU befürchtete. Insbesondere Länder ohne gesetzlichen Mindestlohn sahen ihre Lohnpolitik und Tarifautonomie in Gefahr. Dänemark verlangte vor dem EuGH die vollständige Nichtigerklärung der Richtlinie. Zur Begründung führte das Land an, die EU greife mit der Richtlinie unzulässig in die nationale Festlegung der Löhne und die Koalitionsfreiheit (Tarifautonomie) ein – beides Bereiche, die laut EU-Vertrag eigentlich den Mitgliedstaaten vorbehalten sind.

Das EuGH-Urteil vom 11. November 2025: Inhalt und nichtige Bestimmungen

Mit seinem Urteil vom 11.11.2025 hat der EuGH der Klage Dänemarks teilweise stattgegeben. Der Gerichtshof bestätigte zwar die Gültigkeit eines Großteils der Richtlinie, erklärte aber zwei Bestimmungen für nichtig, weil die EU hier ihre Kompetenzen überschritten hat. Konkret kippte der EuGH folgende zentrale Vorgaben der Richtlinie:

  • Kriterienkatalog für Mindestlohnfestsetzung: Die Richtlinie listete Kriterien auf, die Mitgliedstaaten mit gesetzlichem Mindestlohn bei der Festlegung und Aktualisierung des Mindestlohns berücksichtigen sollten. Dazu zählten insbesondere die Kaufkraft des Mindestlohns (unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten), das allgemeine Lohnniveau und dessen Verteilung, die Lohnwachstumsraten sowie die langfristigen Produktivitätsentwicklungen. Diese Vorgabe – geregelt in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie – hat der EuGH für unwirksam erklärt. Die Richter sahen darin einen unzulässigen Eingriff in die nationale Lohnfindung, da die EU hier faktisch eine teilweise Harmonisierung von Lohnbestandteilen vornimmt. Anders ausgedrückt: Dass die EU solche Kriterien vorschreibt, stelle einen unmittelbaren Eingriff in die Festsetzung der Arbeitsentgelte dar, was über ihre Befugnisse hinausgeht.
  • Indexierungsverbot für Lohnsenkungen: Ebenfalls für nichtig erklärt wurde eine Bestimmung, die untersagte, gesetzliche Mindestlöhne zu senken, wenn diese nach nationalem Recht automatisch indexiert werden (z.B. an die Inflation gekoppelt sind). Diese Regel – in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie – sollte verhindern, dass bei indexgebundenen Löhnen etwa infolge sinkender Preisindizes eine automatische Abwärtsanpassung erfolgen könnte. Der EuGH wertete aber auch dies als unzulässigen Eingriff, da die EU damit die nationale Entscheidungshoheit über die Höhe von Löhnen beschränkt.

Für den restlichen Inhalt der Richtlinie hat der EuGH die Klage abgewiesen. Insbesondere bleiben die Vorschriften zur Förderung der Tarifbindung voll gültig. Dänemark ist also damit nur teilweise erfolgreich gewesen: Die besonders umstrittenen Eingriffe in die Lohnsetzung wurden gestoppt, während das übrige Regelwerk Bestand hat. Es gibt somit keine vollständige Aufhebung der EU-Mindestlohnrichtlinie, sondern nur eine punktuelle Korrektur.

Begründung des EuGH: EU-Kompetenzen vs. nationale Lohnpolitik

Rechtlich stützt sich das Urteil im Kern auf die Kompetenzverteilung in der EU gemäß dem Vertrauensgrundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) darf die Union im Bereich Arbeitsbedingungen tätig werden und Mindestvorschriften per Richtlinie erlassen. Allerdings schließt Art. 153 Abs. 5 AEUV bestimmte Bereiche ausdrücklich von dieser Sozialpolitik-Kompetenz aus – darunter „das Arbeitsentgelt“ (Löhne/Gehälter) sowie das Koalitionsrecht (Tarifautonomie), Streikrecht und Aussperrungsrecht. Diese Klausel soll sicherstellen, dass Entscheidungen über Lohnhöhen den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben.

Die EU-Gesetzgeber (Parlament und Rat) hatten bei Erlass der Richtlinie versucht, diese Bedenken auszuräumen. In Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie stellten sie klar, dass man den Mitgliedstaaten nicht die Zuständigkeit für die Festlegung der Mindestlohn-Höhe nehme noch sie dazu verpflichte, überhaupt einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Gleichwohl sah Dänemark hierin nur einen formalen Vorbehalt, dem die tatsächlichen Richtlinienvorgaben widersprachen, und rief den EuGH als „Hüter der Verträge“ an.

Der Generalanwalt beim EuGH, Athanasios Rantos (bzw. dessen Schlussanträge vertreten durch Generalanwalt Nicholas Emiliou), unterstützte die dänische Sicht weitgehend: In seinem Gutachten vom 14. Januar 2025 empfahl er sogar, die Mindestlohnrichtlinie vollständig für unwirksam zu erklären. Er betonte, das Ausschlusskriterium „Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV sei breit zu verstehen und schließe alle Lohnelemente von EU-Regelungen aus. Die EU habe sich bei dieser Richtlinie also auf sehr dünnem Eis bewegt, so der Generalanwalt sinngemäß.

Der EuGH wählte in seinem Urteil jedoch einen Mittelweg. Er stellte klar, dass nicht jede Maßnahme, die irgendwie Auswirkungen auf Löhne hat, automatisch unzulässig ist. Würde man jeglichen Bezug zu Löhnen verbieten, wäre die EU im Bereich der Arbeitsbedingungen quasi handlungsunfähig, da viele arbeitsrechtliche Regelungen indirekt auch Löhne berühren. Daher begrenzte der Gerichtshof die Nichtigkeitsfolgen auf jene Teile, die eine unmittelbare Harmonisierung der Lohnhöhe bewirken würden. In den Worten der Richter: Der EU-Gesetzgeber darf keine teilweise Harmonisierung der Bestandteile gesetzlicher Mindestlöhne vornehmen oder direkt in die Entgeltfestsetzung eingreifen. Genau dies habe er aber mit dem starren Kriterienkatalog und dem Indexierungsverbot getan – und nur insoweit wurde die Richtlinie kassiert.

Hingegen bejaht der EuGH, dass die übrigen Bestimmungen der Richtlinie rechtmäßig sind. Insbesondere sah das Gericht keinen unzulässigen Eingriff in die Koalitionsfreiheit der Mitgliedstaaten. Die Vorschriften zur Förderung von Tarifverhandlungen – etwa die Pflicht, bei geringer Tarifbindung einen Aktionsplan aufzustellen – würden nicht verlangen, dass mehr Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beitreten. Die Mitgliedstaaten behalten die Gestaltungsfreiheit, wie sie höhere Tarifabdeckungsraten erreichen, ohne die individuelle Vereinsfreiheit der Arbeitnehmer zu beschneiden. Damit wahrt das Urteil den sensiblen Ausgleich: Die EU darf Rahmenbedingungen für fairere Löhne setzen (z.B. Tarifverhandlungen stärken), überschreitet aber die Grenze, wo sie unmittelbar Lohnhöhe und Lohnfindung vereinheitlicht.

Zusammengefasst lautet die Quintessenz der Entscheidung: Die EU kann vieles im Sozialbereich regeln, aber „eben nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten“. Die Auslegung des EuGH wird je nach Standpunkt unterschiedlich bewertet – die einen sehen darin einen mutigen Schritt zugunsten der Mitgliedstaaten, andere betonen, der EuGH habe damit die Integrität des Unionsrechts gewahrt, indem er einen Kompromiss zwischen sozialpolitischem Fortschritt und vertraglichen Kompetenzgrenzen gefunden hat.

Auswirkungen auf nationale Gesetzgeber (z. B. Deutschland)

Für die nationalen Gesetzgeber bedeutet das Urteil in erster Linie, dass sie die meisten Vorgaben der EU-Mindestlohnrichtlinie weiterhin umsetzen müssen – lediglich die beiden für nichtig erklärten Punkte entfallen. In Deutschland etwa bleibt die Verpflichtung bestehen, einen Aktionsplan zur Steigerung der Tarifbindung vorzulegen. Diese Verpflichtung greift laut Richtlinie, wenn weniger als 80 % der Beschäftigten eines Landes von Tarifverträgen erfasst sind. Deutschland liegt derzeit deutlich unter dieser Schwelle (nur rund 50 % Tarifabdeckung) und hätte daher schon bis November 2024 eigentlich einen solchen Plan bei der EU einreichen müssen. Tatsächlich hat die Bundesregierung dies bislang versäumt und kündigt nun an, den Tarifbindungs-Aktionsplan bis zum 31. Dezember 2025 nachzuliefern. Die Vorbereitung läuft bereits, unter Einbeziehung von Stellungnahmen der Sozialpartner (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände).

Gesetzgeberischer Anpassungsbedarf beim Mindestlohngesetz selbst besteht durch das Urteil nicht unmittelbar. Denn die Höhe des deutschen gesetzlichen Mindestlohns wurde bereits unabhängig von der EU-Richtlinie festgelegt. So hat das Bundeskabinett Ende Oktober 2025 – basierend auf den Empfehlungen der Mindestlohnkommission – beschlossen, den Mindestlohn zum 1. Januar 2026 auf 13,90 € und ein Jahr später auf 14,60 € anzuheben. Diese Erhöhungen folgen nationalen politischen Vereinbarungen und orientieren sich an der Entwicklung von Löhnen und Wirtschaftslage in Deutschland, nicht an EU-Vorgaben. Direkte Auswirkungen des EuGH-Urteils auf die aktuelle Mindestlohnhöhe gibt es somit keine. Der deutsche Mindestlohn existiert bereits seit 2015 und wurde seither schrittweise erhöht – daran ändert das Urteil nichts.

Allerdings hatte die EU-Richtlinie mit ihrem (nun nichtigen) Kriterienkatalog für „angemessene Mindestlöhne“ auch in Deutschland Diskussionen angestoßen. Insbesondere die Referenzgröße „60 % des Medianlohns“ hätte für Deutschland einen deutlich höheren Mindestlohn bedeutet – nach Gewerkschaftsangaben über 15 €. Einige politische Stimmen (etwa aus der SPD im Bundestagswahlkampf 2021) forderten daher, den Mindestlohn auf 15 € anzuheben und verwiesen zur Begründung auf die EU-Kriterien. Diese Argumentation verliert nun an Schlagkraft, da gerade jene EU-Vorgaben vom Gericht kassiert wurden. Der deutsche Gesetzgeber kann natürlich weiterhin aus eigenem Antrieb solche Kriterien berücksichtigen oder höhere Lohnuntergrenzen beschließen – aber ein rechtlicher Druck aus Brüssel besteht dafür nicht mehr. In der Praxis dürfte es politisch dennoch Debatten geben, ob nationale Regelungen ausreichend sind, um Existenz sichernde Löhne zu garantieren. Gewerkschaften (allen voran der DGB) haben bereits angekündigt, dass sie nun verstärkt die Überprüfung des nationalen Mindestlohngesetzes fordern, um sicherzustellen, dass auch ohne EU-Vorgaben angemessene Kriterien für die Lohnhöhe gelten.

Zusammengefasst: Nationale Parlamente müssen die Essenz der Richtlinie – Förderung fairer Löhne und Tarifbindung – weiterhin umsetzen. Deutschland zum Beispiel kommt um zusätzliche Anstrengungen zur Stärkung der Tarifbindung nicht herum. An den konkret geltenden Mindestlohngesetzen müssen die Länder wegen des Urteils aber nichts ändern, da die EU hier letztlich keinen Eingriff durchsetzen konnte. Die Verantwortung für die Mindestlohnhöhe liegt (wieder) vollständig in nationaler Hand.

Auswirkungen auf Arbeitgeber (tarifgebundene vs. nicht tarifgebundene Unternehmen)

Arbeitgeber in der EU – und speziell in Deutschland – sind von dem Urteil unterschiedlich betroffen, je nachdem, ob sie tarifgebunden sind oder nicht:

  • Tarifgebundene Unternehmen (also Arbeitgeber, die an einen Tarifvertrag gebunden sind) haben meist ohnehin Löhne vereinbart, die über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Für sie ändert das EuGH-Urteil kurzfristig wenig. Im Gegenteil, die Richtlinie – soweit sie in Kraft bleibt – bestätigt die Bedeutung von Tarifverträgen. Solche Arbeitgeber haben durch bestehende Tarifbindung bereits zur Zielerreichung der Richtlinie beigetragen. Langfristig könnte es jedoch zu einer Stärkung der Tarifautonomie kommen, wenn die Mitgliedstaaten Tarifabschlüsse noch stärker fördern. Tarifgebundene Arbeitgeber könnten dann profitieren, weil staatlicher Druck eher jene Unternehmen trifft, die sich der Tarifbindung entziehen.
  • Nicht tarifgebundene Unternehmen (oft kleinere oder mittelständische Betriebe ohne Tarifvertrag) standen im Fokus vieler Richtlinienvorgaben. Sie zahlen ihren Beschäftigten häufig nur den gesetzlichen Mindestlohn oder knapp darüber. Für diese Arbeitgeber ist positiv, dass die EU keine festen Lohnsteigerungs-Formeln (wie „60 % des Medianlohns“) vorschreiben darf. Eine potenzielle Pflicht, den Mindestlohn auf ein bestimmtes Niveau anzuheben, wurde durch das Urteil abgewendet. Das nimmt zunächst Druck vom einzelnen Arbeitgeber, der sonst mit steigenden Lohnkosten aufgrund EU-weit einheitlicher Kriterien hätte rechnen müssen. Allerdings bleibt die allgemeine Tendenz bestehen, dass Löhne angemessen gestaltet sein sollen – diese Angemessenheit wird nun wieder rein national bestimmt. Zudem könnte es indirekt zu mehr Tarifbindung kommen: Die Richtlinie fordert die Mitgliedstaaten auf, höhere Tarifabdeckung anzustreben. Das kann etwa bedeuten, dass Regierungen Anreize setzen oder Maßnahmen ergreifen, damit mehr Arbeitgeber Tarifverträge abschließen. Nicht-tarifgebundene Betriebe könnten daher künftig stärker motiviert oder gedrängt werden, sich Tarifverbänden anzuschließen oder Haustarifverträge abzuschließen, um Fachkräfte zu binden und politischem Druck zuvorzukommen.

Die Arbeitgeberverbände begrüßen einerseits, dass der EuGH eine Über-Regulierung seitens der EU gebremst hat, sehen andererseits aber die verbleibenden Pflichten kritisch. So betonte etwa die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), es sei problematisch, dass weite Teile der Richtlinie bestätigt wurden, und forderte die Bundesregierung auf, weiteren Eingriffen der EU in die nationale Sozialpolitik entschlossen entgegenzutreten. Aus Arbeitgebersicht bleibt also ein gewisses Unbehagen: Zwar konnte eine europäische Lohnformel abgewendet werden, doch die EU-Richtlinie – und damit der Einfluss der EU auf Tarifpolitik – ist nicht vollständig vom Tisch. Besonders in Branchen ohne flächendeckende Tarifverträge müssen Unternehmer damit rechnen, dass staatliche Stellen (Gesetzgeber oder Ministerien) nun aktiv werden, um die Tarifbindung zu erhöhen (z.B. durch Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen, durch Förderprogramme oder politischen Druck). Für tarifgebundene Arbeitgeber könnte dies sogar Vorteile im Wettbewerb bringen, da Konkurrenten nicht mehr allein über niedrige Löhne (unter Tarifniveau) Kostenvorteile erzielen können.

Auswirkungen auf Arbeitnehmer (insb. Geringverdienende)

Für Arbeitnehmer, insbesondere solche mit geringem Einkommen, ist das Urteil auf den ersten Blick ein gemischtes Ergebnis. Positiv ist, dass die EU-Mindestlohnrichtlinie in ihrem Grundsatz bestehen bleibt und weiterhin darauf abzielt, angemessene Löhne und eine stärkere Tarifbindung sicherzustellen. Das bedeutet: Auch künftig müssen Regierungen beobachten und berichten, ob die Mindestlöhne zum Leben reichen, und es gibt politischen Rückenwind für höhere Tarifabschlüsse. Wer in einem tarifgebundenen Betrieb arbeitet, könnte langfristig von neuen oder verbesserten Tarifverträgen profitieren, denn die Richtlinie fördert ja gerade die Ausweitung solcher Abkommen.

Andererseits entfällt mit der Nichtigerklärung der EU-Kriterien ein möglicher Hebel für kräftigere Lohnerhöhungen bei den gesetzlichen Mindestlöhnen. Arbeitnehmer in Niedriglohnjobs hatten gehofft, dass durch verbindliche EU-Vorgaben (z.B. die 60 %-Medianlohnschwelle) ihr Mindestlohn deutlich steigen würde. Diese Erwartung wurde nun gedämpft – es gibt keine automatische Anpassung an solche EU-Referenzwerte. In Deutschland etwa wäre ein 60 %-Median-Mindestlohn jenseits der 15 €-Marke gelegen, während aktuell 12,82 € (bzw. bald 13,90 €) gelten. Einige Politiker hatten die EU-Richtlinie als Argument genutzt, um 15 € zu fordern, doch diese Forderung ist nun schwieriger durchzusetzen, da der europäische Rückenwind fehlt.

Für Arbeitnehmer in Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn (wie Dänemark, Schweden, Österreich, Italien u.a.) bedeutet das Urteil, dass ihr jeweiliges nationales System (tarifliche Lohnfindung ohne staatliche Lohnuntergrenze) vorerst unverändert bleibt. Die EU wird ihnen keine Lohnuntergrenze aufzwingen. Allerdings wird auch in diesen Ländern genau beobachtet werden, ob die Löhne insbesondere im Niedriglohnbereich ausreichen. Die Richtlinie fordert alle Mitgliedstaaten – auch die ohne gesetzlichen Mindestlohn – dazu auf, angemessene Mindestentgelte zu sichern (in tariflicher oder gesetzlicher Form). Arbeitnehmer in diesen Ländern sollten daher ein Interesse daran haben, dass Tarifverträge ausgehandelt werden, die auch tatsächlich alle relevanten Branchen und Beschäftigten abdecken.

Die Gewerkschaften sehen das EuGH-Urteil mit gemischten Gefühlen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bewertete den Tag der Urteilsverkündung einerseits als „guten Tag für Millionen Beschäftigte in Europa“, weil die Verpflichtung der Mitgliedstaaten bestehen bleibt, für höhere Tarifbindung zu sorgen. Der EuGH stärke die Rechte der Arbeitnehmer und den sozialen Zusammenhalt in Europa, so der DGB. Andererseits wird bedauert, dass die einheitlichen europäischen Kriterien für angemessene Mindestlöhne gekippt wurden. Mit anderen Worten: Arbeitnehmervertreter begrüßen, dass Tariflöhne gefördert werden, bedauern aber, dass kein EU-weit einheitlicher Maßstab für Mindestlohn-Höhen etabliert werden konnte. Umso mehr richten sie nun ihren Appell an die nationalen Regierungen – im Fall Deutschlands konkret an die Bundesregierung – das nationale Mindestlohngesetz zu überprüfen und ggf. eigene Kriterien für eine Lohnuntergrenze, die zum Leben reicht, einzuführen.

Unmittelbar müssen Arbeitnehmer keine Verschlechterungen durch das Urteil befürchten: Kein bestehender Mindestlohn wird gesenkt oder außer Kraft gesetzt. In Deutschland steigt der Mindestlohn planmäßig weiter an. Die Entscheidung aus Luxemburg bedeutet vor allem, dass zukünftige Lohnsteigerungen wieder stärker vom nationalen politischen Willen und der Tarifautonomie abhängen. Beschäftigte – insbesondere in Mindestlohnjobs – sollten daher ihr Augenmerk darauf richten, wie die heimische Politik und die Sozialpartner mit dem Thema Lohnentwicklung umgehen.

Praxistipp: Wie sollten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer jetzt einstellen?

Das EuGH-Urteil hat einerseits Klarheit geschaffen, dass die Lohnhöhe primär nationale Sache bleibt, andererseits aber auch bestätigt, dass die Förderung fairer Löhne und Tarifbindungen auf EU-Ebene politisch gewollt ist. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können aus diesem Ergebnis konkrete Schlussfolgerungen ziehen:

Arbeitgeber

  • Nationale Vorgaben beachten: Arbeitgeber sollten weiterhin die nationalen Mindestlohnregelungen genau einhalten und kommende Änderungen im Auge behalten. Zwar entfallen EU-Vorgaben zu Berechnungskriterien, doch nationale Mindestlohn-Kommissionen oder Gesetzgeber könnten künftig eigene Angemessenheitskriterien (z.B. Inflationsentwicklung, Produktivität) stärker betonen. Es ist ratsam, die Entscheidungen der deutschen Mindestlohnkommission und die Politikdebatten hierzu aufmerksam zu verfolgen.
  • Tarifbindung erwägen: Unternehmen ohne Tarifvertrag sollten prüfen, ob eine Tarifbindung (z.B. durch Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband) für sie sinnvoll sein könnte. Da die Richtlinie die Mitgliedstaaten anhält, die Tarifabdeckung zu erhöhen, könnten in Zukunft Vorteile für tarifgebundene Betriebe entstehen – etwa bei öffentlichen Aufträgen oder Fördermaßnahmen. Zudem schafft Tarifbindung Rechtssicherheit und kann den sozialen Frieden im Betrieb fördern. Das Urteil signalisiert: Der Trend geht zu mehr Tarifpartnerschaft, nicht weniger.
  • Kein Automatismus bei Löhnen, aber soziale Verantwortung: Durch den Wegfall der EU-Kriterien gibt es keinen Automatismus, der Unternehmen zu bestimmten Lohnanhebungen zwingt. Dennoch bleibt die gesellschaftliche Erwartung bestehen, dass Löhne mit der Zeit steigen und zumindest die Lebenshaltungskosten decken. Arbeitgeber sollten dies bei ihrer Personalplanung berücksichtigen. Faire Löhne helfen, Fachkräfte zu halten und Motivation sowie Produktivität zu steigern. Es kann sich lohnen, proaktiv angemessene Lohnerhöhungen zu gewähren, statt auf gesetzlichen Zwang zu warten.
  • Branchenentwicklungen folgen: Gerade Arbeitgeberverbände und HR-Verantwortliche sollten die weiteren politischen Entwicklungen beobachten. In Deutschland steht etwa der angekündigte Aktionsplan zur Tarifbindung bevor – daraus könnten sich neue Empfehlungen oder sogar Gesetzesinitiativen ergeben, die Betriebe betreffen (beispielsweise erleichterte Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen oder Berichts- und Auskunftspflichten bezüglich Löhnen). Hier ist es wichtig, frühzeitig informiert zu sein und ggf. an Branchendialogen oder Anhörungen teilzunehmen.

Arbeitnehmer

  • Mindestlohn-Anpassungen verfolgen: Arbeitnehmer – besonders im Niedriglohnsektor – sollten die nationale Mindestlohnentwicklung aufmerksam verfolgen. Da die EU keinen festen Maßstab vorgeben darf, wird das Gewicht verstärkt auf den Entscheidungen der heimischen Politik liegen. In Deutschland bedeutet das, die Beschlüsse der Mindestlohnkommission und der Bundesregierung im Blick zu behalten. Arbeitnehmer können sich über Gewerkschaften oder Medien informieren, welche Lohnuntergrenzen geplant sind, und ihre Erwartungshaltung in die politische Diskussion einbringen (z.B. über Wahlen oder Petitionen).
  • Gewerkschaftliche Organisation: Das Urteil unterstreicht die Bedeutung von Tarifverträgen für gute Löhne. Beschäftigte, insbesondere in Unternehmen ohne Tarifbindung, sollten in Erwägung ziehen, einer Gewerkschaft beizutreten oder zumindest betriebliche Interessensvertretungen (Betriebsrat) zu stärken. Je mehr Arbeitnehmer organisiert sind, desto eher können höhere Löhne branchenweit durchgesetzt werden. Die EU-Richtlinie gibt Rückenwind für Tarifabschlüsse – diesen Rückenwind können Arbeitnehmer nutzen, indem sie sich kollektiv engagieren. Ein hoher Organisationsgrad der Arbeitnehmer erhöht den Druck auf Arbeitgeber und Politik, für angemessene Bezahlung zu sorgen.
  • Kein automatischer EU-Lohnanstieg – eigene Finanzen planen: Wer gehofft hatte, dass EU-weit einheitliche Kriterien den Lohn zügig erhöhen, muss sich nun auf den nationalen Weg fokussieren. Arbeitnehmer sollten ihre Finanzplanung (Miete, Lebenshaltungskosten etc.) daran ausrichten, was realistisch national erreicht wird. Beispielsweise ist in Deutschland bis 2027 ein Anstieg auf 14,60 € pro Stunde beschlossen – für höhere Beträge bedarf es weiterer politischer Entscheidungen. Es ist sinnvoll, sich nicht auf eventuelle EU-Vorgaben zu verlassen, sondern ggf. individuell vorzusorgen oder Weiterqualifikation anzustreben, um über Mindestlohnniveau zu verdienen.
  • Information und Beratung suchen: Bei Unsicherheit über die eigenen Rechte – etwa ob der Arbeitgeber korrekt bezahlt oder ob einem branchenspezifisch mehr zusteht – können sich Arbeitnehmer an Beratungsstellen wenden. Gewerkschaften und Arbeitsrechtsanwälte (Fachanwälte für Arbeitsrecht) informieren über Ansprüche nach Tarifvertrag oder Mindestlohngesetz. Gerade in der Übergangszeit, während die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wird (abzüglich der nichtigen Teile), lohnt es sich, über mögliche Änderungen informiert zu bleiben. So verpasst man keine Lohnanpassung oder neue Schutzvorschrift, die sich aus der Umsetzung der Richtlinie ergeben könnte.

Das EuGH-Urteil zum Mindestlohn wirkt auf den ersten Blick komplex, bringt aber Klarheit: Europa setzt den Rahmen, doch die Lohnhöhe bestimmen weiterhin die Mitgliedstaaten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer tun gut daran, sich auf nationale Prozesse zu konzentrieren – von der Mindestlohnkommission bis zur Tarifrunde. Die Entscheidung aus Luxemburg ist kein Freibrief für Lohndumping, aber auch kein sofortiger Geldsegen für Beschäftigte. Vielmehr fordert sie alle Beteiligten auf, innerhalb des nationalen Rahmens für gerechte Löhne zu sorgen – im Dialog zwischen Sozialpartnern und Politik, statt durch direkten EU-Eingriff. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollten diese Phase nutzen, um gemeinsam tragfähige Lösungen zu finden, die angemessene Entlohnung und wirtschaftliche Vernunft vereinen. So kann der Geist der EU-Mindestlohnrichtlinie – faire Löhne und Würde am Arbeitsplatz in ganz Europa – auch ohne übermäßige Brüsseler Vorgaben mit Leben gefüllt werden.