Das Kammergericht Berlin hat in einem aktuellen Beschluss vom 25.08.2025 (Az. 3 ORbs 164/25, 122 SsRs 33/25) scharf Kritik an einer Verteidigung geübt, die auf automatisierten Textbausteinen beruhte und am eigentlichen Tatvorwurf vorbeiging. In dem Bußgeldverfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit wurden Schriftsätze eingereicht, die offensichtlich für einen ganz anderen Sachverhalt – nämlich Geschwindigkeitsverstöße – vorgesehen waren, während dem Betroffenen tatsächlich ein Verstoß nach § 23 Abs. 1a StVO (Nutzung elektronischer Geräte am Steuer) vorgeworfen wurde. Die Folge: Ein Großteil der Rechtsbeschwerde ergab „keinen Sinn“, so das Gericht, da die Verteidigung im gesamten Verfahren gedankenlos Textbausteine verwendete, die keinerlei Bezug zum eigentlichen Vorwurf hatten. Dieses Versäumnis wurde weder im Vorverfahren, noch in der Hauptverhandlung und nicht einmal im Rechtsmittelverfahren erkannt.
Kritik des Gerichts an der „dysfunktionalen“ Verteidigung
Der 3. Senat für Bußgeldsachen des KG Berlin spricht in seiner Entscheidung von einer „dysfunktionalen und gedankenlosen ‘Verteidigung’“, welche die Verwaltungsbehörde und zwei Instanzen der Justiz beschäftigt hat. Solch eine Verteidigungsstrategie sei aus verschiedenen Gesichtspunkten bedenklich. Insbesondere enthielten die Rechtsmittel-Schriftsätze laut Gericht zahlreiche unwahre Behauptungen zum Verfahrensgeschehen, was mit den beruflichen Pflichten eines Anwalts unvereinbar ist. Das Gericht verweist ausdrücklich auf § 43a Abs. 3 Satz 2 BRAO, der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten untersagt, sich im Beruf unsachlich zu verhalten.
Bemerkenswert ist, dass das Kammergericht bereits in einem früheren Fall desselben Verteidigers (Az. 3 ORbs 186/24) feststellen musste, dass der Anwalt offenkundig nicht realisiert hatte, was überhaupt Gegenstand des Vorwurfs war. Dort verteidigte er fälschlicherweise gegen einen angenommenen Geschwindigkeits- oder Rotlichtverstoß, obwohl tatsächlich ein Parkverstoß vorlag. In einem weiteren Verfahren (Az. 3 ORbs 46/25) setzte derselbe Anwalt laut Gericht erneut auf KI-generierte Schriftsätze mit identischen Textbausteinen und bemerkte die inhaltlichen Fehler wiederum nicht. Wurde dem Verteidiger in jenem Verfahren noch zugutegehalten, dass dieses Vorgehen „eher als gedankenlos denn als bewusst täuschend“ erscheinen mochte, so ließ das Kammergericht nun durchblicken, dass an dieser milderen Einschätzung nicht mehr festzuhalten sei.
Keine Nachsicht selbst bei zufällig berechtigter Rüge
Das Kammergericht hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde letztlich als unbegründet verworfen. Dabei verwarf es die Rechtsbeschwerde nicht zur Wahrung der Rechtseinheit (§ 80 Abs. 2 OWiG), da keine grundsätzliche Rechtsfrage oder Divergenz vorlag. Pikant: Der Senat fügte im Obiter Dictum einen Warnschuss hinzu. Einer in solcher „sinnloser Weise automatisierten Prozessführung“ könnte der Erfolg selbst dann versagt bleiben, wenn darin einmal – gleichsam als Zufallstreffer – ein an sich beachtlicher Rechtsfehler aufgezeigt würde. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Verteidigung zufällig einen gültigen Verfahrensverstoß rügt, würde das Gericht aufgrund der ansonsten völlig unsinnigen und unqualifizierten Eingaben den Erfolg der Rechtsbeschwerde in Betracht nicht gewähren. Dieser drastische Hinweis ist zwar rechtlich nicht tragend (also nicht entscheidungserheblich für den konkreten Fall), zeigt jedoch die deutliche Verärgerung des Gerichts über derart missbräuchliche Verteidigungsstrategien.
Der Betroffene im vorliegenden Verfahren trägt nun die Kosten seiner als zurückgenommen geltenden Rechtsbeschwerde (§§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies bedeutet praktisch, dass der ineffektive Verteidigungsansatz nicht nur inhaltlich scheiterte, sondern für den Mandanten auch finanzielle Nachteile mit sich bringt.
Berufsrechtliche und strategische Risiken für Anwälte
Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte enthält diese Entscheidung mehrere wichtige Lehren. Zum einen bewegt sich ein Verteidiger mit einer derart unsachlichen und in weiten Teilen falschen Argumentation gefährlich nahe an berufswidrigem Verhalten. Die bewusste oder grob fahrlässige Verwendung von erfundenen Tatsachenbehauptungen in Schriftsätzen kann einen Verstoß gegen die anwaltlichen Pflichten (§ 43a Abs. 3 BRAO) darstellen und berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Zum anderen stellt sich die Frage nach einer möglichen Strafbarkeit: In Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren könnte ein Anwalt bei bewusst unsachlicher und irreleitender Verteidigung sogar den Tatbestand der Strafvereitelung (§ 258 StGB) erfüllen. Verschiedene Rechtswissenschaftler weisen darauf hin, dass spätestens, wenn ein Verteidiger über zwei Instanzen trotz gerichtlicher Hinweise an fehlerhaften Ausführungen festhält, keine bloße Nachlässigkeit mehr angenommen werden kann. Im Zivilprozess mag ein inhaltlich verfehlter Schriftsatz vor allem prozessuale Nachteile bringen, aber im Straf- und Bußgeldverfahren bewegt man sich schnell im Bereich des vorsätzlichen Vereitelns der Rechtspflege, was auch strafrechtlich brisant ist.
Darüber hinaus drohen zivilrechtliche Haftungsansprüche seitens der Mandantschaft. Verliert derdie Mandantin ein Verfahren oder erleidet Nachteile, weil die Verteidigung dysfunktional geführt wurde, kann dies einen Schadenersatzanspruch wegen Anwaltspflichtverletzung begründen. Im entschiedenen Fall musste der Betroffene etwa die Verfahrenskosten tragen, obwohl ein sorgfältig begründetes Rechtsmittel ihn unter Umständen vor dieser Belastung hätte bewahren können.
Zusammengefasst ergeben sich für Anwälte bei einem solchen Vorgehen folgende Gefahren:
- Berufsrechtliche Sanktionen: Unsachliche und wahrheitswidrige Schriftsätze verletzen die Anwaltspflichten und können berufsrechtliche Schritte (bis hin zu Gebührennachteilen oder Disziplinarmaßnahmen) nach sich ziehen.
- Strafrechtliche Risiken: Eine bewusst falsche oder völlig unsachliche Verteidigungsstrategie in Straf- und Owi-Verfahren kann den Tatbestand der Strafvereitelung erfüllen und somit für die Verteidiger selbst strafbar sein.
- Verfahrensrechtliche Nachteile: Die Erfolgsaussichten von Rechtsmitteln sinken drastisch. Gerichte könnten geneigt sein, selbst berechtigte Rügen in einem Wust von unsinnigem Vorbringen zu übergehen oder strenger zu prüfen – im Extremfall wird die Rechtsbeschwerde gar nicht erst zur Entscheidung zugelassen.
- Haftung gegenüber Mandanten: Mandanten können Schadenersatz fordern, wenn nachweisbar ist, dass eine aussichtsreiche Verteidigung durch schlampige oder automatisierte Schriftsätze vereitelt wurde. Die Mandanteninteressen werden durch eine solche Verteidigung erheblich gefährdet.
Praxistipp: Sorgfalt statt automatisierter Schriftsätze
Diese Entscheidung ist ein deutlicher Weckruf: Anwältinnen und Anwälte sollten größte Sorgfalt walten lassen, wenn sie Textbausteine oder gar KI-Tools zur Erstellung von Schriftsätzen verwenden. Automatisierte Inhalte müssen stets kritisch geprüft und an den konkreten Fall angepasst werden, um sicherzustellen, dass sie sachgerecht und wahrheitsgemäß sind. Es genügt nicht, auf bewährte Muster zu vertrauen, ohne deren Passgenauigkeit zum aktuellen Sachverhalt zu überprüfen.
Gerade vor dem Hintergrund immer leistungsfähigerer KI-Schreibassistenten zeigt der Fall, dass die Verantwortung für den Schriftsatzinhalt allein beim Anwalt bleibt. „Copy-Paste“-Verteidigungen ohne Fallbezug können Mandanten erhebliche Nachteile bringen und dem Anwalt selbst beträchtlichen Ärger einhandeln. Es empfiehlt sich daher, folgende Grundsätze zu beherzigen:
- Individuelle Fallprüfung: Vor jedem Schriftsatz sollte der Verteidiger den genauen Tatvorwurf und die Verfahrenssituation klären. Standardformulierungen sind anzupassen oder wegzulassen, wenn sie im konkreten Kontext nicht passen.
- Inhaltliche Richtigkeit: Alle tatsächlichen Behauptungen im Schriftsatz müssen wahr und belegbar sein. Fantasiebehauptungen oder durch KI halluzinierte Fakten sind strikt zu vermeiden.
- Qualitätskontrolle: Schriftsätze – besonders wenn mit Textbausteinen oder KI entworfen – sollten vor Einreichung sorgfältig lektoriert und auf Verständlichkeit sowie Relevanz geprüft werden. Im Zweifel: weniger Textbaustein-Floskeln, mehr eigene Argumentation.
- Auf Hinweise reagieren: Wenn Gerichte oder Behörden auf Unstimmigkeiten hinweisen (sei es mündlich oder durch Beschluss), muss der Verteidiger unverzüglich reagieren und seinen Kurs korrigieren, statt stur an Fehlern festzuhalten.
Die Entscheidung des KG Berlin verdeutlicht, dass eine Verteidigung, die faktisch und rechtlich am Thema vorbeigeht, nicht nur aussichtslos ist, sondern für Anwälte berufsrechtlich und für Mandanten finanziell höchst riskant sein kann. Eine moderne Rechtsvertretung darf zwar zeitgemäße Hilfsmittel wie KI einsetzen, doch nie ohne eigene juristische Wertung und Kontrolle. Letztlich bleibt anwaltliche Maßarbeit statt Massenware der Schlüssel zu einer erfolgreichen und verantwortungsvollen Verteidigung.