Hintergrund des Falls: Gelöschte Katzendaten im Tierheim
Ein Tierheimleiter mit fast neun Jahren Betriebszugehörigkeit sah sich einer außerordentlichen, fristlosen Kündigung ausgesetzt. Der Vorwurf des Vereins: Er habe am 15.03.2025 wichtige Dateien – eine Katzen-Bestandsliste mit Impf-/Kastrationsdaten und einen Ordner mit Vermittlungsfotos – vorsätzlich gelöscht, um eine Kollegin vor Konsequenzen zu schützen. Diese Kollegin leitete den Katzenbereich und sollte ihrerseits gekündigt werden. Durch das Löschen sah der Arbeitgeber sich in einem „Blindflug“ hinsichtlich Gesundheitsstatus und Vermittlung der rund 100 Tierheim-Katzen und sprach am 28.03.2025 die fristlose (hilfsweise ordentliche) Kündigung aus. Der Arbeitnehmer bestritt die Tat und klagte gegen die Kündigung – mit Erfolg. Das Arbeitsgericht Bocholt (Urteil vom 24.07.2025) stellte fest, dass die Kündigung das Arbeitsverhältnis nicht beendet hat. Außerdem verlangte der Kläger Überstundenvergütung und hilfsweise (für den Fall einer Beendigung) Urlaubsabgeltung, welche das Gericht jedoch abwies.
Entscheidung: Kein wichtiger Kündigungsgrund mangels Beweisen
Für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs.1 BGB braucht es einen wichtigen Grund. Im Urteil betont das Gericht, dass ein vorsätzliches Löschen wichtiger Firmendaten an sich einen solchen Grund darstellen kann, da es das notwendige Vertrauen zerstören könnte. Allerdings muss der Arbeitgeber den betreffenden Sachverhalt auch voll beweisen. Hier konnte der Verein seine Anschuldigungen nicht hinreichend belegen. Es blieb beim Verdacht, und der reicht allein nicht aus.
Beweisprobleme: Das Gericht rügte, dass der Arbeitgeber nur Indizien vortrug, aber keinen direkten Nachweis erbringen konnte. Insbesondere war unklar, wann und durch wen die Dateien gelöscht wurden. Alle Mitarbeiter-PCs im Tierheim waren mit demselben allgemeinen Passwort geschützt und es gab keine individuellen Logins oder Protokolle. Dadurch ließ sich weder der genaue Zeitpunkt der Löschung feststellen noch der Personenkreis der möglichen Täter eingrenzen. Eine regelmäßige Datensicherung oder Protokollierung existierte nicht, und es wurde auch nicht dokumentiert, wann die Dateien zuletzt genutzt worden waren. Zudem versäumte es der Arbeitgeber, den Kläger unmittelbar zur Sache zu befragen, um den Sachverhalt aufzuklären. All diese Lücken führten dazu, dass das Gericht keinen Nachweis einer Pflichtverletzung erkennen konnte – es gab schlicht keine objektiv belegbaren Tatsachen, sondern nur Mutmaßungen. Folglich lag kein “wichtiger Grund” für die fristlose Kündigung vor.
Verdachtskündigung erfordert vorherige Anhörung
Die Beklagte hatte – mangels Beweisen – letztlich auf eine Verdachtskündigung abgestellt. Bei einer Verdachtskündigung stützt sich der Arbeitgeber auf den dringenden Verdacht eines schweren Fehlverhaltens, wenn der Beweis (noch) nicht sicher zu führen ist. Doch hier gilt ein strenger Grundsatz: Ohne Anhörung des betroffenen Arbeitnehmers ist eine Verdachtskündigung unwirksam. Dieser Grundsatz beruht auf dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Der Arbeitgeber muss alle zumutbaren Schritte zur Aufklärung ergreifen – und dazu gehört zwingend, dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor eine Kündigung ausgesprochen wird. Im vorliegenden Fall hatte der Verein den Kläger vor Ausspruch der Kündigung nicht angehört, obwohl gegen ihn nur ein Verdacht (und kein erwiesener Tatbestand) vorlag. Das Gericht stellte klar, dass damit die Verdachtskündigung unwirksam ist. Selbst ein dringender Verdacht rechtfertigt keine fristlose Trennung, solange der Arbeitnehmer nicht angehört wurde und sich möglicherweise entlasten könnte. Fairness und Gehör gehen vor: Ein Arbeitgeber kann nicht einfach aufgrund eines Verdachts kündigen, ohne dem Beschuldigten die Chance zur Erklärung zu geben.
Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG)
Ein weiterer Streitpunkt war, ob der allgemeine Kündigungsschutz nach KSchG greift. Der Verein meinte, man habe “in der Regel” weniger als 10 Mitarbeiter und das KSchG sei deshalb nicht anwendbar. Das Gericht sah das anders: Zum Kündigungszeitpunkt waren 2024 und 2025 durchgängig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt, was über der Schwelle des § 23 Abs.1 KSchG liegt. Auch ein gemeinnütziger Verein kann also unter das KSchG fallen. Damit musste auch die hilfsweise ordentliche Kündigung sozial gerechtfertigt sein (§ 1 KSchG). Einen ausreichend gewichtigen verhaltensbedingten Kündigungsgrund konnte der Arbeitgeber hier jedoch ebenfalls nicht substantiiert darlegen – schließlich standen dieselben ungeklärten Vorwürfe im Raum. Die ordentliche Kündigung scheiterte folglich ebenso.
Nebenforderungen: Urlaub und Überstunden
Weil die Kündigung unwirksam war, besteht das Arbeitsverhältnis fort – ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung (hier ging es um über 120 Urlaubstage aus mehreren Jahren) entstand daher nicht. Der Kläger hatte hilfsweise rund 22.232 € für nicht genommenen Urlaub verlangt; diesen Posten musste das Gericht nicht zusprechen, da kein Beendigungsfall eintrat.
Der Anspruch auf Überstundenvergütung (7.645,92 € für 332 Stunden) wurde hingegen aktiv abgewiesen, weil der Arbeitnehmer ihn nicht ausreichend belegt hatte. Nach ständiger Rechtsprechung muss ein Arbeitnehmer, der Überstunden bezahlt haben will, genau darlegen an welchen Tagen zu welchen Uhrzeiten er mehr gearbeitet hat als vereinbart. Zudem muss er zeigen, dass die Mehrarbeit angeordnet, gebilligt oder jedenfalls notwendig war, damit die geschuldete Arbeit erledigt werden konnte. Im Prozess hatte der Kläger nur pauschale Tageslisten eingereicht, ohne die geleisteten Stunden in Bezug auf seine 40-Stunden-Woche zu setzen. Auch fehlte konkreter Vortrag dazu, dass der Arbeitgeber die Überstunden angeordnet oder zumindest geduldet hatte. Solche unspezifischen Angaben genügen nicht, entschied das Gericht – ein Lehrstück dafür, dass Arbeitnehmer ihre Ansprüche sorgfältig dokumentieren und begründen müssen, um vor Gericht Erfolg zu haben.
Lehren aus dem Urteil für die Praxis
Unsichere IT-Strukturen im Betrieb können im Streitfall zum Verhängnis werden. Arbeitgeber sollten durch individuelle Logins, Protokolle und Backups sicherstellen, dass digitale Aktionen nachvollziehbar sind.
Für Arbeitgeber: Dieses Urteil ist ein deutlicher Warnschuss. Wer Mitarbeiter allein auf Verdacht kündigt, trägt ein hohes Prozessrisiko. Arbeitgeber sollten besonders sorgfältig vorgehen, wenn sie gravierendes Fehlverhalten vermuten:
- Beweise sichern: Stellen Sie eine robuste IT-Dokumentation Allgemeine Benutzerkonten oder gemeinsame Passwörter sind fatal – sie verwässern die Verantwortlichkeit. Besser sind individuelle Logins und klare Zugriffsrechte. Implementieren Sie Logging-Systeme (Audit-Trails), die automatisch protokollieren, welcher Nutzer wann welche Datei erstellt, geändert oder gelöscht hat. So können Sie im Ernstfall eindeutig nachweisen, was passiert ist. Regelmäßige Backups mit Versionshistorie sind ebenfalls unverzichtbar, um gelöschte Daten wiederherstellen und den Löschzeitpunkt rekonstruieren zu können.
- Mitarbeiteranhörung vor Kündigung: Bei Verdachtsmomenten immer den Arbeitnehmer vorher anhören! Schildern Sie ihm die Vorwürfe konkret und geben Sie Gelegenheit zur Stellungnahme. Nur so wahren Sie das rechtliche Gehör und können seine Einlassungen berücksichtigen Unterbleibt die Anhörung, ist eine Verdachtskündigung rechtlich unwirksam – selbst wenn objektiv ein Schaden entstanden ist.
- KSchG-Schwellenwert prüfen: Vergewissern Sie sich, ob das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist (in der Regel > 10 Mitarbeiter). Ist dies der Fall, benötigen Sie für jede ordentliche Kündigung einen tragfähigen Kündigungsgrund. Versuchen Sie nicht, durch rechnerische Tricks (befristete Überschneidungen o.ä.) den Schwellenwert zu umgehen – Gerichte schauen auf die tatsächliche regelmäßige Betriebsgröße.
- Dokumentationspflichten erfüllen: Führen Sie ein sauberes HR-Protokoll. Halten Sie fest, wann Ihnen ein mögliches Fehlverhalten bekannt wurde, welche Schritte Sie zur Aufklärung unternommen haben (z.B. IT-Analyse, Mitarbeitergespräch) und welche Ergebnisse vorliegen. Eine gut dokumentierte Personalakte und Ermittlungsakte kann vor Gericht entscheidend sein, um Ihre Kündigungsentscheidung zu untermauern.
- Im Zweifel Abmahnung statt fristloser Kündigung: Ist eine Verfehlung nicht lückenlos nachweisbar oder handelt es sich nicht um einen extrem gravierenden Vertrauensbruch, sollte zunächst über mildere Mittel nachgedacht werden. Eine Abmahnung kann ggf. ausreichend sein, um den Arbeitnehmer zu warnen. Die fristlose Kündigung ist das äußerste Mittel (“Ultima Ratio”) und muss gut begründet sein.
Für Arbeitnehmer: Das Urteil zeigt auch, dass Arbeitnehmerrechte in solchen Situationen stark geschützt sind. Verdachtskündigungen werden von Gerichten kritisch geprüft. Als Arbeitnehmer sollten Sie Ihre Rechte kennen und wahrnehmen:
- Recht auf Gehör einfordern: Wenn man Ihnen ein Fehlverhalten vorwirft, haben Sie das Recht, angehört zu werden. Nutzen Sie diese Möglichkeit, um Ihre Sicht darzulegen und eventuelle Missverständnisse auszuräumen. Bleibt Ihnen der Arbeitgeber eine Anhörung schuldig und kündigt vorschnell, stehen die Chancen gut, dass eine Kündigungsschutzklage erfolgreich ist.
- Kündigungsschutzklage fristgerecht erheben: Halten Sie unbedingt die 3-Wochen-Frist ab Zugang der Kündigung ein (§ 4 KSchG). Auch im vorliegenden Fall wurde nur dank rechtzeitiger Klage die Unwirksamkeit festgestellt. Versäumen Sie die Frist, gilt die Kündigung selbst dann als wirksam, wenn sie eigentlich rechtswidrig war.
- Beweise und Entlastungsmomente sichern: Dokumentieren Sie Vorfälle, die Ihnen vorgeworfen werden könnten. Im obigen Fall stritt der Kläger z.B. ab, dass die gelöschte Datei überhaupt kritisch für den Betrieb war – die Daten lagen angeblich auch an anderer Stelle vor. Solche entlastenden Umstände (etwa alternative Datenquellen, Alibis, Zeugen) sollten Sie frühzeitig benennen. Bieten Sie ggf. aktiv Ihre Mithilfe bei der Aufklärung an. Dass der Kläger hier von sich aus anbot, bei der Wiederherstellung zu helfen, unterstrich seine Kooperationsbereitschaft (auch wenn der Arbeitgeber das erst spät zur Kenntnis nahm).
- Ansprüche sauber nachweisen: Wollen Sie Überstundenvergütung oder Urlaubsabgeltung geltend machen, lernen Sie aus diesem Fall: Führen Sie möglichst genaue Aufzeichnungen über Ihre Arbeitszeit. Notieren Sie Datum, Beginn, Ende und Grund jeder Überstunde. Lassen Sie Überstunden möglichst vom Vorgesetzten abzeichnen oder genehmigen. Nur so können Sie im Streitfall schlüssig darlegen, dass Überstunden geleistet und vom Arbeitgeber veranlasst bzw. geduldet Pauschale Behauptungen (“ich habe oft mehr gearbeitet”) genügen nicht. Bei Urlaubsansprüchen sollte man rechtzeitig den Urlaub beantragen oder bei Beendigung dessen Abgeltung schriftlich anfordern, um keine Ansprüche zu verschenken.
Dieses Urteil des ArbG Bocholt verdeutlicht exemplarisch, wie wichtig fairer Prozess und solide Beweisführung im Arbeitsrecht sind. Eine fristlose Kündigung ist nur dann haltbar, wenn Tatsachen zweifelsfrei belegen, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. Verdachtsmomente allein reichen nicht – und schon gar nicht, wenn der Arbeitgeber selbst durch schwache IT-Kontrollen und unterlassene Anhörung zur Unsicherheit beiträgt. Arbeitgeber tun gut daran, bei Regelverstößen systematisch vorzugehen und die eigenen Verfahren (insbesondere IT-Sicherheit und Personalpolitik) zu optimieren. Arbeitnehmer wiederum sollten wissen, dass das Kündigungsschutzrecht ihnen wirksame Instrumente bietet, um vorschnelle oder unbegründete Kündigungen abzuwehren. Letztlich profitieren beide Seiten von klaren Regeln: Transparenz, Dokumentation und das Einhalten von Anhörungsrechten sorgen dafür, dass Vertrauen im Arbeitsverhältnis nicht vorschnell zerstört wird – und dass im Konfliktfall eine gerechte Lösung gefunden wird.