Eine Assistentin der Geschäftsführung war seit November 2019 bei einem Unternehmen beschäftigt und verdiente zuletzt ca. 7.744 € brutto im Monat. Im Februar 2024 eskalierte ein WhatsApp-Chat zwischen ihr und dem Geschäftsführer. Dieser schickte der Mitarbeiterin eine Reihe sexistisch gefärbter, beleidigender und bedrohlicher Nachrichten. Unter anderem verlangte er von ihr aufreizende Kleidung bei einem Meeting („rockmäßig was Kurzes und Dekolleté“) und machte Anspielungen wie „nichts unter dem Rock anziehen“. Als sie nicht wie gewünscht reagierte, überschritt der Geschäftsführer alle Grenzen: Er beleidigte sie mit Ausdrücken wie „dumme Frau“, „hässliche Fresse“ und drohte arbeitsrechtliche Konsequenzen an. So kündigte er an, ihr Gehalt zu kürzen, sie in Zwangsurlaub zu schicken und ihren Dienstwagen nebst Tankkarte zurückzufordern – alles aus persönlicher Kränkung, weil sie seine Annäherungsversuche zurückwies.
In diesem toxischen Klima kündigte das Unternehmen am 26.02.2024 der Mitarbeiterin fristgemäß zum 31.03.2024. Die Mitarbeiterin erhob Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Bonn. Dabei beantragte sie zunächst vorsorglich die Weiterbeschäftigung für den Fall, dass sie mit der Kündigungsschutzklage obsiegt (ein übliches Vorgehen, um bei erfolgreicher Klage die Beschäftigung zu sichern). Zudem verlangte sie ein qualifiziertes Zeugnis. Wenig später zog die Arbeitgeberseite die Kündigung anerkennend zurück, d.h. sie akzeptierte, dass die Kündigung sozial ungerechtfertigt war. Das Arbeitsverhältnis galt damit als nicht durch die Kündigung beendet. Die Arbeitnehmerin erschien jedoch krankheitsbedingt nicht mehr zur Arbeit. Im Kammertermin vor dem ArbG Bonn am 14.11.2024 nahm sie ihren Weiterbeschäftigungsantrag zurück und stellte einen Auflösungsantrag: Sie wollte gegen Abfindung aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, weil ihr die Fortsetzung unzumutbar sei.
Das Arbeitsgericht Bonn gab ihr Recht. Mit Urteil vom 14.11.2024 (Az. 1 Ca 456/24) löste es das Arbeitsverhältnis zum 31.03.2024 auf und sprach ihr eine Abfindung von 70.000 € zu. Außerdem musste der Arbeitgeber ein qualifiziertes Endzeugnis erteilen. Der Arbeitgeber ging hiergegen in Berufung zum Landesarbeitsgericht (LAG) Köln.
Gerichtliche Entscheidung
Das LAG Köln (Urteil vom 09.07.2025, Az. 4 SLa 97/25) bestätigte weitgehend die erstinstanzliche Entscheidung. Die Berufung der Arbeitgeberin hatte nur insoweit Erfolg, als die Abfindungssumme geringfügig auf 68.153,80 € korrigiert wurde. Wesentliche Streitpunkte in der zweiten Instanz waren die Frage, ob der zuvor gestellte Weiterbeschäftigungsantrag der Mitarbeiterin ihrem Auflösungsverlangen entgegensteht (Stichwort: widersprüchliches Prozessverhalten), und ob die hohe Abfindungssumme angemessen bzw. rechtmäßig ist.
Im Ergebnis stellte das LAG klar, dass der Mitarbeiterin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar war. Die anhaltenden sexistischen, demütigenden und willkürlichen Äußerungen des Geschäftsführers überschritten deutlich das tolerierbare Maß. Zudem hatte der Geschäftsführer – aus persönlichem Unmut über die zurückgewiesenen Avancen – arbeitsrechtliche Sanktionen angedroht und teilweise sofort vollzogen (Freistellung, angedrohte Gehaltskürzung, Rückforderungen von Vorteilen). Damit wurde privater Machtmissbrauch in den Arbeitsbereich getragen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit war zerstört.
Auflösungsantrag trotz ursprünglichem Weiterbeschäftigungsverlangen
Der Arbeitgeber argumentierte in der Berufung, die Mitarbeiterin habe sich durch ihren anfangs gestellten Weiterbeschäftigungsantrag selbst widersprüchlich verhalten. Sie habe damit „dokumentiert“, dass ihr die Fortführung des Arbeitsverhältnisses doch zumutbar sei. Dieser Einwand zielte darauf ab, den Auflösungsantrag (und damit die Abfindung) abzuwehren.
Das LAG Köln wies dieses Argument ausdrücklich zurück. Ein solches prozessuales Verhalten sei nicht als Widerspruch im Sinne von Treu und Glauben zu werten. In Kündigungsschutzprozessen ist es gängige Praxis, vorsorglich einen Weiterbeschäftigungsantrag zu stellen, ohne damit materiell-rechtlich anzuerkennen, dass keine Zerrüttung vorliegt. Entscheidend ist, ob dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bei Schluss der mündlichen Verhandlung noch zumutbar ist. Hier hatte die Klägerin den Weiterbeschäftigungswunsch im Laufe des Verfahrens aufgegeben. Zudem wurde der Weiterbeschäftigungsantrag lediglich hilfsweise und unter Vorbehalt gestellt und schließlich vor Urteil zurückgenommen.
Das Gericht betonte, dass kein treuwidriges oder rechtsmissbräuchliches Verhalten vorlag. Selbst wenn ein Arbeitnehmer im Prozess zunächst Weiterbeschäftigung verlangt, kann er bei Vorliegen besonderer Umstände später einen Auflösungsantrag stellen, ohne sich damit zu widersprechen. Im hiesigen Fall war die Arbeitnehmerin schon im Gütetermin nicht mehr ernsthaft an einer Rückkehr interessiert – vielmehr hatte sie in Vergleichsverhandlungen deutlich gemacht, dass sie keinen Kontakt mehr zum Geschäftsführer wünsche. Entscheidend hob das LAG auch hervor, dass der Arbeitgeber selbst den Weiterbeschäftigungsantrag anfänglich nicht als ernsthafte Erklärung aufgefasst hatte. In einem Schriftsatz bezeichnete die Beklagte diesen Antrag als „bloße Absichtserklärung“, die prozessual noch gar nicht rechtshängig sei. Nachdem der Arbeitgeber den Kündigungsschutzanspruch anerkannt hatte, durfte die Klägerin sich also umentscheiden, ohne dass die Gegenseite daraus einen Vorteil ziehen kann. Die vorherige Weiterbeschäftigungsbitte stand der gerichtlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht entgegen.
Ungewöhnlich hohe Abfindung – Begründung und Kritik
Das zweite zentrale Thema ist die Höhe der Abfindung von rund 68.000 €, welche für nur 4,5 Jahre Betriebszugehörigkeit außergewöhnlich hoch erscheint. Übliche Abfindungen bei Auflösungsurteilen orientieren sich oft an der sogenannten Regelabfindung von 0,5 Monatsgehältern pro Beschäftigungsjahr. Hier entsprach die Summe jedoch etwa 9 Monatsgehältern, also 2 Monatsgehältern pro Jahr.
Das LAG Köln hielt diese Summe im konkreten Fall für angemessen und begründete dies ausführlich mit den besonderen Umständen:
- Evidente Sozialwidrigkeit der Kündigung: Die Kündigung war offensichtlich unbegründet und erfolgte aus rein persönlicher Willkür. Sie diente offenbar als Vergeltung für das abgelehnte private Ansinnen des Geschäftsführers. Eine derart maßregelnde Kündigung stellt einen groben Verstoß gegen das Kündigungsschutzgesetz dar. In solchen Fällen hat die Abfindung auch eine sanktions- und Abschreckungsfunktion gegenüber dem Arbeitgeber.
- Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Arbeitnehmerin: Durch die sexistischen, entwürdigenden und beleidigenden Nachrichten des Geschäftsführers wurde die Klägerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht schwer verletzt. Das ArbG Bonn und das LAG Köln betonten, dass der Abfindung deshalb eine „Genugtuungsfunktion ähnlich dem Schmerzensgeld“ zukommt. Mit anderen Worten: Die Zahlung soll nicht nur den wirtschaftlichen Verlust des Arbeitsplatzes ausgleichen, sondern auch eine Wiedergutmachung für immaterielle Schäden darstellen, vergleichbar einem Schmerzensgeld. Solche immateriellen Nachteile waren hier offenkundig: Die Mitarbeiterin entwickelte eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die seit Mai 2024 andauert und sogar stationär behandelt werden musste.
- Machtmissbrauch und Vorsatz: Besonders kritisch fiel ins Gewicht, dass der Geschäftsführer seine hierarchische Machtstellung bewusst missbrauchte, um private Enttäuschung in dienstliche Sanktionen umzumünzen. Er handelte vorsätzlich und hielt auch nach einer kurzen „Entschuldigung“ nicht inne, sondern setzte sein Fehlverhalten fort (erneute Belästigung durch Nachrichten, unberechtigte Rückforderungen von Geschenken und Vergünstigungen etc.). Dieses vorsätzliche Auflösungsverschulden begründete nach Auffassung des Gerichts eine deutliche Erhöhung der Abfindung.
All diese Faktoren führten das Gericht zu der Einschätzung, dass eine Abfindung von gut neun Monatsgehältern hier „in besonderem Maße spürbar“ sein müsse, um ihrer Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion gerecht zu werden. Übliche „marktübliche Sätze“ – die primär auf Dauer der Betriebszugehörigkeit und Alter abstellen – erachtete das Gericht in diesem Streitfall als völlig irrelevant. Mit anderen Worten: Die Schwere des Fehlverhaltens des Arbeitgebers überlagerte klassische Bemessungskriterien wie Betriebszugehörigkeit. Die gesetzliche Höchstgrenze nach § 10 KSchG (hier 12 Monatsverdienste, da die Klägerin unter 50 Jahre alt und weniger als 15 Jahre beschäftigt war) wurde mit 9 Monatsverdiensten gewahrt, lag aber im oberen Bereich des Ermessens.
Kritisch anzumerken ist, dass diese Sichtweise die Abfindung stark in Richtung einer „Quasi-Schmerzensgeld“-Leistung verschiebt. Normalerweise dient eine Abfindung in erster Linie dem Ausgleich des Jobverlustes. Immaterielle Schäden müssten an sich über separate Ansprüche (z.B. nach AGG oder § 823 BGB) geltend gemacht werden. Die Arbeitgeberin hatte im Verfahren auch eingewandt, dass die Klägerin etwaige Schmerzensgeldansprüche (z.B. wegen sexueller Belästigung nach § 15 Abs.2 AGG) versäumt habe und man diese nicht durch die Hintertür einer Abfindung kompensieren dürfe. Das LAG Köln folgte dieser Argumentation jedoch nicht. Es hielt die hohe Abfindung im Rahmen von § 10 KSchG für gerechtfertigt, auch um der Arbeitnehmerin Genugtuung zu verschaffen. In der arbeitsrechtlichen Literatur und Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auflösungen das Maß des Arbeitgeberverschuldens und die persönlichen Auswirkungen auf den Arbeitnehmer berücksichtigt werden dürfen. Der vorliegende Fall bewegt sich hier an der Grenze dessen, was über eine KSchG-Abfindung abgedeckt werden kann. Aus Arbeitgebersicht bedeutet dies: Eklatantes Fehlverhalten kann die finanziellen Folgen dramatisch steigern.
Kritische Würdigung aus Arbeitgebersicht
Dieses Urteil ist insbesondere für Arbeitgeber ein Warnsignal. Es zeigt, dass grob unangemessenes Verhalten von Vorgesetzten gegenüber Mitarbeitern nicht nur arbeitsrechtliche Sanktionen (wie etwa eine unwirksame Kündigung) nach sich ziehen kann, sondern auch beträchtliche finanzielle Konsequenzen. Im Einzelnen lassen sich folgende Lehren ziehen:
- Weiterbeschäftigung vs. Auflösung – kein taktisches Hintertürchen: Arbeitgeber können nicht darauf vertrauen, dass ein zunächst vom Arbeitnehmer begehrter Weiterbeschäftigungsanspruch sie vor einer späteren Auflösung schützt. Das LAG Köln hat klar gemacht, dass die Sachlage und Zumutbarkeit im Zeitpunkt der Entscheidung zählt. Eine zunächst geäußerte Bereitschaft des Mitarbeiters zur Weiterarbeit (sei es aus wirtschaftlicher Not oder prozessualen Gründen) verliert angesichts erwiesener schwerer Pflichtverletzungen des Arbeitgebers an Gewicht. Versucht der Arbeitgeber, diesen anfänglichen Antrag im Nachhinein gegen den Arbeitnehmer zu verwenden, wirkt das sogar widersprüchlich, insbesondere wenn er selbst den Antrag zunächst als gegenstandslos abtat. Praxistipp: Im Kündigungsschutzprozess sollte der Fokus der Arbeitgeberseite darauf liegen, substantiiert die Kündigungsgründe darzulegen und etwaiges eigenes Fehlverhalten zu bereinigen, statt rein formal auf Widersprüchlichkeiten in den Anträgen des Gegners zu pochen.
- Risiko hoher Abfindungszahlungen: Das Urteil verdeutlicht, dass in Auflösungsfällen die Abfindung erheblich höher ausfallen kann als in einem normalen Vergleich oder Kündigungsschutzprozess ohne derartiges Fehlverhalten. Für den Arbeitgeber ist dies finanziell schmerzhaft – im vorliegenden Fall fast ein Jahresgehalt. Wichtig zu erkennen: Das Gericht wollte hier ein Exempel statuieren, dass Machtmissbrauch teuer wird. Zwar ist nicht jeder verlorene Kündigungsschutzprozess so teuer; wenn aber erschwerende Umstände hinzutreten (Diskriminierung, Ehrverletzung, gesundheitliche Folgeschäden), können Gerichte die Abfindungsschraube kräftig anziehen. Arbeitgeber sollten daher bei Streitfällen mit solchem Hintergrund eher frühzeitig auf eine gütliche Einigung hinwirken. Eine vernünftige Abfindung im Vergleich (ggf. inklusive Entschuldigung und Zeugniszugeständnissen) könnte am Ende günstiger sein als ein langwieriger Prozess, der das Unternehmen auch reputativ belastet und mit hoher Wahrscheinlichkeit zugunsten des Arbeitnehmers endet.
Hinweis für die Praxis
Für Arbeitgeber enthält dieses Urteil mehrere klare Botschaften. Erstens: Die Fürsorgepflicht und der Respekt gegenüber Mitarbeitern sind nicht verhandelbar. Wer als Vorgesetzter Mitarbeiter schikaniert oder sexuell belästigt, riskiert nicht nur persönliche Konsequenzen, sondern setzt auch das Unternehmen erheblichen rechtlichen Risiken aus. Zweitens: In einem Kündigungsschutzprozess zählt die substantielle Gerechtigkeit mehr als prozessuale Tricks. Widersprüchliche Anträge des Gegners zu nutzen, funktioniert nicht, wenn die Faktenlage eindeutig zu Lasten des Arbeitgebers geht. Drittens: Die Gerichte schrecken nicht davor zurück, im Rahmen des § 10 KSchG hohe Abfindungen festzusetzen, um besondere Unbilligkeit auszugleichen und Arbeitgeber zu sensibilisieren.
Arbeitgeber sollten aus diesem Fall lernen, dass präventives Handeln besser ist als kuratives: Schaffen Sie eine Kultur, in der respektvoller Umgang selbstverständlich ist und in der Mitarbeiter sich bei Problemen sicher an HR oder Compliance-Stellen wenden können, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Sollte es doch zu Konflikten kommen, ist eine frühzeitige rechtliche Beratung ratsam, um die Strategie abzuwägen – etwa ob man einen jämmerlichen Kündigungsgrund wirklich durchfechten will oder lieber in den sauren Apfel einer vergleichsweisen Trennung beißt. Im Zweifel ist eine professionell verhandelte Lösung oft günstiger (und vor allem diskreter) als ein öffentlich ausgetragener Prozess mit anschließendem Präzedenzurteil.
Das LAG Köln hat mit seiner Entscheidung ein deutliches Zeichen gesetzt: Wer seine Macht als Arbeitgeber missbraucht, dem kann ein „blauer Brief“ der Justiz teuer zu stehen kommen. Für Arbeitgeber heißt es daher, solche Eskalationen gar nicht erst entstehen zu lassen – durch Integrität, Respekt und gegebenenfalls rechtzeitige Trennung von Fehlträgern in den eigenen Reihen.